Vorschau: Vor Benfica ist auch vor Freiburg

Justin Trenner 02.11.2021

Lange lief für die Bayern alles wie gemalt. Julian Nagelsmann schien manchmal selbst überrascht darüber zu sein, wie schnell die Spieler seine Ideen umsetzen zu können. Doch dann kamen in der vergangenen Woche das 0:5 gegen Gladbach und ein in Phasen wackeliger Sieg gegen Union Berlin, der vom Ergebnis her deutlicher aussieht, als er letztendlich war.

Vor allem die Defensive erregte dabei die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Sieben Gegentore in zwei Partien – schon in der letzten Saison kassierten die Münchner allein in der Bundesliga 44 Treffer. Das wird dem Rekordmeister nicht gerecht, der in der letzten Dekade immer viele Tore schoss, aber es zugleich auch schaffte, defensiv stabil zu bleiben.

Wer so hoch steht und so eine mutige Strafraumbesetzung hat wie die Bayern, so der Umkehrschluss einiger Beobachter:innen, der müsse eben hinten auch das eine oder andere Gegentor mehr in Kauf nehmen. Gerade unter Hansi Flick war es offensichtlich, dass die mitunter schwache Defensivleistung ein direktes Resultat der extrem offensiven Spielweise war.

Aber unter Nagelsmann ist das Problem der letzten beiden Spiele ein anderes – vielleicht ist es sogar eine Ausnahmeerscheinung. Eigentlich war es beeindruckend zu sehen, wie die Bayern bis zu diesem 0:5 in Gladbach agiert haben. 60 Tore in 14 Pflichtspielen – und dabei nur neun Gegentore. Also ein Durchschnittsergebnis von 4,28 zu 0,64. Durch die letzten beiden Spiele hat es sich auf 4,06 zu 1 verändert.

Die Gretchenfrage: Wie hältst du’s mit der Defensive?

Beim Skispringen werden die beste und die schlechteste Note für einen Sprung gestrichen, um extreme Ausreißer weniger bedeutend zu machen. Im Fußball ergibt das natürlich weniger Sinn. Folgt man aber der Annahme, dass das 12:0 gegen den Bremer SV sowie das 0:5 gegen Gladbach jeweils starke Ausreißer waren, die sich so sehr wahrscheinlich nicht wiederholen, ist ein solcher Blick für die Analyse womöglich sinnvoll. Das Durchschnittsergebnis des FC Bayern wäre dann ein 3,79 zu 0,79.

Wie man es auch dreht und wendet: Die Defensive hat sich unter Julian Nagelsmann stabilisiert, wenn man nur auf die Gegentore schaut – und das, ohne offensiv weniger spektakulär zu sein. Und auch weitere Statistiken bestätigen diesen Eindruck:

Zur Einordnung haben wir noch die Daten aus der Rekordsaison von 2012/13 ergänzt, um zu zeigen, dass es defensiv weiterhin Luft nach oben gibt. Eine Entwicklung lässt sich, insofern man zehn Partien schon als angemessene erste Stichprobe erachtet, dennoch erkennen. Zumal die Bayern in der Champions League nach drei Spieltagen wiederum noch kein einziges Gegentor bekommen haben.

Alles eine Frage der Einstellung?

Vor der Partie gegen Benfica sagte Nagelsmann hinsichtlich des Defensivverhaltens seiner Mannschaft: „Es geht um die letzten Schritte, um die Aktivität, darum, Zweikämpfe führen zu wollen. Das haben wir in vielen Phasen der Saison besser hingekriegt.“ Besser als gegen Gladbach und besser als zuletzt bei Union Berlin, wo sich der Gegner zu häufig „ohne Druck in unsere Hälfte spielen“ und flanken konnte.

Ein besonders gutes Beispiel dafür, wie es nicht geht, sind nahezu alle fünf Treffer der Gladbacher in der vergangenen Woche. Besonders aber der zweite:

https://twitter.com/DFBPokal_EN/status/1453779173760282630?s=20

Dass das Pressing vorne mal nicht greift, ist eine Sache, die sich verkraften ließe, wenn das Team die Lücken nach hinten bereit wäre schnell wieder zu schließen. Stattdessen aber ist die Rückwärtsbewegung hier mehr als mangelhaft. Leon Goretzka und auch die Angreifer traben nur zurück, während Dayot Upamecano sich dazu gezwungen sieht, herauszurücken und den Raum hinter sich zu öffnen. Ein Totalausfall der gesamten Defensive.

Wie es anders gehen kann, zeigt diese Szene:

https://twitter.com/GuardiolaTweets/status/1453770359237484545?s=20

Es ist vermutlich diese Bereitschaft, die Nagelsmann von seiner Mannschaft in der Defensivarbeit abverlangt und die auch das Standing von Leroy Sané bei vielen Fans zuletzt deutlich verbessert hat. Dem Angreifer fehlt nach wie vor die Konstanz im Spiel nach vorn, aber weil er nach Ballverlusten eben nicht mehr stehen bleibt, sondern alles versucht, um den Ball zurückzugewinnen, bekommt er nun regelmäßig Applaus.

Die Bayern fielen zuletzt in alte Muster zurück

Ist es also nur eine Frage der Einstellung? Zumindest zum Teil. Denn Nagelsmann machte nach der historischen Niederlage auch deutlich, dass die Spieler den Fehler bei ihm suchen sollen. Einige der taktischen Ursachen hatten wir in diesem Video analysiert:

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Immer wieder war zuletzt die Rede von der Struktur. Nach Siegen hieß es oft, dass die Spieler ihre Struktur gut gehalten haben, während nach schwierigeren Spielen durchklang, dass man zu häufig von der gewünschten Struktur abwich. Was es damit auf sich hat, analysierten wir hier:

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Sowohl gegen Gladbach als auch gegen Union fiel auf, wie allein Joshua Kimmich im Mittelfeld mitunter war. Unter der Woche im Pokal waren es Alphonso Davies und Benjamin Pavard, die als Außenverteidiger das Spiel zu breit machten sowie Leon Goretzka und Thomas Müller, die als Achter zu hoch agierten. Dadurch wurden die Abstände zu groß und bei Ballverlusten konnte Gladbach sofort mit Platz kontern. Schon bei der 1:2-Niederlage gegen Frankfurt gab es in einigen Momenten solche Probleme:

Die markierten Räume zeigen an, welcher Spieler in welchem Spielfeldbereich am ehesten an den Ball kommen würde. Dabei werden die individuellen Fähigkeiten wie Tempo oder Gedankenschnelligkeit ignoriert.

Probleme im Spielaufbau

Ein weiteres Problem gegen Gladbach war die 2-3-Staffelung an sich im Spielaufbau. Dass die drei Spieler vor den beiden Innenverteidigern zu breit agierten, erschwerte das Gegenpressing, aber dass nur zwei Spieler gegen hoch pressende Gladbacher in erster Aufbaulinie agierten, erhöhte den Druck gewaltig und erzwang quasi schlechte Entscheidungen.

Gegen Union Berlin schien es so, als würde man bewusst vorsichtiger agieren wollen. Stanišić rückte seltener ins Mittelfeld vor, wodurch es hin und wieder zu einer (manchmal verschobenen) 3-2-Staffelung kam – oder kommen sollte. Denn auch in diesem Spiel unterstützten die beiden Achter zu wenig. Corentin Tolisso und Müller agierten recht hoch und zogen das Spiel somit wieder vertikal stark auseinander.

Nagelsmann möchte prinzipiell so wenig Spieler wie möglich im Spielaufbau „verschwenden“, weil er gerade im Offensivbereich und im Mittelfeld Dominanz erzeugen möchte. Dafür brauchen die Bayern aber auch eine entsprechende Staffelung – einerseits, um überhaupt druckvoll nach vorn zu kommen (das klappte gegen Gladbach so gut wie gar nicht) und andererseits, um bei Ballverlusten sofort in ein gut strukturiertes Gegenpressing zu kommen. Hier hatten sie zuletzt jeweils Probleme, weil sie in alte Muster verfielen: Macht der Gegner das Spiel eng, machen die Bayern es breit. Nagelsmann aber will, dass vor allem die Abwehr- und Mittelfeldspieler das Spiel nicht unnötig breit machen (=> siehe „Mia san Rotstift“ Folge 9 weiter oben im Artikel).

Mit dem Kopf schon beim SC Freiburg?

Vor der Partie gegen Benfica kündigte Nagelsmann Überlegungen zur Rotation an. Der eine oder andere „Vielspieler“ könne womöglich eine Pause erhalten. Die Gruppenkonstellation erlaubt es ihm: Fünf Punkte Vorsprung sind es auf Benfica, gar sechs auf Barcelona. Ein Unentschieden am heutigen Dienstagabend und die Münchner stehen sicher im Achtelfinale, ein Sieg und Platz 1 ist ihnen kaum noch zu nehmen.

Ab von allen taktischen Problemen, die die Bayern zuletzt hatten, stehen schließlich immer noch Menschen auf dem Platz, die mit alltäglichen Erscheinungen wie Müdigkeit oder anderen Faktoren zu kämpfen haben. Hier muss sich Nagelsmann vielleicht am ehesten Kritik gefallen lassen. Rotation wurde in den vergangenen Wochen eher klein geschrieben.

Es ist angesichts der sehr knapp ausgefallenen Vorbereitung sicher schwer, früh in der Saison mit Rotation anzufangen. Rhythmus war dem Trainerteam vermutlich erstmal wichtiger. Jetzt aber, wo es erstmals in dieser Saison Schlag auf Schlag geht, wird es auch darauf ankommen, mit den Kräften zu haushalten. Dass sich ausgerechnet die Champions League dafür am vierten Spieltag der Gruppenphase schon anbietet, ist ein Resultat des starken Auftakts in die Nagelsmann-Ära.

Dass der Trainer darauf verweist, dass auch am Samstag ein schweres Spiel anstehe, ist wiederum ein großes Kompliment an die noch ungeschlagenen Freiburger. Und ein Fingerzeig, dass die Bayern den Warnschuss in Gladbach verstanden haben. Denn in der Bundesliga stehen spannende Wochen ins Haus.

Gegneranalyse vor dem Hinspiel gegen Benfica.