WM 2023: Über patriarchale Strukturen und männlichen Kontrollzwang

Justin Trenner 28.08.2023

Eigentlich hätte es diese herausragende Weltmeisterschaft verdient gehabt, sie auch nach dem Abpfiff des Finals sportlich aufzuarbeiten und ihr den Raum zu geben, den sie sich zuvor zu Recht erarbeitet hat. Doch mit den Geschehnissen rund um die Siegerinnenehrung der spanischen Weltmeisterinnen  hatte sich das erledigt.

Nun könnte man trotzdem den Fokus auf das Sportliche lenken. Doch damit würde man von einem Thema ablenken, das zu viel Tragweite hat, um es zu ignorieren. Seit nun mehr als einer Woche sind es vor allem Männer, die sich die Bühne genommen haben, die den Frauen gehört. Es sind Männer, die öffentlich zur Schau stellen, was in unserer Gesellschaft falsch läuft.

Und es sind Frauen, die sich wehren, die im Jahr 2023 einen Kampf kämpfen müssen, der nicht mehr zeitgemäß ist. Und, mit Verlaub, das ist ganz großer Mist.

Der Fall von Jennifer Hermoso und die Entblößung des Karl-Heinz Rummenigge

„Ich glaube, man soll da nicht übertreiben“, sagte Karl-Heinz Rummenigge noch am Montagabend, also knapp 24 Stunden nach dem Endspiel bei den „Sport Bild“-Awards.  24 Stunden, in denen viel passiert ist. Luis Rubiales hatte sich am Sonntagabend übergriffig verhalten. Dabei ging es nicht nur um den Kuss, den er Jennifer Hermoso aufzwang, sondern auch um seinen grundsätzlichen Umgang mit den Spielerinnen.

Der Präsident des spanischen Fußball-Verbandes zeigte sich daraufhin nicht etwa einsichtig, sondern trotzig, bezeichnete Kritik als „idiotisch“. Während aus der spanischen Politik Rücktrittsforderungen laut wurden, versuchte man innerhalb des Verbands, Hermoso und ihr Umfeld unter Druck zu setzen. Sie sollte das Geschehen als „einvernehmlich“ aufklären. Doch das tat sie nicht – und so fälschte der Verband ein Zitat von ihr.

Hermoso nahm sich daraufhin die Hilfe von der Spielerinnengewerkschaft Futpro und ihrer Berateragentur. Am Freitag veröffentlichte sie ein Statement, in dem sie von manipulativen Verhalten des Verbands schrieb und nochmal verdeutlichte, dass der Kuss ihr weder gefallen habe, noch einvernehmlich war. Der Verband reagierte abermals, indem er versuchte, den Täter zum Opfer zu machen. Rubiales selbst bekräftigte auf einer außerordentlichen Versammlung des Verbands, dass er nicht zurücktreten werde.

Die Welle an Solidarität, die der Fall Hermoso indes im Fußball der Frauen entfachte, ist bemerkenswert. 81 spanische Nationalspielerinnen, darunter alle 23 Weltmeisterinnen, traten zurück. Auch aus dem Staff haben mehrere Personen ihren Rücktritt verkündet.

Jennifer Hermoso: Unterstützung meist nur von einer Seite

International gab es zahlreiche Spielerinnen, die sich positionierten und Hermoso versicherten, hinter ihr zu stehen. Ein Ereignis mit historischer Tragweite. Teile der spanischen Nationalelf hatten bereits weit vor der Weltmeisterschaft den Verband und seinen Umgang mit den Spielerinnen kritisiert. Mapi León schrieb jüngst auf Twitter: „Es ist nicht viel Zeit vergangen, bis man gesehen hat, was vor ein paar Monaten gefordert wurde.“

Damals richtete sich die Kritik auch an Trainer Jorge Vilda, der unter anderem seine Macht in Form von Überwachung der Spielerinnen missbraucht haben soll. Machtmissbrauch, der in der Fußballbranche keine Ausnahme ist. Er ist üblich.

Wenn jemand wie Rummenigge, einer der mächtigsten Männer im europäischen Fußball, Rubiales wenige Stunden nach dem Übergriff in Schutz nimmt, dann ist das keine mal eben spontan rausgehauene Meinung. Rummenigge und Rubiales sitzen im Exekutivkomitee der UEFA, kennen sich dementsprechend. „Was er da gemacht hat, ist – sorry, mit Verlaub – absolut okay“, erklärte das Aufsichtsratsmitglied des FC Bayern. Das Herunterspielen von Übergriffen hat Tradition.

Aus dem Fall Hermoso lernen: Patriarchale Strukturen sind das Problem

Frauen erleben das tagtäglich. Ihre Anschuldigungen werden auch in einem vermeintlich modernen Zeitalter oft belächelt, zurückgewiesen oder als „absolut okay“ bewertet. Natürlich von Männern – also Menschen, die nicht betroffen sind. Wie würde der Fall Hermoso öffentlich bewertet werden, hätte es keinen Livemitschnitt gegeben?

Vermutlich hätte der Verband mit seiner Strategie, das Opfer zu diffamieren und der Lüge zu bezichtigen, Erfolg gehabt. Kein klarer Beweis, keine Konsequenzen. Männer in Machtpositionen schaffen es zu oft, sich herauszuwinden. So oft, dass es hin und wieder vorkommt, dass sich Typen wie Rubiales zu sicher fühlen und sich öffentlich vor den Augen der ganzen Welt entblößen. So öffentlich, dass der Druck von außen für die FIFA zu groß wurde und sie Rubiales zunächst suspendierte, um das Thema für sich beenden zu können.

Die Reaktion von Rummenigge aber zeigt, dass das Problem tiefer sitzt. Nicht nur beim spanischen Verband, dessen toxische Strukturen weit über Rubiales hinausgehen. Auch für Deutschland gilt das. Denn so groß die Solidarität im Fußball der Frauen ist, so überschaubar fällt sie im Fußball der Männer aus. Einzelne Spieler haben Mut bewiesen. Etwa Borja Iglesias, der aus der spanischen Nationalmannschaft zurückgetreten ist. Oder Héctor Bellerin, der sich in den sozialen Netzwerken klar positioniert hat, Rubiales als „Narzissten“ bezeichnete.

Klubs wie der FC Sevilla oder Cadiz äußerten sich ebenfalls pro Hermoso. Leider sind das Ausnahmen. Im Männerfußball hat sich eine Kultur des Schweigens etabliert: Ist man selbst nicht direkt betroffen, hält man sich raus.

Ohrenbetäubendes Schweigen des Männerfußballs

Mächtige Funktionäre halten sich zurück, solange sie sich nicht wie La-Liga-Chef Javier Tebas profilieren können oder wie Sevilla eine Vorgeschichte mit Rubiales haben. Oder sie stellen sich wie Rummenigge gar auf seine Seite. Auch Hans-Joachim Watzke vom BVB und DFB faselte davon, dass man die Vorgeschichte kennen müsse, um eine Meinung zu haben. Ein Trauerspiel.

Verbände wie der DFB haben nur das Minimum getan, um zumindest Solidarität zu signalisieren. Auf Instagram postete der Account des Frauennationalteams einen Zweizeiler in der Story. Andere Kanäle des DFB blieben ohne Stellungnahme.

Frauen im Fußball (und in großen Teilen der Gesellschaft) teilen eine Erfahrung: Männer in Machtpositionen unterstützen sie in der Regel so sehr, wie es nötig ist, um nach außen einen vernünftigen Eindruck zu machen, gleichzeitig aber so wenig wie möglich, um die Kontrolle zu behalten.

Der Mannschaftsrat der DFB-Frauen hat ein eigenes Statement veröffentlicht – offenbar ohne Absprache mit dem Verband, der dieses nicht teilte oder an anderer Stelle aufgriff. „Es ist traurig, wenn auch in der deutschen Fußballwelt anscheinend noch nicht alle aufgeklärt genug sind, das einschätzen zu können“, heißt es darin – wohl auch mit Blick auf Rummenigge.

Angesichts dessen Verharmlosung dürfte es kaum überraschen, dass der FC Bayern ebenfalls schweigt. Es ist ein ohrenbetäubendes Schweigen im Männerfußball. Gerade im Kontext der lautstarken Solidarisierung mit Benjamin Mendy. Unter einem Post von Memphis Depay, der fragte, wer die männlichen Fußballprofis schützen würde, applaudierten zahlreiche Spieler, auch aus der Bundesliga, lautstark. Ein Hohn, wie Sportjournalistin Mara Pfeiffer richtig aufarbeitete.

Männer können und müssen etwas verändern

„Wie im Fußball damit umgegangen wird, strahlt auf die Gesellschaft zurück“, schreibt sie darin. Das gilt auch für den Fall Hermoso. Was die spanischen Spielerinnen tun, erfordert Mut. Dass sie es tun müssen, ist ermüdend. Vor allem für sie.

Umso wichtiger wäre es, dass sie Unterstützung aus jener Gruppe bekommen, die am privilegiertesten ist: Männer und Männer in Machtpositionen. Sie haben die Chance, etwas zu verändern und tatsächlich für Gleichberechtigung einzustehen, statt den Kampf dafür nur vorzuheucheln, wenn er gerade mal in die eigene Agenda passt. Es betrifft Funktionäre, es betrifft aber auch jene, die eine breite Öffentlichkeit haben.

Dietmar Hamann hat das in seinem Kommentar auf Sky vorgelebt. Ausgerechnet, könnte man sagen. „Dieser Mann hat im Fußball nichts verloren“, sagte er klar und deutlich: „Wenn ich diese Statements höre, kann ich nur mit dem Kopf schütteln, weil einzig die Frau entscheidet: Sie hat gesagt, das war nicht gewollt.“

Der FC Bayern hat am Dienstag das neue Awarenesskonzept „OBACHT.“ vorgestellt. Ein wichtiger Schritt, um unter anderem Übergriffen im Stadion präventiv entgegenzuwirken. Doch was sollen Frauen – sowohl Spielerinnen als auch Fans – darüber denken, wenn ein Aufsichtsratsmitglied mit der Reichweite von Rummenigge es „absolut okay“ findet, was Rubiales gemacht hat?

Frauen kämpfen gegen Windmühlen

Wie einschneidend und prägend der spanische Kampf gegen die toxischen Verbandsstrukturen tatsächlich sein wird, lässt sich kaum absehen. Fakt ist, dass der Fall nicht nur Spanien betrifft. Mehr Männer müssen das begreifen und damit aufhören, im Alltag die Augen davor zu verschließen.

Gern hätten wir in diesem Artikel mehr auf den sportlichen Teil des Turniers zurückgeblickt und FCB-Neuzugang Magdalena Eriksson für ihre starken Leistungen zur Bayern-Spielerin der WM gekürt. Doch all das ist zur Nebensache geworden. Weil Männer mal wieder ihre Machtposition missbraucht haben. Und – sorry, mit Verlaub, Herr Rummenigge – übertreiben kann man bei der Aufarbeitung dessen gewiss nicht. Sein Schweigen zu seiner Positionierung wird von Tag zu Tag unangenehmer – ebenso wie das Schweigen der vielen anderen Männer im Profifußball, deren Wort Gewicht hätte.

Der Fußball hat ein strukturelles Problem. Keines, das neu wäre. Aber eines, das jetzt ganz offensichtlich wurde. Über die spanischen Grenzen hinaus. Viele Männer können nicht damit umgehen, ihre Machtposition auch nur teilweise abzugeben. Was passiert, wenn sie die Kontrolle verlieren, hat Rubiales gezeigt. In einer Woche hat er sich komplett entblößt.

Der Kontrollzwang der mächtigen Verbände und deren Anführer wird weitergehen. Bis es tatsächlich Gleichberechtigung in unserer Gesellschaft gibt, müssen Frauen noch viele Kämpfe gegen die Windmühlen der patriarchalen Strukturen kämpfen – nach diesem öffentlichen Schauspiel des spanischen Verbandes werden sie hoffentlich wieder ein paar Unterstützer mehr auf ihrer Seite haben.

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