WM-Blog: Deutschland – Mexiko 0:1 (0:1)

Justin Trenner 18.06.2018

Mats Hummels und Jérôme Boateng waren nicht nur enttäuscht, sondern auch mächtig angefressen. Nach dem Spiel offenbarten sie im Interview, dass sie mit dem Teamspirit auf dem Feld nicht zufrieden waren. Sie kamen sich einsam und alleine vor, wenn die Mexikaner mal wieder auf sie zuliefen.

Ohnehin fegten die Mittelamerikaner wie ein Tornado über die Mannschaft von Joachim Löw, wenn sie den Ball gewonnen hatten. 66 Prozent Ballbesitz, 87 Prozent Passquote, 26 Abschlüsse – diese Statistiken sprachen für die Deutschen.

Allerdings gewannen sie nur 44% der Zweikämpfe und unter den insgesamt 78 Fehlpässen waren Zuspiele dabei, die dem Bundestrainer noch mehr graue Haare beschert haben müssen. In anderen Worten: die Statistiken lügen.

Es war ein lange uninspirierter und schwacher Auftritt des Weltmeisters. Die Mexikaner hingegen wirkten mannschaftlich geschlossen, spritzig, frisch und willensstärker. Aber sie hatten auch einen klaren Plan. Oliver Bierhoff zeigte sich nach der Niederlage überrascht von der Herangehensweise des Gegners. Dabei war die Flexibilität der Mexikaner zumindest keine komplett neue Erkenntnis.

Kroos und Hummels zustellen, die Außenbahnen attackieren

Mexiko wusste, dass sie Toni Kroos und Mats Hummels auf der linken Seite herausnehmen mussten. Das gelang ihnen herausragend gut. Kroos spielte immerhin sechs Fehlpässe und brachte von seinen restlichen Zuspielen kaum einen gefährlichen Ball in freie Zonen.

Hummels machte weniger Fehler in Ballbesitz. Das lag allerdings daran, dass er kaum Bälle bekam. Das Pressing der Mexikaner sorgte dafür, dass der Münchner nur 37 Pässe spielte und so völlig aus dem Aufbauspiel der Deutschen verschwand.

Häufig wurden sie damit schon früh auf die Außenbahn gezwungen, die dann konsequent und zielsicher attackiert wurde. Mexiko agierte sehr flexibel und veränderte sowohl Höhe als auch Staffelung im Pressing je nach Spielsituation. Am Ende des Spiels ließen sie sich zunehmend fallen, waren aber dennoch in der Lage, den Gegner weitestgehend aus der Gefahrenzone herauszuhalten.

Mexiko hat an diesem Abend ein eindrucksvolles und großartiges Spiel gemacht. Bevor man anfängt, die Fehler der deutschen Nationalmannschaft zu analysieren, sollte das gesagt sein. Sie hatten eine gute Kompaktheit in jeder Spielphase und gingen mit Kopf und Herz in die Zweikämpfe. Schon nach wenigen Sekunden erzwangen sie die erste große Chance des Spiels und unterstrichen damit den mutigen Anspruch, den Weltmeister zu schlagen.

Joachim Löw hat viel Arbeit vor sich

Es steht aber außer Frage, dass auch der Weltmeister gehörigen Anteil an der Überraschung hatte. Der von Hummels und Boateng kritisierte Teamspirit äußerte sich mehrmals in mexikanischen Kontern, in denen sich die beiden Innenverteidiger alleine gegen drei oder vier wendige und schnelle Gegenspieler wiederfanden.

Die Frage, die sich viele Fans stellten: Wie kann das sein? Hat Löw eine falsche Strategie gewählt? Waren es die falschen Spieler, die er ins Rennen schickte? Oder gibt es vielleicht noch ganz andere Faktoren? Die rund 80 Millionen Bundestrainer haben ihre verschiedenen Urteile bereits abgegeben. Auch wir haben Punkte gefunden, in denen sich die Nationalmannschaft verbessern muss, wenn sie die nächste Runde erreichen möchte.

1. Mannschaftliche Kompaktheit

Im Vergleich zu den Mexikanern wirkte das Spiel der Deutschen chaotisch. Die defensive Grundordnung schwankte zwischen ganz gut und vogelwild. Manchmal reichte ein langer Ball des Gegners, um die Löw-Elf in Unterzahlsituationen zu bringen.

Fast aus dem Nichts waren Hummels und Boateng dann in höchster Not. In Phasen des Angriffspressings war es zu einfach, die vorderste Linie mit Werner, Özil, Draxler und Müller zu überspielen und anschließend das Mittelfeld in Überzahl zu überrennen. Kroos und Khedira kamen kein bisschen in die Zweikämpfe, fanden häufig nicht mal den Anschluss an das eigene Pressing.

Der Mannschaft ging phasenweise jegliche Kompaktheit ab. Das war auch in den Testspielen einige Male zu beobachten. Bei Ballverlusten stimmten die Abstände dann nicht und Mexiko war mit wenigen Pässen im letzten Drittel.

2. Desaströse Schaltzentrale

Ohnehin müssen sich Kroos und Khedira die Hauptverantwortung für die fehlende Kompaktheit zuschreiben lassen. Sie sind das Bindeglied zwischen Offensive und Defensive. Mit ihren Pässen entscheiden sie das Spieltempo, mit ihren Zweikämpfen entlasten sie im Normalfall die Defensive.

Nun war Kroos in seinem Spiel durch das mexikanische Pressing aber stark einschränkt. Dadurch boten sich immerhin Räume für Khedira, der den Ball immer wieder nach vorne schleppte, aber nicht für die genialen Momente sorgen konnte. Seine Entscheidungsfindung war meist schlecht oder zu langsam.

Er war schlicht nicht in der Lage, die Vorteile zu nutzen. Deshalb blieb das Aufbauspiel einzig und allein an Boateng hängen. Der Innenverteidiger war das belebende Element im ersten Drittel.

Toni Kroos hatte keinen einfachen Tag.
(Foto: Francisco Leong / AFP / Getty Images)

Erst als Khedira ausgewechselt wurde und Özil sich tiefer fallen ließ, gab es eine klare Verbesserung in der Spielkontrolle. Khedira ist einfach nicht der Spielertyp, den es gegen gut organisierte Gegner braucht. Dafür ist er mittlerweile zu langsam. Löw schwächt sein eigenes Mittelfeld, wenn er den Weltmeister aufgrund vergangener Erfolge weiter aufstellt.

Auch andere Mannschaften werden versuchen, Kroos aus dem Spiel zu decken. Umso wichtiger wäre ein kreativer Partner wie Gündogan. Goretzka wäre die etwas dynamischere Alternative, die die dadurch entstehenden Räume ähnlich nutzen könnte, wie es Khedira zu seinen besten Zeiten tat. Die scheinen allerdings vorbei zu sein.

3. Die Konterabsicherung

Mit einer anderen Besetzung auf der Sechserposition sollten sich auch die gefährlichen Ballverluste verringern lassen. Mehr Kontrolle würde mehr Ruhe bedeuten, die das deutsche Team unbedingt braucht. Dennoch werden sich nicht alle Konter durch Ballbesitz verhindern lassen.

Ein häufiges Problem gegen Mexiko war, dass die Außenbahnen viel zu offen waren. Gerade auf Kimmichs Seite kam es zu vielen gefährlichen Gegenstößen. Nicht selten wurde dessen Qualität in der Rückwärtsbewegung deshalb in Frage gestellt.

Tatsächlich lag hier aber eher ein Defizit in der Konterabsicherung als ein Defizit bei Kimmich vor. Der 23-Jährige wurde überhaupt nicht abgesichert. Seine Rolle muss und soll er so offensiv interpretieren. Gerade weil Müller dann in die Zentrale rücken und der Außenverteidiger seine gefährlichen Pässe, Läufe und Flanken produzieren kann.

Allerdings schien auch Khedira nur die Offensive zu kennen. Niemand war da, um im Halbraum die Vorstöße abzusichern. Bayern-Fans kennen beispielsweise die Tolisso-Rolle aus der vergangenen Saison, in der der Franzose konsequent Kimmichs Rücken freihielt. Khedira gelang dies überhaupt nicht. An ihm ging das Spiel komplett vorbei und er öffnete dem Gegner damit viel zu viele Räume.

Selbst Özil, der wahrlich kein guter Verteidiger ist, übernahm die Absicherung nach dem Wechsel deutlich besser als der ehemalige Stuttgarter. Richtig ist dennoch, dass Kimmich häufig nicht im Sprint zurückkam. Wie viele seiner Mitspieler, trabte auch er viel zu spät aus dem rechten Rand ins Bild, wenn die Mexikaner wieder einen gefährlichen Konter beendeten. Ob das eine Einstellungsfrage oder eine der Kondition war, lässt sich von außen nicht beurteilen. Seine Wege waren schließlich weit und gerade in der Anfangsphase musste er oft die komplette Außenbahn auf und ab rennen. Sein Auftritt war dennoch kein schlechter, sondern mindestens ordentlich.

Boateng und Hummels sahen sich durch die fehlende Absicherung jedoch oft zu voreiligem Herausrücken gezwungen, weil sie alleine die Restverteidigung übernahmen. Gerade Hummels nahm sich damit mehrfach selbst aus dem Spiel. Das geht zwar besser, sollte aber eher ein Vorwurf an die Vordermänner sein, die diese Situationen zuließen. Beide wurden an diesem Abend eher im Stich gelassen als sie selbst für die Niederlage verantwortlich waren.

4. Einstellung und Mentalität

Als Mesut Özil beim Gegentor über das halbe Spielfeld sprintete, um den Fehler Khediras zu reparieren, wurde deutlich, was derzeit ganz besonders fehlt: die berühmte Einstellung. Weder Kroos noch Khedira machten den Eindruck, dass sie heiß auf den Auftakt waren.

Beide trabten regelmäßig hinterher, während ein Offensivspieler deren Meter gehen musste. Auch das meinten die beiden Innenverteidiger, als sie davon sprachen, sich allein gefühlt zu haben. Als Kroos in der ersten Halbzeit einen Zweikampf an der Mittellinie verlor, lief er dem Gegenspieler in einem Tempo hinterher, für das der ein oder andere Kreisspieler schon nach fünf Minuten ausgewechselt wurde.

Bevor also irgendwelche taktischen Veränderungen vorgenommen werden, sollte sichergestellt werden, dass „Die Mannschaft“ sich wieder auf dem ganzen Feld gegenseitig unterstützt. Es fehlt die Schärfe im Spiel einer Mannschaft, die müde und lustlos wirkt.

5. Es gibt tatsächlich zwei Flügel

Marvin Plattenhardt absolvierte am Sonntagabend sein WM-Debüt für Deutschland. Doch. Er hat wirklich gespielt. 23 Pässe, 75% Zweikampfquote, ein Torschuss – es gibt sicherlich schlechtere Debütanten. Die großen Jungs wollten ihn aber nicht so wirklich mitspielen lassen.

Das lag zum Teil daran, dass Boateng und Khedira selten die Seite wechselten. Auch der häufig aus dem Spiel genommene Kroos hatte einen Anteil. Hauptgrund dürfte aber gewesen sein, dass Draxler keinerlei Einfluss nehmen konnte. Wenn er den Ball bekam, ging er nur selten in Dribblings.

Der Grund für seine Nominierung war, dass Löw einen Draxler in Erinnerung hatte, der dynamisch ist und für Durchbrüche in den Strafraum sorgt. Gegen Mexiko dribbelte er höchstens mal quer in die Mitte, um dann eine Fehlentscheidung zu treffen. Deutschland spielte links mit einem verhaltenen Außenverteidiger und einem Spieler, der schon lange kein gutes Spiel mehr gemacht hat.

So spielten die Deutschen immer wieder dieselben Spielzüge. Immer über rechts, immer berechenbar, immer leicht zu verteidigen. Durchbrüche in den Strafraum gab es kaum. Deutschland braucht aber eine zweite starke Seite, um wieder flexibel die Seiten wechseln zu können und den Gegner in Bewegung zu bringen.

6. Löw wirkte ideenlos

Wenn selbst ein Trainer nicht auf die Geschehnisse reagiert, stimmt irgendetwas nicht. Eigentlich war der Auftritt des Bundestrainers das Schockierendste am Abend. Schon nach zehn Minuten wurde deutlich, dass die Konterabsicherung mangelhaft ist.

Löw hätte reagieren können, indem er Khedira oder Kimmich zu mehr defensiver Stabilität beruft. Auch die Auswechslung von Khedira kam im Prinzip zu spät. Mit Julian Brandt hatte der Trainer sogar eine Waffe auf der Bank, die direkt mit der ersten Aktion mehr Gefahr ausstrahlte als Draxler im gesamten Spiel zuvor.

Ihn hätte er vielleicht früher bringen sollen. Es macht wenig Sinn, den Bundestrainer nach dieser Niederlage gänzlich zu hinterfragen. Dafür hat er zu oft bewiesen, dass er richtige Entscheidungen treffen kann. Allerdings muss auch er sich nach der Auftaktniederlage kritische Fragen gefallen lassen. Sein Ingame-Coaching war lange Zeit gar nicht vorhanden und kam dann vermutlich zu spät.

Löw gingen früh die Ideen aus.
(Foto: Matthias Hangst / Getty Images)

Darauf kann Löw aufbauen

Trotz allem war nicht alles schlecht. Löw konnte durchaus auch Dinge beobachten, die schon sehr gut funktionierten. Zwei Spieler hatten eine gute Frühform und der Kader bietet viele Optionen.

1. Lichtblicke Boateng und Özil

Tatsächlich gab es Spieler in der Startelf, die sofort ein gutes Niveau hatten. Boateng rettete seine Mannschaft mehrfach vor einem höheren Rückstand, gewann sogar 64% seiner Zweikämpfe. Im Aufbauspiel wusste der Verteidiger mal mehr mal weniger zu überzeugen, aber grundsätzlich war er auch da der einzige kreative Impuls im Team. Dem 29-Jährigen hat die Pause geholfen. Er scheint fit und bereit zu sein. Auf Boateng ist pünktlich zum Turnier wieder Verlass.

Ein weiterer Spieler, der zu den besten Deutschen in einem wackligen Gefüge zählte, war Mesut Özil. Der Spielmacher initiierte fast alle Angriffe seines Teams. Es waren nicht die finalen oder vorletzten Pässe, die er am Fließband lieferte, sondern eher die Zuspiele in den Zwischenlinienraum.

Immer wieder gelang es ihm, seine Mitspieler in gute Ausgangssituationen zu bringen. Unter den vier Torschussvorlagen waren zudem zwei sehr sehenswerte Pässe. Im Mittelfeld war er im Kontrast zu Khedira und dem fahrigen Müller ein beruhigendes Element. Nach der Umstellung wurde das Spiel der Deutschen mit ihm in tieferen Zonen gefährlicher und sicherer.

Özil machte kaum Fehler und zeigte trotz aller Kritiker, dass es ihn braucht, wenn Deutschland in diesem Turnier Erfolg haben will. Dafür müssen aber auch seine Mitspieler in der Offensive wieder spritziger, aktiver und sicherer werden.

Bei Manuel Neuer hat man ebenfalls das Gefühl, dass er auf einem guten Weg ist. Wirklich beweisen konnte er sich nicht, aber er machte keine Fehler und beteiligte sich aktiv im Aufbauspiel. Für eine endgültige Bewertung braucht es zwar noch mehr Belege, doch es ist erwähnenswert, dass seine Ausstrahlung und sein Spiel schon wieder gewohnt sicher wirken.

2. Die Breite im Kader

Der Bundestrainer ist normalerweise dafür bekannt, dass er flexibel auf Situationen reagieren kann. Gegen Schweden könnte es deshalb schon personelle Veränderungen geben. Reus und Brandt wussten nach ihren Einwechslungen direkt zu überzeugen. Beide belebten das Spiel merklich. Gündogan, Goretzka und Rudy sind hingegen Kandidaten, um Khedira zu ersetzen.

Ob Löw schon so früh seine Startaufstellung verändert, wird sich zeigen, aber theoretisch hat er so viele Optionen, dass einige Ausfälle durchaus kompensiert werden können. Allein das dürfte Mut machen. Auch seine Formation wird der 58-Jährige nochmal überdenken müssen. Das 4-2-3-1 passt so nicht zur strategischen Ausrichtung. Mit einer Dreierkette könnten die Räume bei Kontern breiter verteidigt werden.

Ausblick

Alles in allem muss aus der Niederlage der Deutschen aber noch kein Drama gemacht werden. Die Baustellen sind dennoch ungewöhnlich groß. Löw hat allerhand zu tun, um schon gegen Schweden eine klare Verbesserung zu erreichen.

Dass ihm dabei Spieler wie Lahm, Mertesacker und Schweinsteiger fehlen, steht außer Frage. Spieler, die dort hereinwachsen können, sind noch zu jung oder nicht in der entsprechenden Form, um das ganze Team tragen zu können. Das ist ein sehr großes Problem.

Gerade auf der rechten Seite kann Lahm im aktuellen System nicht ersetzt werden. Kimmichs Vorstöße werden dazu nicht genügend abgesichert. Dass man Lahm aber als Mannschaft ersetzen kann, zeigte der FC Bayern in dieser Saison. Dort funktionierte Kimmich in seiner offensiven Rolle sehr gut. Löw könnte mit einer strategischen Umstellung ebenfalls gegensteuern. In einem 3-4-1-2 würde die Mannschaft vielleicht eine bessere Balance auf den Platz bekommen.

Vielleicht hätte auch Kroos dann bessere Möglichkeiten, um sich aus dem Pressing der kommenden Gegner zu befreien. Auf ihm wird der Fokus auch in den kommenden Wochen liegen. Wenn ein Spieler damit aber umgehen kann, dann er.

Noch wichtiger wird es sein, dass der Bundestrainer Draxler und Khedira entweder gänzlich austauscht oder sie zumindest in die entsprechende Form bringt. Letzteres dürfte in der Kürze der Zeit fast unmöglich sein.

Gegen Schweden haben die Deutschen jetzt ihr erstes Finale. Dann wird sich zeigen, ob die Mannschaft in der Lage ist, in wenigen Tagen eine Reaktion zu zeigen. Die Aussagen von Boateng und Hummels deuten jeweils darauf hin, dass dieser Tage einiges hinterfragt wird. Gut so.