Transfersommer 2020: Vier Neuzugänge für ein Halleluja?

Justin Trenner 05.10.2020

Bouna Sarr, Eric Maxim Choupo-Moting, Marc Roca und Douglas Costa – so heißen sie, Bayerns Last-Minute-Neuzugänge im Transfersommer 2020. Lange wurde öffentlich über den Kader des FC Bayern diskutiert, viel und lautstark wurde wie schon im Sommer 2019 kritisiert, bevor das Transferfenster geschlossen wurde. Erneut können Hasan Salihamidžić und sein Team den Kader in der Breite aufstocken und gute Kompromisse präsentieren. Aber – und auch das ist eine Parallele zu den bereits vor einem Jahr geführten Diskussionen – sind diese Transfers wirklich Verstärkungen?

Bouna Sarr: Nicht mehr als ein Notnagel?

Bouna Sarr konnte bereits früh in seiner Karriere weit über 100 Spiele auf Profiniveau in Frankreich absolvieren. Meist als Rechtsaußen eingesetzt, machte er bei seinem Jugendverein FC Metz größere französische Vereine auf sich aufmerksam. 2015 wechselte er schließlich zu Marseille, wo er zunächst nicht gesetzt war, weil er keine klare Rolle im Team finden konnte. Mal agierte er rechts in der Offensive, mal links, über 1000 Pflichtspielminuten kam er in seinen ersten beiden Spielzeiten aber nie.

Erst 2018 änderte sich seine Situation merklich. Von Trainer Rudi Garcia wurde er zum Rechtsverteidiger umfunktioniert und erarbeitete sich dort einen Stammplatz, der ihm in der letzten Saison zu den meisten Spielminuten im Kader verhalf.

Wir haben uns bezüglich der Stärken und der Schwächen mit Alexander Rudies ausgetauscht, der den Spieler seit Jahren intensiv verfolgt und so etwas wie eine menschliche Datenbank im Weltfußball ist. Alex erzählte uns, dass die Transformation zum Außenverteidiger ein logischer Schritt gewesen sei. Für einen offensiven Flügelspieler habe es ihm immer an Torgefahr und Kreativität im letzten Drittel gefehlt. Eins-gegen-eins-Situationen, ein überragender Antritt und besondere Fähigkeiten im Passspiel würden nicht zu seinen Stärken zählen.

Viel Licht und Schatten

Als Außenverteidiger sind diese Qualitäten aber nicht allzu entscheidend. Sein Tempo ist in der Defensivarbeit ausreichend, sein Passspiel ist auch unter Druck meist sicher. Alex beschreibt ihn als balltreibenden Außenverteidiger, der den Ball gern ins letzte Drittel bringt. Nach wie vor sei es dort aber ein Problem, dass er im Dribbling kaum überzeugen kann und auch sonst in seinen Offensivaktionen viel Licht und Schatten vorhanden ist. Durchschnittliche Flanken und den einen oder anderen Ballverlust identifiziert Alex als klare Schwächen in Sarrs Spiel.

Dennoch sollte hier der Unterschied zwischen dem spielerischen Umfeld in Marseille und jenem bei den Bayern beachtet werden. Sarr wird in München viel mehr Unterstützung erhalten, sowohl individuell als auch gruppentaktisch. Das dürfte ihm auch bei seiner Entscheidungsfindung im Offensivspiel helfen.

Bouna Sarr ist flexibel einsetzbar, seine stärksten Auftritte hatte er aber auf der Rechtsverteidiger-Position.
Foto: (GERARD JULIEN/AFP via Getty Images)

Dennoch ist klar, dass Sarr eher dem Spielertypus Pavard entspricht als jenem eines Sergiño Dest. Für Flicks System muss das keinesfalls schlecht sein, ist doch gerade Pavard in der letzten Saison mit einem recht unspektakulären Spielstil eine sichere Bank für die Bayern gewesen.

Stärken in der Defensive

„Als Ersatz für Pavard würde Sarr vermutlich dessen im Vergleich zu Alphonso Davies auf der linken Seite defensivere Rolle übernehmen. Hier finden sich auch eher seine Stärken“, so Alex.

Gerade seine Zweikampfführung am Boden sei ein großes Plus, weil er wenige unnötige Fouls begehe und in vielen Duellen ein gutes Timing beweise. Dabei helfe ihm sein gutes Stellungsspiel. Seine Antizipation und viele abgefangene Bälle lassen ihn im direkten Defensivvergleich zu Pavard kaum abfallen, sagt Alex.

Sarr ist mit 28 Jahren sicher nicht der Spieler, der in den nächsten Jahren noch große Sprünge nach oben machen wird. Aber die Bayern wissen hier zumindest relativ sicher, was sie bekommen und was nicht. Anders als bei den jungen Alternativen kann das insbesondere in der Backup-Rolle ein entscheidender Vorteil sein.

Wie lange dauert die Anpassung? Und warum nicht Richards?

Ein mögliches Problem könne hingegen das Pressing-System der Bayern sein, sagt Alex. Hier müsse sich der Neuzugang in kurzer Zeit stark anpassen. Doch sein Fazit ist durchaus optimistisch: „In seiner Karriere hat sich Bouna Sarr schon als anpassungsfähiger und lernbereiter Spieler gezeigt. Diese Qualität sollte ihm auch bei Bayern helfen.“

Aufgrund der gescheiterten Verhandlungen mit Dest und der plötzlich zumindest gefühlt aus dem Nichts aufkommenden Gerüchte um Sarr entsteht schnell der Eindruck, dass Sarr nur der späte Notnagel ist, um überhaupt jemanden zu verpflichten. Erinnerungen an die Leihe von Álvaro Odriozola kommen auf. Doch man darf nicht vergessen, dass die Bayern hier nicht zwingend einen Spieler mit Stammspielerpotenzial gesucht haben.

Die Coronasituation und die Tatsache, dass Pavard als Rechtsverteidiger gesetzt ist, führen dazu, dass man jungen Spielern wie Dest keine Garantie für viele Einsätze geben konnte. Sicherlich war das neben der hohen Ablöse ein entscheidendes Argument für die lange Suche. Mit Sarr bekommt man zweifelsohne eine andere Qualität. Aber mit seiner Erfahrung und Anpassungfähigkeit kann er durchaus eine gute und wichtige Ergänzung im Kader sein – auch wenn er mal einige Wochen kaum spielt. Für die kolportierten 10 Millionen Euro ist das Risiko jedenfalls überschaubar.

Zumal es auch am eigenen Campus keine echte Alternative gibt. Chris Richards hat sich als möglicher Backup für Pavard noch am ehesten hervorgetan und gerade im letzten Jahr einen enormen Sprung nach oben gemacht. Sein Einsatz gegen Hertha BSC war die Belohnung dafür. Gerade im Stellungsspiel und im Spiel mit dem Ball hat er aber – auf Bayern-Niveau – Schwächen, bei denen es höchst fraglich ist, ob sie behoben werden können. Auch gegen Hertha zeigte sich, was in der 3. Liga ebenfalls ein Problem ist: Mit Ball braucht er zu lange für eine Entscheidung und spielt zu viele Sicherheitsbälle. Gegen den Ball lässt er sich zu leicht aus seiner Position ziehen, weil er zu ballorientiert agiert.

Sein Passspiel ist durchschnittlich, seine Vorstöße waren als Außenverteidiger meist sehr ungefährlich und auch unter Druck tat er sich oft schwer. Gegen Hertha konnte er immerhin drei sehenswerte Flanken beisteuern, die jeweils zu Toren (ein Abseitstor) führten. Seine Einstellung und seine Anpassungsfähigkeit sind vorbildlich. Trotzdem wäre es wohl fahrlässig gewesen, sich allein auf ihn zu verlassen – auch weil seine Stammposition eigentlich in der stark besetzten Innenverteidigung liegt. Sollte er sich entscheidend weiterentwickeln, sollte Sarr zumindest keine Hürde für ihn darstellen. Daher ist der Transfer des erfahrenen Franzosen durchaus wichtig für die Kaderkonstellation. Trotzdem bleibt die Frage, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, bei Dest ins Risiko zu gehen und eine angespannte Situation im Konkurrenzkampf in Kauf zu nehmen. Die Chance wäre gewesen, dass beide Spieler sich daran hochziehen. Aber es ist auch nachvollziehbar, dass die Bayern Pavard nach der letzten Saison das Vertrauen schenken.

Eric Maxim Choupo-Moting: Macht das überhaupt Sinn?

Auch beim nächsten Neuzugang gibt es viele Zweifel. Eric Maxim Choupo-Moting, bei Paris Saint-Germain allenfalls Ergänzungsspieler gewesen, kommt ablösefrei an die Säbener Straße. Es ist schon bemerkenswert, dass der mittlerweile 31-Jährige in seiner gesamten Karriere fast nie eine Ablösesumme generierte.

Die Eckdaten sind bei ihm auch nicht wirklich überzeugend: In 204 Bundesliga-Partien erzielte Choupo-Moting 45 Treffer, 21 weitere bereitete er vor – das macht alle 196 Minuten eine direkte Torbeteiligung. Diese Statistik ist bereits sehr selektiv, weil sie seine eher unerfolgreiche Zeit bei Stoke City und Paris Saint-Germain ausklammert und auf Jahre in der Bundesliga zurückgreift, in denen er seine bisher beste Phase hatte. Und trotz der Selektion überzeugt sie nicht so richtig.

Warum kommt er nun aber ausgerechnet zum Champions-League-Sieger nach München? Diese Frage stellen sich viele. Die Schlussfolgerung, er sei der einzig verfügbare Notnagel, ist aber gleichermaßen respektlos den handelnden Verantwortlichen und dem Spieler gegenüber als auch zu kurz gedacht.

So kann er den Bayern helfen

Choupo-Moting hat viele Qualitäten, die dem FC Bayern sehr gut zu Gesicht stehen können. Als Mittelstürmer bringt er eine gewisse Robustheit und Präsenz mit, die dem Rekordmeister ohne Robert Lewandowski fehlt. Mit 1,91 m Körpergröße ist er durchaus eine Erscheinung, die den einen oder anderen Gegenspieler auf sich zieht. Seine größte Stärke dürfte aber darin liegen, dass er nur sehr schwer zu berechnen ist.

Während bei anderen Spielern relativ klar ist, was sie als nächstes tun, hat Choupo-Moting eine Spielweise, die sich mit Worten kaum beschreiben lässt. Vielleicht trifft es „unorthodox“ hier ganz gut. Er ist der Mann für unerwartete Laufwege und Dribblings und traut sich Dinge zu, die sich andere womöglich nicht trauen würden.

Hier im Kopf schon bei den Bayern? Natürlich nicht, aber Choupo-Moting vergibt hier die große Chance auf den Ausgleich im Champions-League-Finale.
(Foto: MATTHEW CHILDS/POOL/AFP via Getty Images)

Gerade auf engem Raum gelingt es ihm damit immer wieder, durchzubrechen oder anderweitige Lösungswege zu finden. Diese technische Qualität macht ihn durchaus besonders, weil er damit gerade als Mittelstürmer Bälle festmachen, kontrollieren und verteilen kann. Joshua Zirkzee ist in seiner Entwicklung beispielsweise noch nicht weit genug, um diese Präsenz einzubringen.

Nicht Weltklasse, aber …

Von Choupo-Moting kann man das aber durchaus erwarten. Er ist erfahren, spielintelligent und begabt. Vor allem ist er auch sehr mannschaftsdienlich, spielt gern mal den vorletzten Passe und arbeitet viel fürs Team. Problematisch ist, dass die unorthodoxe Spielweise ihn manchmal sogar selbst zu überraschen scheint. Einige Ballverluste muss man wohl einfach in Kauf nehmen, weil er eben gern ins Risiko geht. Flick wird ihn dafür möglichst gut einbinden müssen.

Um den Schritt nach ganz oben zu machen, fehlte es ihm immer an Konstanz – gerade innerhalb der 90 Minuten. Choupo-Moting ist deshalb kein Spieler, der den Bayern in entscheidender Rolle die Champions League gewinnen wird. Bei Paris war er als Ersatzspieler aber immer da, wenn er gebraucht wurde. Nicht zuletzt sein wichtiger Auftritt gegen Atalanta bleibt den Franzosen und Thomas Tuchel in Erinnerung. Dass PSG mit ihm verlängern wollte, ist weitgehend bekannt.

Denn auch wenn die Meinungen über den Fußballer auseinandergehen, so sind sich alle einig, dass er als Mensch ein wichtiges Bindeglied für jede Kabine sein kann. Tuchel lobte ihn in den höchsten Tönen dafür, dass er bei Paris ein Schlüssel für den Zusammenhalt in der komplexen Kabine war. Choupo-Moting soll ein Typ sein, der mit jedem gut klar kommt und der seine Rolle innerhalb eines Teams akzeptieren kann. Für einen Kaderspieler des FC Bayern ist das eine sehr wichtige Qualität.

Der neue Perišić?

Öffentlich diskutierte Alternativen wie Mario Mandžukić haben oft genug für Probleme gesorgt, wenn nicht alles nach ihren Vorstellungen lief. Bei Choupo-Moting können sich die Bayern aber nahezu sicher sein, dass sie einen loyalen, ehrlichen und aufrechten Spieler erhalten.

Es gibt berechtigte Zweifel daran, ob er sein Bundesliga-Niveau von damals wieder erreichen kann. Mit seiner Erfahrung, seinem Potenzial und Flick als Trainer ist vorsichtiger Optimismus aber angebracht. Choupo-Moting ist flexibel einsetzbar, kann nicht nur Stürmer, sondern auch hängende Spitze oder Halbraumstürmer spielen. Das bedeutet, dass er auch mal auf links einrückend agieren kann, während der Linksverteidiger Breite gibt. Oder er spielt um Lewandowski herum in der Freigeistrolle von Thomas Müller.

Ähnlich wie Perišić vor einem Jahr ist Choupo-Moting eine kleine Übergangswette, die der FC Bayern verlieren könnte. Doch als ablösefreier Transfer ist das Risiko sehr gering. Auch wenn der Spieler in den Diskussionen bisher kaum gehandelt wurde, so macht seine Verpflichtung viel Sinn. Er kann der Offensivallrounder sein, den die Bayern durch den Abgang von Perišić schmerzlich vermissen – und gleichzeitig auch in schwereren Saisonphasen für gute Stimmung in der Kabine sorgen. Aber Vorsicht! Wer Choupo-Moting nur in einer Podolski-Rolle für die Kabine sieht, der unterschätzt ihn vielleicht gewaltig. So wie seine Spielweise oftmals sehr überraschend ist, so könnte er auch über die ganze Saison gesehen überraschen.

Thiagos Erbe: Mehr Jazz als Roca‘ n‘ Roll

Der Dritte im Bunde ist Marc Roca. Schon im vergangenen Sommer stand Roca auf dem Wunschzettel der Bayern, nachdem früh klar war, dass Rodri zu Manchester City wechseln würde. Am Ende wurde nichts aus dem Deal, weil Espanyol Barcelona zu hohe Forderungen hatte. 40 Millionen Euro sollen damals im Raum gestanden haben.

Es war die richtige Entscheidung der Bayern, diesen Preis nicht zu bezahlen. Zu unsicher war es, ob Roca gerade in der Defensivarbeit die notwendige Qualität für ein Top-Team mitbringen kann. Sein Stellungsspiel und seine Zweikampfführung waren ausbaufähig.

Jetzt, ein Jahr später, soll die Ablösesumme verschiedenen Medienberichten zu Folge 9 Millionen Euro betragen haben – exklusive einiger Bonuszahlungen, die die Summe wohl auf bis zu 15 Millionen Euro erhöhen können. In dieser Preisklasse ist Roca ein No-Brainer für den FC Bayern.

Technisch stark und schnell im Kopf

Der 23-Jährige verfügt gerade im technischen Bereich über vielseitige Fähigkeiten. Sein Passspiel ist geprägt durch viele Schnittstellenpässe, aber auch durch eine große Sicherheit. Unter Druck hat er hier und da mal Probleme bekommen, doch im schwierigen Umfeld von Espanyol Barcelona ist das nicht zwingend als große Schwachstelle auszumachen. Im Gegenteil: Dafür präsentierte sich Roca mit Ball meist sehr solide.

Eine grundlegende Fähigkeit für die Sechserposition bringt er ebenfalls mit: Er kann Spielsituationen gut lesen und vorausdenken, weil er ein gutes Gefühl für den Raum hat. Die Ruhe, die er ausstrahlt, wird dem Bayern-Mittelfeld im Vergleich zu Spielertypen wie Goretzka oder Tolisso gut zu Gesicht stehen, was keine Kritik an den beiden ist. Es ist lediglich wichtig, sich in einem Spiel wie gegen Hertha zuletzt auch auf einen weiteren Ruhepol neben Kimmich verlassen zu können. Goretzka und Tolisso haben hier schlicht andere Aufgaben. Ging Kimmich zuletzt vom Platz, wurde das Spiel schnell wild und unruhig. Roca kann hier Abhilfe schaffen.

Dennoch muss klar darauf hingewiesen werden, dass die Vergleiche zu Thiago hier stark hinken. Der Ex-Bayern-Star war mit 23 bereits weiter als Roca es jetzt ist und gerade mit seiner Entwicklungsgeschichte in München war er in den letzten Jahren eine tragende Säule des Bayern-Spiels.

Thiagos technische und strategische Fähigkeiten sind von den meisten Mittelfeldspielern der Welt unerreicht. Insbesondere die Körperfinten und kurzen Dribblings sind Besonderheiten, die Roca kaum in seinem Spiel vorweisen kann, die den Bayern aber schmerzlich fehlen.

Packt er in München den nächsten Schritt?

Der Vergleich ist dennoch unfair. Für sein Alter ist Roca schon recht weit und es ist ihm zuzutrauen, dass er beim FC Bayern einen weiteren Entwicklungsschritt machen kann. Das betrifft eine noch größere Dominanz im Spiel mit dem Ball, vor allem aber auch eine Weiterentwicklung gegen den Ball.

Marc Roca: Defensiv noch mit Schwächen, mit Ball aber mit riesigem Potential.
(Foto: LLUIS GENE/AFP via Getty Images)

Kleinere Fortschritte konnte er im letzten Jahr schon machen, aber in der Verteidigungsarbeit dürften ihm alle Konkurrenten in München noch etwas voraus haben. Ihm fehlt gegen den Ball vor allem noch die Weiträumigkeit, die beispielsweise Kimmich oder Goretzka haben und die für den Flick-Fußball so wichtig sind.

Für eine vergleichbar geringe Ablösesumme ist der Transfer aber ein absoluter Top-Deal. Roca hat alle Möglichkeiten, sich weiterzuentwickeln und wird mit seinen technischen Fähigkeiten eine wichtige Ergänzung für den Kader sein. Durch ihn kann Kimmich entlastet und auch das Loch durch Thiagos Wechsel zumindest ein Stück weit geschlossen werden.

Blockiert Roca die Entwicklung von Fein und Stiller?

Der Roca-Transfer stellt somit ebenfalls ein sehr geringes Risiko dar und macht aus sportlicher Sicht absolut Sinn. Kritik gibt es hier und da dafür, dass Adrian Fein und Angelo Stiller dadurch die Chance auf Entwicklung genommen wird. Bei beiden ist aber offensichtlich, dass Flick zunächst nicht, oder nur halbherzig mit ihnen plant.

Dass Stiller keine Rolle spielt, dürfte daran liegen, dass er als recht langsamer Spieler (noch) nicht in Flicks System passt. Seine Schwächen würden sich dort zu sehr offenbaren. Dass Stiller nicht mal bei den Profis trainiert, unterstreicht den Eindruck, dass Flick nicht mit ihm plant. Bei Fein zeigte sich zuletzt hingegen, dass er nicht so weit ist, wie man es in München gern gesehen hätte. Es wird davon ausgegangen, dass er noch verliehen wird.

Roca ist deshalb die perfekte Lösung und geht eher nicht zu Lasten dieser beiden Talente, weil sie erstmal ohnehin keine große Rolle gespielt hätten. Haben sie tatsächlich die Qualität, sich entscheidend zu entwickeln, werden sie es langfristig gesehen auch mit Roca im Kader schaffen, sich beim FC Bayern durchzusetzen.

Douglas Costa: Eine angemessene Hudson-Odoi-Alternative?

Douglas Costa muss man Bayern-Fans nicht mehr vorstellen. Der Brasilianer hatte damals einen tollen Einstand in München, konnte eine ganze Liga in seinen Bann ziehen. Sein Abgang war dann aber unrühmlich. Uli Hoeneß bezeichnete ihn als Söldner und warf dem Flügelspieler schlechtes Benehmen vor.

Umso absurder wirkt nun diese Leihe ohne Kaufoption. Auch Costa ist damit nur eine spontane Übergangslösung, allerdings eine mit kleinem Geschmäckle. Gerade weil er sich in Turin als Fußballer kaum weiterentwickelt hat.

Die andere Seite der Medaille ist, dass das temporeiche Spiel der Bayern ihm entgegengekommen könnte. Mit seiner Durchschlagskraft kann er insbesondere als Joker von der Bank nochmal jedem Gegner ordentlich weh tun. Costa ist ein guter Fußballer. Seine Entscheidungsfindung ist nach wie vor das große Problem.

Kann Douglas Costa an seine Glanzmomente beim FC Bayern damals anknüpfen?
(Foto: Shaun Botterill/Getty Images)

Sportlich kann er nur dann ein Mehrwert für die Bayern sein, wenn er seine Rolle im Team akzeptiert und sich im Vergleich zu seiner ersten Zeit in München unterordnen kann. Das wird der Knackpunkt sein, aber Flick ist bekannt dafür, mit solchen Spielern umgehen zu können.

Bayern zahlt dem Vernehmen nach keine Leihgebühr, dafür aber sein Gehalt. Der Deal ist damit sehr fair und in Zeiten von Corona angemessen. Costa ist zwar nur eine kurzfristige Lösung, aber als Alternative zu Hudson-Odoi durchaus ein legitimer Versuch. Oftmals wird dem FC Bayern vorgeworfen, auf dem Transfermarkt alternativlos und ideenlos zu agieren. Hier beweisen sie mit einer guten Übergangslösung, dass sie sich für einen Wunschspieler nicht über den Tisch ziehen lassen.

Generelle Einordnung: Clever gerettet, oder schlicht nicht Bayern-like?

Wie bereits im letzten Sommer ging beim FC Bayern vieles drunter und drüber. Zu ideenlos und ohnmächtig wirkten die Münchner, als der Wechsel von Thiago sich abzeichnete, zu lange zogen sich die Verhandlungen mit Dest. Zu spät kamen offensichtlich die Bemühungen, mit Schlüsselspielern zu verlängern, sodass diese unangenehme Situation erst entstehen konnte. Dementsprechend groß war die Enttäuschung vieler Fans bereits Wochen vor der Schließung des Transferfensters. Es entstand der Eindruck, dass aus viel Zeit wenig gemacht wurde.

Insbesondere der vermeintliche Ausverkauf war überraschend. Doch da muss differenziert werden. Der Transfer von Sven Ulreich war lange geplant, war es doch logisch, dass Alexander Nübel den Bankplatz hinter Neuer beanspruchen würde. Nur schien sich lange niemand zu finden, der Ulreich zu passenden Konditionen verpflichten wollte.

Letztendlich wurde berichtet, dass der Transfer zum HSV mit ordentlicher Unterstützung des FC Bayern zustande kam – anteilige Gehaltsübernahme, geringe Ablösesumme. Für den Klub ist das aber kein Problem. Statt Ulreich eine weitere Saison zu behalten und so Ärger mit ihm oder Nübel zu riskieren, der sich schnell auf die Kabinenstimmung auswirken kann, hat man für alle Parteien eine geeignete Lösung gefunden.

Martínez bleibt wohl doch, Cuisance geht

Die Geschehnisse um Javi Martínez sind hingegen etwas undurchsichtiger. Hier tut der FC Bayern nun womöglich doch sehr gut daran, den Basken noch eine Saison zu behalten, bevor man ihn ohne Ablöse verkauft. Selbstverständlich sind die Münchner dafür bekannt, ihren Spielern keine Steine in den Weg zu legen, aber angesichts der Lage im Mittelfeld und auch der Verletzungsanfälligkeit einiger Verteidiger könnte Martínez noch das eine oder andere Spiel im eng getakteten Kalender abgreifen. Gegen Dortmund machte er jedenfalls ein sehr gutes Spiel und auch Flick äußerte abermals den Wunsch, weiter mit ihm zu arbeiten. Als Führungsfigur und Mensch ist der für den Kader und die jungen Spieler sowieso wichtig, sportlich weiß man, dass Verlass auf ihn ist. Auch wenn er nicht zu 100 % in die Ausrichtung passt, weiß Flick, dass er ihn jederzeit bringen kann. In dieser Saison ist das nochmal wertvoller. Ein Wechsel erscheint jetzt unwahrscheinlich und auch eine Auflösung des Vertrags kommt eher nicht in Frage.

Dass mit Fein ein Mittelfeldspieler sehr wahrscheinlich nach Eindhoven wechselt, unterstreicht diese These. Beim FC Bayern hat der 21-Jährige in dieser Saison noch keine Chance. Das hatte sich bereits angedeutet. Eindhoven scheint als nächster Schritt ein sinnvolles Ziel zu sein und im nächsten Jahr kann er dann in München seinen dritten Anlauf starten. Die TZ erwartet eine baldige Verkündung des Deals.

Auch die Situation von Joshua Zirkzee und Mickaël Cuisance bedarf einer Einordnung. Zirkzee ist insbesondere körperlich noch nicht weit genug, um auf einen Spieler wie Lewandowski adäquat zu ersetzen. Das dürfte beim Transfer von Choupo-Moting eine Rolle gespielt haben. Der FC Bayern hat so hohe Ansprüche, dass er sich ein Entwicklungsjahr kaum erlauben kann. Dementsprechend wäre eine Leihe wohl konsequent. In den Niederlanden ist das Transferfenster noch ein paar Stunden offen und es besteht die Chance, dass Zirkzee noch zu Feyenoord verliehen wird.

Fraglich ist aber einerseits, ob das kurzfristig der richtige Partner ist und andererseits, ob es nicht mehr Sinn gemacht hätte, die nächsten Monate noch abzuwarten. Schließlich ist das nächste Transferfenster nicht allzu weit weg. Eine erneute Bewertung der Situation im Winter wäre deshalb vielleicht sinnvoller gewesen als die schnelle Leihe.

Gleichzeitig ist die Leihe jetzt aber die Chance auf regelmäßige Startelfeinsätze und seine Position im Kader ist auch nicht dauerhaft blockiert. Vielleicht gibt ihm diese Erfahrung den nötigen Push für die kommenden Jahre. Zumal die Leihe von Costa für weitere Optionen in der Offensive sorgt und Bayern Zirkzee nicht allzu sehr vermissen sollte.

Trotz einiger Abgänge sieht der Kader gut aus

Cuisance hingegen steckt in einer von außen kaum zu bewertenden Situation. Der talentierte Franzose bringt auf dem Platz Fähigkeiten mit, die dem Spiel des FC Bayern zweifelsohne gut zu Gesicht stehen würden. In seinen wenigen Einsätzen zeigte er mindestens in Ansätzen, dass er mit Tolisso bereits konkurrieren kann.

Die Probleme scheinen aber nicht sportlicher Natur zu sein. Anders ist es kaum zu erklären, dass Cuisance von Flick nicht ausreichend berücksichtigt wurde und sogar Musiala zuletzt eher im Kader stand als er. Bei bisher 328 Pflichtspielminuten für den FC Bayern lässt sich hier auch nur schwerlich von einer Reduzierung der Kaderbreite ausgehen. Der Transfer zu Marseille ist daher wohl zwangsläufig sinnvoll. Bleibt zu hoffen, dass er dort den Durchbruch schafft und es mittelfristig eine Option für den FC Bayern gibt, ihn zu guten Konditionen zurückzuholen. Es wird spekuliert, dass Cuisance zunächst auf Leihbasis wechselt und Marseille dann eine Kaufoption über 10 Millionen Euro hat. Das wäre ein ziemliches Geschenk der Bayern. Die Pressemitteilung der Bayern erwähnt hingegen keinerlei Kaufoption.

In der Theorie ist jede Position nun doppelt besetzt. Außerdem hilft die Polyvalenz einiger Spieler dabei, dem Trainer einige taktische Möglichkeiten zu geben.

Bei Betrachtung des aktuellen Kaders darf trotz der vielen gezeichneten Horrorszenarien aber durchaus ein Kompliment an die Kaderplaner ausgesprochen werden. In der Spitze hat sich der FC Bayern in den letzten Jahren sowieso sehr sinnvoll verstärkt, in der Breite hat man jetzt wieder mehr Optionen und einen insgesamt ausgewogeneren Kader mit passenderen Spielertypen als in der letzten Saison. Jede Position ist quasi doppelt besetzt, wenn man Musiala nach den guten Leistungen zuletzt zutraut, die eine oder andere Minute als Müller-Ersatz mitzunehmen. Das einzige Problem könnte sein, dass die Flügelangreifer allesamt recht anfällig für Verletzungen sind.

Der Thiago-Wechsel schmerzt zudem nach wie vor, aber durch die Transfers von Roca und Sarr kann Kimmich nun endgültig als Nachfolger an seiner Herausforderung wachsen, ihn zu beerben. Eine Bedingung dafür ist, dass Flick seinem Neuzugang auf der Rechtsverteidiger-Position mehr vertraut als es bei Odriozola der Fall war.

Gute Arbeit – unter Coronabedingungen

Wegen der Coronasituation war es gewiss keine einfache Aufgabe für den FC Bayern, den Kader mit möglichst wenig Ausgaben sinnvoll zu verstärken. Bruno Labbadia sprach im Rahmen der Partie seiner Mannschaft gegen Bayern davon, dass der Markt in Zeiten von Corona verrückt sei und die Bayern-Verantwortlichen ihm das bestätigt hätten. Auf dem Papier sollte diese Mannschaft in allen Wettbewerben konkurrenzfähig sein und das ist unter diesen Bedingungen positiv zu bewerten.

Genauso ist es ein positives Zeichen, dass der FC Bayern nicht auf die utopischen Forderungen anderer Klubs eingeht, sondern immer eine Alternative parat zu haben scheint. Statt Hudson-Odoi überbrückt man die Saison nun eben mit Costa und statt eines überteuerten Mittelfeldspielers bekommt Roca für eine angemessene Ablösesumme seine Chance. Auch Choupo-Moting ist als Option zu Perišić, für den Inter Mailand wohl mindestens 20 Millionen Euro verlangt haben soll, eine nachvollziehbare Wahl.

Die drei wichtigsten Baustellen scheinen nun erstmal geschlossen zu sein. Neben der so wichtigen Entlastung für Kimmich durch einen Rechtsverteidiger und einen kreativen zentralen Mittelfeldmann kam ein Offensivallrounder mit Choupo-Moting. Außerdem kann Costa ein Jahr lang den Platzhalter für einen weiteren jungen Flügelspieler geben – sei es Musiala, der zuletzt gut aufspielte, oder tatsächlich Hudson-Odoi im dritten Anlauf, oder gar noch jemand anderes.

Dennoch riecht vieles in diesem Transfersommer wieder nach Überbrückung und Notlösung, was eigentlich nicht der Anspruch des FC Bayern sein kann. Fakt ist aber auch, dass der FC Bayern insbesondere wirtschaftlich nicht richtig vorausplanen kann. Die fehlenden Einnahmen könnten sich theoretisch noch bis tief ins Jahr 2021 ziehen. Es wäre fahrlässig gewesen, auf große Shoppingtour um jeden Preis zu gehen.

Verständliche Kompromisse?

Vielleicht waren Kompromisse also nie verständlicher als in diesem Sommer. Wie gut sie sind, wird sich erst noch zeigen müssen. Zunächst aber dürfte man an der Säbener Straße aufatmen, dass Flick wieder gestandene Optionen im Kader hat. Und sollte selbst das nicht reichen, gibt es immer noch die Möglichkeit, Spielern vom Campus eine Chance zu geben – Richards und Musiala haben zumindest angedeutet, dass sie bereit sind, auf diesem Niveau dazuzulernen, wenngleich ihr Weg nach wie vor sehr weit ist. Auch das Wintertransferfenster ist nicht weit entfernt, wenngleich die Optionen dort stets begrenzt sind.

Es gab durchaus Zeiten, in denen der FC Bayern souveräner und schneller mit seiner Kaderplanung fertig war als in den letzten Jahren. Das Bild, das der Klub abgibt, ist für einen Champions-League-Sieger oftmals zu chaotisch und hektisch gewesen. Diese Kritik muss sich insbesondere der hauptverantwortliche Salihamidžić gefallen lassen. Einiges geschah in den letzten Wochen, Monaten, sogar Jahren nicht proaktiv, sondern als Reaktion auf etwas. Beispielsweise die spontanen Leihgeschäfte im letzten Sommer als Folge der Sané-Saga, oder die jetzigen Geschäfte als Folge des recht unerwarteten Summersales.

Langfristig muss es das Ziel sein, wieder selbst den Ton auf dem Markt anzugeben und nicht in Folge eines kleinen Ausverkaufs reagieren zu müssen. Gleichzeitig sollte in der Bewertung nicht vernachlässigt werden, dass die Reaktion in der letzten Saison mit Coutinho und Perišić retrospektiv nicht so schlecht war. Und vielleicht ist es in dieser Saison ähnlich. Immerhin hat sich das Warten bei Sané und Roca mit einem kräftigen Discount bezahlt gemacht. Bayern bekam seine Wunschspieler somit zu besseren Konditionen und die Geduld machte sich bezahlt. Das ist Salihamidžić definitiv anzurechnen.

Das Ergebnis lässt sich in einer komplizierten Zeit jedenfalls sehen und dass die Unruhe diesmal nicht durch seltsame öffentliche Auftritte verstärkt wurde, ist ebenfalls ein Fortschritt. Bis zum Schluss blieben die Verantwortlichen ruhig, gingen nicht jeden Wahnsinn mit. Letztendlich konnten sie einen Kader präsentieren, der den Ansprüchen des FC Bayern gerecht werden kann. Vieles wird aber auch davon abhängen, wie schnell und wie gut die Neuzugänge integriert werden können. Das lässt sich jetzt noch nicht bewerten. Nach altem Reschke-Ideal hat man jetzt aber wieder 20 Feldspieler auf Profiniveau, die um Torhüter und Jugendspieler ergänzt werden. Der Ex-Kaderplaner des FC Bayern sah das immer als optimalen Richtwert an.

Ausblick

Im Ausblick auf die nächsten Monate wird es auch darauf ankommen, die Spieler zu bewerten, deren Verträge 2021 auslaufen: Javi Martínez, Jérôme Boateng, David Alaba, Douglas Costa und Eric Maxim Choupo-Moting. Bei Costa ist die Situation sehr klar. Er ist ohne Kaufoption ausgeliehen und muss dann durch einen Neuzugang oder einen Spieler aus dem Campus ersetzt werden. Choupo-Moting dürfte im kommenden Sommer wieder durch Joshua Zirkzee ersetzt werden, wenn sich der Niederländer entsprechend entwickelt. Die Option, diese Konstellation noch ein Jahr zu verlängern, gibt es auch, sollte Choupo-Moting überzeugen.

Hinten ist der Ausblick trotz der großen Namen ebenfalls recht entspannt: Martínez sollte eigentlich diesen Sommer schon gehen, ist in der Kaderplanung längst durch ausreichend Mittelfeldspieler und Verteidiger ersetzt. Für Boateng könnte es die letzte Ehrenrunde beim FC Bayern werden. Mit Nianzou und Hernández haben die Münchner zwei junge Innenverteidiger, die nachrücken können. Sollte Alaba nicht doch noch verlängern, wird hier aber wohl trotzdem noch ein weiterer Transfer fällig sein.

Die Bayern haben sich wie schon 2019 Zeit verschafft. Zeit, die sie bis zum kommenden Sommer nutzen müssen, um nicht wieder in eine Situation zu kommen, in der sie reagieren statt zu agieren. Zeit, um die kommenden Baustellen bereits vorherzusehen und dementsprechend zu handeln.