Vorschau: Wirtz ein schickes Top-Spiel?

Justin Trenner 15.10.2021

„Ich habe Leverkusen jedes Jahr auf dem Zettel, weil ich finde, dass sie einen guten Blick für Spieler und einen qualitativ hochwertigen Kader haben“, sagte Bayern-Coach Julian Nagelsmann auf der Pressekonferenz vor dem Top-Spiel am kommenden Sonntag. „Wenn man sieht, wie jung die Spieler sind, ist das schon stark.“ Damit bringt der 34-Jährige quasi das Geschäfts- und Erfolgsmodell von Bayer 04 Leverkusen auf den Punkt: Junge Spieler scouten, aus dem Jugendbereich hochziehen oder kaufen und sie schließlich im Profibereich entwickeln.

Kaum ein anderer Klub in Deutschland hat dabei eine derart hohe Trefferquote wie Leverkusen – vielleicht noch Borussia Dortmund, die einen ähnlichen Weg eingeschlagen haben. Das bringt selbstverständlich Risiken mit sich. Jungen Spielern fehlt meist die Konstanz, um über eine ganze Saison ein wichtiger Eckpfeiler zu sein. Ihnen fehlt auch die Erfahrung, um gerade in heißen Saisonphasen vorangehen zu können. Das alles ist ganz normal.

Leverkusen aber fehlte es in den letzten Jahren häufig an entsprechenden Leistungsträgern im oberen Bereich der Kaderhierarchie. Julian Baumgartlinger, Charles Aránguiz, Karim Bellarabi, Lucas Alario, Kerem Demirbay – die Liste an erfahrenen Spielern lässt sich auf dem Papier durchaus sehen. Fakt ist aber, dass sie alle in den letzten Jahren oft mit sich selbst zu tun hatten. Verletzungen oder Formschwächen verhinderten eine Rolle als unumstrittener Führungsspieler.

Bayer 04 Leverkusen: Nächster Anlauf mit Seoane

Auch bei Jonathan Tah, der mit 25 Jahren langsam in ein Alter kommt, wo er Verantwortung übernehmen muss und auch will, sind die Probleme ähnlich gelagert. Leverkusen wird vielerorts gern dafür belächelt, dass sie traditionell auf der Zielgeraden einer Saison einknicken. Dass es in den letzten Jahren nicht gelang, eine stabile Achse zu etablieren, dürfte ein Punkt sein, der regelmäßig dazu führte.

Ein zweiter Faktor war die Trainersuche. In den letzten vier Jahren durften sich vier verschiedene Trainer versuchen: Tayfun Korkut, Heiko Herrlich, Peter Bosz und zuletzt Hannes Wolf. Bis auf Bosz konnte niemand von ihnen auch nur ansatzweise überzeugen. Der Niederländer wiederum scheiterte daran, seinem auf Ballbesitz ausgelegten Fußball den letzten Schliff an Dynamik zu verpassen – womöglich aber auch an den beschriebenen Problemen innerhalb des Kaders.

Nun soll sich Gerardo Seoane versuchen. Der 42-Jährige hat in Leverkusen einen Dreijahresvertrag unterschrieben und ist gut in die Saison gestartet. Fünf Siege, ein Unentschieden, eine Niederlage und 20:7 Tore – damit steht die Werkself punktgleich mit den Bayern auf Platz 2. Sein Spielstil wird oft als spektakulär und offensiv beschrieben, aber ist er das wirklich?

Daten sprechen klare Sprache – oder?

Zumindest hat Leverkusen nach dem Rekordmeister aus München die meisten Tore erzielt. Das spricht auf den ersten Blick dafür. Ein zweiter Blick auf die Zahlen verrät aber schon etwas mehr: 11,8 Expected Goals (Platz 5) und 13,6 Abschlüsse pro Spiel (Platz 7) sind für ein Team in der oberen Tabellenhälfte okay, aber nicht mehr. Die durchschnittliche Distanz der Abschlüsse beträgt zudem 16 Meter, was der siebtlängste Wert ist.

Interessant sind zudem einige Daten, die Opta erhoben hat:

  • Leverkusen hat sieben Tore in der Bundesliga in der Anfangsviertelstunde erzielt (Bestwert)
  • Sechsmal ging die Werkself in dieser Saison in Führung (Höchstwert neben Bayern)
  • Dreimal traf Leverkusen in den ersten drei Minuten
  • 64 % der Spielzeit lagen sie vorn (Platz 1 vor Bayern mit 54 %)

Also doch beeindruckender Offensivfußball? Zum Teil. Leverkusen ist nach wie vor in der Lage, einen Gegner mit gutem Angriffspressing unter Druck zu setzen. Gerade das 1:0 gegen Borussia Dortmund ist dafür ein gutes Beispiel, weil die Seoane-Elf die eigene rechte Seite clever verengt und so zu einem hohen Ballgewinn kommt. Wenn es die Situation zulässt, läuft die Werkself also hoch und aggressiv an. Doch weitere Opta-Daten zeigen eben auch die andere Seite der Medaille:

  • 53 % ihrer Ballgewinne verbuchen sie im eigenen Defensivdrittel (nur Hertha hat einen höheren Wert)
  • Die eigenen Ballbesitzphasen startet Leverkusen im Schnitt 38,8 Meter vor dem eigenen Tor (nur Hertha ist durchschnittlich näher am eigenen Tor: 37,6 Meter)

Tiefer als man denkt

Leverkusen hat zudem die wenigsten Pressures im Angriffsdrittel (22,6 pro Spiel) und die drittmeisten im Defensivdrittel (52,7). Pressures sind definiert als Momente, in denen ein Leverkusener einen gegnerischen Spieler unter Druck setzt, der gerade den Ball am Fuß hat, ihn erhält oder gerade abspielen will. Für ein Top-Team – insbesondere in der Bundesliga – sind das durchaus ungewöhnliche Werte.

In vielen Spielphasen verteidigt Leverkusen in einem tiefen und sehr kompakten 4-4-2-, 4-4-1-1-, 4-1-4-1- oder gar 4-5-1-Block. Wird der Ball beispielsweise nach Ballverlusten nicht innerhalb von wenigen Sekunden gewonnen, zieht sich die Werkself zurück – teilweise bis an den eigenen Strafraum. Hohe Pressingmomente gibt es dementsprechend vor allem gegen stärkere Gegner seltener.

Dennoch bleiben vielen Fans die offensiven Momente des Teams in Erinnerung. Seoane hat es geschafft, eine gute Balance aus defensiver Stabilität und offensiven Umschaltmomenten zu finden. Selbst wenn Leverkusen den Ball in der eigenen Hälfte erobert und die Wege zum gegnerischen Tor somit weit sind, kommen sie überdurchschnittlich oft zu Abschlüssen. Ein klares Qualitätsmerkmal.

Florian gibt der Offensive die nötige Wirtze

Die individuelle Klasse im Angriff ist enorm. Patrik Schick (10 Pflichtspiele / 6 Tore / 2 Vorlagen), Florian Wirtz (8 / 6 / 5) und Moussa Diaby (10 / 4 / 1) stechen dabei nochmal heraus. Schick, weil er im Seoane-System endlich angekommen zu sein scheint. Der Tscheche nahm den Wind aus einer starken Europameisterschaft mit nach Leverkusen und konnte direkt anknüpfen. Seine Tiefenläufe durch die Schnittstellen der gegnerischen Verteidigung sind eine Gefahr für jeden Gegner.

Allerdings hat er um sich herum auch Spieler, die ihm nicht nur den Raum für diese Läufe ermöglichen, sondern ihn auch entsprechend bedienen können. Allen voran natürlich Wirtz, der aktuell in Top-Form ist. Seine Ideen und Aktionen beleben vor allem das offensive Umschaltspiel Leverkusens enorm. Und dann wäre da noch Diaby, der mit seinem Tempo, herausragenden technischen Fähigkeiten und Zug zum Tor ebenfalls in großartiger Verfassung ist.

Seoane kann sich auf die Durchschlagskraft seiner Offensive verlassen, während er die Defensive stabil hält. Seine größte Herausforderung wird es aber sein, diese Form aufrecht zu erhalten. Die weiten Wege zum Tor, die aktuell eher durchschnittlichen Abschlüsse (in allen statistischen Belangen) und die verhältnismäßig wenigen hohen Ballgewinne könnten zum Problem werden, wenn Leverkusen mal seltener in Führung geht, eine Anfangsphase nicht nach Plan läuft oder die Spieler aus verschiedenen Gründen nicht mehr so gut performen wie im Moment.

Stärken

  • Hohe individuelle Qualität in der Offensive
  • Offensive Umschaltmomente
  • Gute Tiefenverteidigung
  • Gutes Timing und gute Entscheidungsfindung, wann hohes Pressing Sinn ergibt und wann nicht
  • Variable Offensive
  • Tempo
  • Direktes Spiel in die Spitze

Schwächen

  • Verteidigung der Breite
  • Weite Wege zum Tor bei vielen Ballgewinnen

Typische Spielweise

  • 4-2-3-1 / 4-3-3
  • Fokus auf offensive Umschaltmomente
  • Hohes Pressing nur wenn es die Situation erlaubt (Rückstand, besonders gute Positionierung für höheres Anlaufen, Unsauberkeit beim Gegner)
  • Ansonsten eher variables Mittelfeldpressing
  • Sehr kompaktes Zentrum, Flügel werden in der Tiefenverteidigung durch die äußeren Mittelfeldspieler verteidigt, Abwehrkette steht horizontal sehr eng
  • Hohe Aggressivität
  • Bei Ballgewinnen sehr vertikales und direktes Spiel nach vorn

Bayerns mögliche Probleme im Top-Spiel

Dann könnte ein Plan B von Seoane fällig werden. Vier Gegentreffer daheim gegen Dortmund und ein über weite Strecken von Leverkusen eher passiv geführtes Spiel haben die eine oder andere Schwachstelle aufdecken können. Gegen Bayern werden sie womöglich ähnlich agieren und versuchen, die Anfangsphase an sich zu reißen, um sich dann möglicherweise in eine tiefere Verteidigung zurückfallen zu lassen.

Bayern hatte gegen Frankfurt Probleme mit einem kompakten Mittelfeldzentrum und ließ sich vom Gegner zu leicht auseinanderziehen. Statt die Mitte dennoch so eng wie möglich zu besetzen, um vor allem auch beim Gegenpressing gute Karten zu haben, fiel man in alte Muster zurück und zog ein zu breites Spiel auf.

Wenn die Bayern im Mittelfeld schon in Ballbesitz kompakt stehen, wird das Gegenpressing erleichtert. Der Raum für den Gegner wird, sollte er den Ball erobern, deutlich verknappt.
Gewinnt der Gegner allerdings den Ball in Momenten, in denen die Bayern zu breit und/oder zu vertikal auseinandergezogen sind, hat er mehr Raum für offensive Umschaltaktionen. Das Gegenpressing wird für Bayern schwerer.

Die kompakte Ausrichtung Leverkusens könnte ähnliches provozieren, weshalb Nagelsmann auf der Pressekonferenz auch warnte: „Es geht generell darum, dass wir einen guten Anschluss haben müssen, gerade wenn die Gegner so tief stehen und wir in der Restverteidigung aktiv sind, um uns weitere Umschaltwege zu ersparen.“

Umschaltmomente sind entscheidend

Sehr wahrscheinlich werden es also die Umschaltmomente sein, die diese Partie entscheiden. Wenn die Bayern ihrem Gegner so gut wie keine Möglichkeiten erlauben, sich durch die Spielfeldmitte nach vorn zu kombinieren, sondern ihr Gegenpressing effizient und effektiv aufziehen, wird es für Leverkusen schwer, aus der eigenen Hälfte herauszukommen. Für Bayern wird es im Umkehrschluss kompliziert, wenn sie der Werkself zu viel Entlastung gewähren und die starken Offensivspieler des Gegners ins Rollen kommen.

Leverkusens Defensive stand bisher meist stabil. Die natürlichen Schwächen der kompakten Defensivformation liegen allerdings auf den Außen. Bayerns kompakte Mittelfeldstruktur ist prädestiniert dafür, dass Leverkusen die Flügel etwas vernachlässigen könnte. Seitenverlagerungen, das zeigte insbesondere der BVB beim Gastauftritt in der BayArena, sind ein gutes Mittel, um das Team von Seoane zu knacken.

Es wird vermutlich eine Partie, in der die Bayern einen Ballbesitzwert jenseits der 60 % haben. Das macht das Top-Spiel zu einem echten Test für Nagelsmann: Kann das Team aus den Fehlern der letzten Spiele lernen und die strukturellen Lücken in Ballbesitz schließen? Oder gibt Leverkusen den Münchnern einen nächsten Dämpfer?