EM-Blog: Ein Plädoyer für die Dreierkette

Justin Trenner 03.07.2021

Flexibilität ist Trumpf. Fünf von acht Viertelfinalisten haben bei der Europameisterschaft im Achtelfinale mit einer Fünferkette begonnen. Hinzu kommen mit Deutschland, Frankreich und der Niederlande drei weitere Achtelfinal-Teilnehmer, die mit fünf „Verteidigern“ begonnen haben. Schon in der Gruppenphase fiel auf, dass viele Teams mit einer kompakten Fünferkettenformation verteidigten. Nicht nur individuell unterlegene Mannschaften, sondern auch einige Top-Nationen.

Der Fokus lag dabei häufig auf der Defensive: Stabil stehen, wenig zulassen und über Kontersituationen zum Erfolg kommen. Aber es gab auch gegenteilige Beispiele: Die Niederlande agierte aus einer 5-3-2-Grundordnung heraus sehr offensiv. So offensiv, dass der rechte Flügelverteidiger Denzel Dumfries mitunter mehr Flügelstürmer als ein Verteidiger war.

Auf der anderen Seite standen aber wiederum Negativbeispiele wie Deutschland oder zu Beginn des Turniers auch Österreich, die aus ihrer Fünferkette heraus kaum offensive Durchschlagskraft entwickelt haben. Behäbig, statisch, zu risikolos – so die allgemeine und berechtigte Kritik. Aber selbst bei den offensiv ausgerichteten Niederländern gab es viele kritische Stimmen aus der Heimat, die eine Rückkehr zum 4-3-3 gefordert haben.

Der schlechte Ruf der Dreierkette

Die Dreierkette, sie ist trotz einiger Positivbeispiele spätestens bei diesem Turnier etwas in Verruf geraten. England und Deutschland neutralisierten sich mit der risikolosen Interpretation ihrer 3-4-3-Systeme so lange, bis auch die letzten Zuschauer:innen vor dem Fernseher eingeschlafen sind. Solche Spiele haben auch direkte Auswirkungen auf die Grundstimmung bei den Fans des FC Bayern. In den sozialen Netzwerken gibt es immer mal Stimmen, die einer Dreierkettenformation bereits die Erfolgsmöglichkeiten absprechen und Nagelsmann davor warnen, sie auch beim Rekordmeister zu etablieren. Warum auch das 4-2-3-1 verändern, das in den letzten Jahren so erfolgreich war?

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Solche Urteile kommen aber viel zu schnell. Nicht die Dreierkette ist Schuld daran, dass Mannschaften wie die deutsche so behäbig nach vorn gespielt haben, sondern die fehlende Flexibilität und Integration der Spieler auf dem Platz sind es – und somit eben auch die Arbeit der Trainer vor und während des Turniers. Deutschland war ein Paradebeispiel dafür, was passiert, wenn Spieler nicht gut ins System integriert sind. So schrieb Fußballexperte Tobias Escher in seinem EM-Tagebuch über Toni Kroos: „Anders als bei Real Madrid waren [seine] Bewegungen aber nie in eine größere, zielgerichtete Spielidee eingebunden. Kaum jemand schuf die passenden Optionen für Kroos, um das Spiel zu beschleunigen.“

Stattdessen liefen sich die Deutschen teilweise gegenseitig die Räume zu. Auch Thomas Müller war einer der Spieler, die im 3-4-3 nie so richtig Anbindung fanden. Nicht aber, weil er grundsätzlich in einer solchen Ausrichtung nicht funktionieren kann, sondern weil um ihn herum aufeinander abgestimmte Laufwege und eine gewisse Anzahl an Spielern fehlten, mit denen er interagieren kann. Deutschlands Interpretation der Dreierkettenformation war mitunter so mutlos, dass Müller gemeinsam mit zwei oder drei anderen Mitspielern gegen vier oder fünf Gegenspieler Lösungen finden musste.

Eine Dreierkette muss nicht „defensiv“ sein

Formationen werden gern mit „Systemen“ gleichgesetzt, wobei das nur die halbe Wahrheit ist. Zwar ist die Formation als Grundstruktur ein Teil des Systems, aber eben nicht mehr. Entscheidend sind die Ausrichtung und die darin integrierten Abläufe sowie deren Umsetzung. Eine Grundstruktur kann unterstützend sein.

Welche Spielertypen stehen zur Verfügung? Wo haben die einzelnen Spieler ihre Stärken und wie hebe ich diese hervor? Das sind Fragen, die letztendlich darüber entscheiden, wie ein Trainer die Einzelteile zu einer Mannschaft zusammenpuzzelt. Eine Dreierkette ist dabei nicht per se defensiver als eine Viererkette mit zwei hochstehenden Außenverteidigern.

Auch Deutschlands 3-4-3 hätte in der Interpretation noch deutlich offensiver wirken können, wenn Bundestrainer Joachim Löw auf den Außenbahnen mindestens einen Spieler gehabt hätte, der zuverlässig mit Tempo und technischen Fähigkeiten Eins-gegen-eins- oder Eins-gegen-zwei-Situationen auflösen kann. Oder wenn die Mannschaft Lösungen gefunden hätte, sich durch gutes Nach- und Verschiebeverhalten hinter die gegnerische Abwehr zu kombinieren. Gerade weil die deutsche Mannschaft aber auf solche einstudierten Abläufe nicht zurückgreifen konnte, gab es die berechtigte Kritik daran, auf die für die meisten Spieler vertraute Viererkette umzustellen. Auch um Schlüsselspieler in ihre gewohnten Rollen zu bringen. Allerdings ist Deutschland da aufgrund der wechselhaften Vorbereitung auf das Turnier eine Ausnahme und eignet sich deshalb nicht als Totschlagargument gegen die Dreierkette.

Dänemark und Italien als vorbildliche Beispiele?

Die Dänen nutzen die Dreierkette beispielsweise für eine gute Konter- und Defensivabsicherung, aber auch für eine natürliche Dominanz im Spielaufbau. Ein Spielaufbau mit drei Spielern ist schwieriger zu pressen als einer mit zwei. Außerdem können die aufbaustarken Innenverteidiger das Spiel breiter machen, wodurch sich bessere Passwinkel und die Möglichkeit zum Andribbeln ergeben – beides sehr wichtig für ballbesitzorientierte Mannschaften, um nicht in ewiges Quergeschiebe zu verfallen. Die Flügelverteidiger können zudem sehr hoch schieben, wodurch es den Offensivspielern ermöglicht wird, das Mittelfeld und die letzte Linie mit vielen Spielern zu besetzen und so die theoretische Unterzahl im offensiveren Bereich auszugleichen.

Italien ist ein etwas anderes Beispiel. Denn auf dem Papier spielen sie mit einer Viererkette. Dennoch machen sie sich die beschriebenen Vorteile oft zunutze, indem der rechte Verteidiger tiefer und eingerückter steht und der linke Verteidiger fast zum Flügelstürmer wird. Trainer Roberto Mancini lässt damit trotz einer Viererkettenformation phasenweise mit Dreierkette spielen. Italien könnte nach diesem Turnier als Vorbild für ballbesitzorientierte Mannschaften dienen, weil sie die Vorteile von Vierer- und Dreierkette so klug miteinander kombinieren, dass die Nachteile beider Formationen nahezu komplett kaschiert werden können. Insgesamt ist es bemerkenswert, wie sauber die Abläufe innerhalb des Teams funktionieren.

Und auch Dänemark hat im Turnierverlauf bereits auf fluide Wechsel zwischen Vierer- und Dreierkette gesetzt. Gegen Wales rückte Verteidiger Andreas Christensen nach zehn Minuten ins Mittelfeld, um eine Unterzahlsituation auszugleichen. Im Viertelfinale gegen Tschechien nutzten die Halbverteidiger immer wieder den Raum vor sich, um mit Tempo anzudribbeln. Ihre Variabilität und die Möglichkeit, in unterschiedlichen Spielsituationen auf unterschiedliche Grundausrichtungen zurückgreifen zu können, haben sie und auch die Italiener bis ins Halbfinale gebracht. Die Dreierkette also als Erfolgsrezept? Zumindest ist das ein viel angemesseneres Fazit dieser Europameisterschaft als die Generalkritik an ihr. Denn nicht sie ist Schuld am mitunter vorsichtigen und behäbigen Spielstil einiger Mannschaften, sondern die Trainer sind es, die es in vielen Fällen genau darauf anlegen und eine behäbige, weil vermeintlich risikoarme Spielweise bevorzugen.

Nagelsmann und die Dreierkette

Der FC Bayern könnte stark davon profitieren, dass Julian Nagelsmann die Dreierkette mindestens als Option etablieren wird. Sie haben einen ausgewogeneren Kader als beispielsweise der DFB und der neue Trainer ist nicht Joachim Löw oder Franco Foda. Bei all seinen bisherigen Stationen hat er unter Beweis gestellt, dass auf eine Dreierkette eine sehr offensiv ausgerichtete Formation mit gleichzeitig guter Defensivabsicherung aufgebaut werden kann. Der 33-Jährige denkt vorrangig offensiv. Leipzig zählte trotz eines eindeutigen Stürmerproblems zu den offensivstärksten Teams der Liga, stellte zugleich aber auch die mit Abstand beste Defensive.

Weil Nagelsmann seine verschiedenen Grundformationen mit Leben gefüllt hat – konkret: mit Abläufen und Automatismen. Das ist wichtiger als jede Zahlenkombination. Und er ist auch kein Trainer, der sich auf eine Formation festlegt. Es ist damit zu rechnen, dass die Bayern auch während einer Partie flexibel zwischen Dreier- und Viererkette wechseln. Vielleicht wie die Italiener, die das über eine asymmetrische Raumaufteilung lösen, vielleicht wie die Dänen, die zumindest im Defensivbereich etwas strikter ausgerichtet sind, vielleicht aber auch wie beide.

Die Dreierkette hat viele Vorteile – auch für offensivfokussierte Teams, die gern den Ball haben. Deshalb wäre es unklug, sie in eine Schublade zu stecken und nur deshalb zu ignorieren, weil anderes zuvor ja „immer schon“ besser funktioniert hat. Flexibilität ist eben Trumpf. Und die Dreierkette ist nicht der Teufel, der für vermeintlich behäbige und defensivfokussierte Spielstile verantwortlich ist. Gerade als FC Bayern muss man dafür nur an die Zeit unter Pep Guardiola zurückdenken.



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