Warten auf die Explosion

Steffen Trenner 04.08.2014

Es wird nicht deutlich, was Jerome Boateng in dieser Situation zu Mario Götze sagte. Es wird so etwas gewesen wie: „Siehst du Junge? Siehst du, was du kannst?“ Ohnehin drehte sich in der Verlängerung des WM-Finals sehr viel um den 22-jährigen Bayern-Spieler. „Zeig, dass du besser bist als Messi“, will Joachim Löw seinem Offensivallrounder bei seiner Einwechslung in der 88. Minute mit auf den Weg gegeben haben. In der kurzen Pause vor Beginn der Verlängerung war Bastian Schweinsteiger zu sehen wie er den Arm um Götze legte, gestikulierend auf ihn einredete. Bei der Bewertung eines Spielers sind Mitspieler die besten Kronzeugen. Sie spüren ganz genau, wer was kann. Wer gut ist, aber sich in entscheidenden Momenten versteckt. Wer gut ist, aber in einem WM-Finale nicht allein den Unterschied ausmachen kann. Götze ist einer, der gut ist und der in jedem Spiel den Unterschied ausmachen kann. Seine Mitspieler und das Trainerteam wussten das. Deshalb drehte sich in der Verlängerung so viel um Mario Götze. Mit seinem Tor, vor allem mit der Art und Weise seines Tors gegen Argentinien mit dem er Deutschland nach 24 Jahren des Wartens zum vierten Weltmeistertitel schoss, hat er gleichzeitig den Maßstab für seine zukünftige Laufbahn gesetzt.

Rummenigge erhöht die Erwartungen

Auch beim FC Bayern wird in Zukunft ein Mario Götze erwartet, der den Unterschied ausmacht. „Es ist wichtig, dass Mario hier richtig ankommt. Man hat ihm von medialer und Fanseite immer den Vorwurf gemacht, er sei noch nicht angekommen. In seinem zweiten Jahr muss er in der Richtung durchstarten“, sagte Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge unter der Woche zu Sport1. Rummenigge weiß, wie man öffentlich Botschaften platziert, um Spieler ein wenig anzupieksen und eine Reaktion zu provozieren. Es ist zugegeben schwer, sich als Bayern-Fan Mario Götze zu nähern. Sein häufig zurückhaltender Torjubel im Trikot der Münchener hat sich zum Running Gag entwickelt. Spöttisch wird über russische Vorfahren spekuliert, wenn Götze wie in der abgelaufenen Champions League-Saison nach einem fantastischen Treffer gegen Moskau wenn überhaupt nur zurückhaltend jubelt. Natürlich ist das unfair, weil die Intensität des Jubels nichts über die Qualität eines Fußballers aussagt. Aber auch das trägt eben zu einem Bild bei, dass durch durchgestylte Marketing-Aktionen (#partofgoetze) und mindestens freche Guerilla-Aktionen, wie dem Nike-Shirt bei seiner Vorstellung in München, ohnehin nicht gerade unumstritten ist. Götze sollte übrigens wissen, dass er mit derlei Aktionen selbst mit dazu beiträgt, einen ungetrübten Blick auf den Fußballer Mario Götze zu verdecken.

Götzes erste Saison in München war keine Enttäuschung. Sie war okay. Götze erfüllte in einigen Partien die an ihn gestellten Anforderungen als »difference maker«. Beim 3:0 in Dortmund, als er kurz nach seiner Einwechslung zum 1:0 traf zum Beispiel. Beim 2:0 gegen Mönchengladbach zum Rückrundenauftakt oder beim Meisterspiel in Berlin, als er mit einem Treffer und einer Vorlage großen Anteil am überzeugenden Erfolg der Münchener hatte. Auf der anderen Seite war Götze in den entscheidenden Spielen in der Champions League nur zweite Wahl. In den letzten vier Spielen stand Götze nur im Rückspiel gegen Manchester United in der Startelf. Er ging nach eher schwacher Vorstellung beim Stand von 1:1. Erst danach drehte Bayern auf und schoss noch einen 3:1-Sieg heraus.

Auch ein Blick in die Bundesliga-Statistik (Daten von bundesliga.de) zeigt, dass Götze im Vergleich zur Offensivkonkurrenz in München ein wenig zurück hing:

NameSpieleToreAssistsMpTMpTSMpAMpTb
Mario Götze2710101823618219
Arjen Robben281171532224012
Franck Ribéry2210111642814812
Thomas Müller3113101673121615
Xherdan Shaqiri17621302739114

Minuten pro Tor (MPT), Minuten pro Torschuss (MPTS) Minuten pro Assist (MPA), Minuten pro Torschussbeteiligung (MPTB). 

Die Zahlen belegen den Eindruck, dass Götzes absolute Scoring-Zahlen mit 10 Toren und 10 Assists zwar in Ordnung, sein Einfluss auf das Offensivspiel und Torabschlüsse aber durchaus wechselhafter war als bei seinen Kollegen. Götze brauchte länger für ein Tor, einen Torschuss oder eine Torschussbeteiligung als alle seine offensiven Konkurrenten. Dass er trotzdem ähnlich gute absolute Zahlen auflegte, spricht für seine Effektivität. Trotzdem trügt der Eindruck nicht, dass Götze gerade im Vergleich zu Robben oder Ribéry immer mal wieder Phasen in seinem Spiel hat, indem die letzte Konsequenz und Bereitschaft in Richtung Tor fehlte. Auch in der Champions League, wo Götze 3 Tore erzielte und einen weiteren Treffer vorbereitete, bestätigte sich dieser Eindruck.

Leistungskurven heute weniger linear

Klar ist trotzdem: Das Vertrauen beim FC Bayern in Mario Götze ist groß. Auch wenn Robert Lewandowski in naher Zukunft eine von vier potenziellen Offensivpositionen besetzt, läuft auch auf Grund der Altersstruktur sehr viel auf Götze zu. Die Leistungen und Statistiken von Franck Ribéry (31) und Arjen Robben (30) sind der Maßstab an denen sich Offensiv- oder Flügelspieler beim FC Bayern in den kommenden Jahren messen lassen müssen. Das ist auch für Götze die Zielmarke. 10-15 Tore und/oder Assists in der Bundesliga. Konstant gute Leistungen in der Champions League und Torbeteiligungen in den großen Spielen ab dem Viertelfinale – so in etwa sieht das Anforderungsprofil aus. Rummenigges Aussagen haben gezeigt, dass die Führung des FC Bayern dies eher früher als später von Götze erwartet. Ohnehin ist der Verweis auf das vergleichsweise junge Alter Götzes (22) und sein großes Entwicklungspotenzial zwar richtig, aber dennoch nicht entscheidend. Die Leistungskurven von Profifußballern, gerade in der Offensive und gerade bei Spielern, die wie Götze schon mit 18 voll belastet wurden, ist heute weniger linear. Messi war 2009 mit 22 Weltfußballer. Andere, die früh weltklasse waren haben mit 27 oder 28 ihren absoluten Leistungszenit schon überschritten. Das alles muss für Götzes Entwicklung nichts bedeuten, aber der Verweis auf großes Potenzial, das erst mit 27-30 vollends zur Entfaltung kommt, kann auch zur Falle werden. Götze und andere junge Spieler sollten deshalb immer daran gemessen werden, was sie im jeweiligen Moment leisten und nicht daran, was möglicherweise in Zukunft noch kommt.

Die Weltmeister um Mario Götze steigen in dieser Woche mit einem Kurztrip in die USA in die neue Saison des FC Bayern München ein. Der Rekordmeister steht vor einer komplizierten Spielzeit. Götze ist der jüngste der Münchener Weltmeister. Er ist auch derjenige von ihnen, der trotz oder gerade wegen seines Tores im WM-Finale in München noch am meisten zu beweisen hat. Beim FC Bayern warten sie auf seine Explosion – oder besser viele Explosionen. So wie in der 113. Minute im Estádio do Maracanã. Jerome Boateng wird gewiss auch beim nächsten Ausbruch nicht weit sein.