Spielfeld der Herrenmenschen: Kolonialismus und Rassismus im Fußball – ein Gespräch mit Ronny Blaschke

Katrin Trenner 24.03.2024

Debatten um eine kritische Aufarbeitung des Kolonialismus und seiner bis in die Gegenwart reichenden Langzeitfolgen finden heute vornehmlich in der Politik und im Bereich Kunst und Kultur statt – wenn es etwa darum geht, geraubte Kulturgüter wieder an ihre Herkunftsländer zurückzugeben.

Autor Ronny Blaschke öffnet in seinem neuen und inzwischen sechsten Buch „Spielfeld der Herrenmenschen“ eine weitere Perspektive auf diesen Prozess; man merkt schnell: Ohne Kolonialismus wäre die globale Verbreitung des Fußballs gar nicht möglich gewesen – und der Kolonialismus war hochgradig von der Ideologie des Rassismus geprägt.

Fußball überwindet Grenzen, baut Brücken und verbindet Menschen – und zwar unabhängig von Glaube, Herkunft, Hautfarbe oder sexueller Identität. Soweit die romantische Vorstellung, die sich heute zahlreiche Sportfunktionäre auf die Fahne schreiben. Aber ein Blick in die Geschichte zeigt, wie sich die Kolonialmächte des Fußballs bedienten, um die kolonisierten Völker systematisch zu unterdrücken.

Dreieinhalb Jahre recherchierte Blaschke für sein im Verlag Die Werkstatt erschienenen Buch, reiste in unterschiedliche Länder, führte über 120 Interviews und Gespräche, um sich intensiv mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

Kolonialismus wirkt im Fußball noch nach

„In Indien etwa wollten britische Kolonialherren im 19. Jahrhundert ihre ‚Untertanen‘ durch Sport ‚zivilisieren‘“, schreibt Blaschke in der Einleitung. „In Algerien ließen französische Soldaten lange nur wenige Muslime mitspielen, um Neid zwischen den Einheimischen zu provozieren. In Mosambik rekrutierten portugiesische Behörden Schwarze Männer für ihre Armee und ihre Fußballklubs, um im internationalen Vergleich als freundlicheres Kolonialreich durchzugehen.“

Jedes Kapitel in Blaschkes Buch befasst sich mit einem Land: Brasilien, Portugal, USA, Indien, Namibia, Chile sowie Frankreich, England und Deutschland. „Ich musste mich in jedes Thema und jedes Land einarbeiten, habe viel gelesen und recherchiert“, sagt Blaschke im Gespräch mit Miasanrot. „Die Reisen waren sehr spannend und erfüllend. Es war ein großes Privileg, über den Fußball die Geschichte der einzelnen Länder zu erschließen und so viele tolle Menschen kennenzulernen.“

Dabei machte er auch immer wieder überraschende Entdeckungen. In der ehemaligen deutschen Kolonie Namibia etwa gibt es eine kleine, sehr wohlhabende Minderheit, die auch vier, fünf Fußballvereine in ihren Händen haben.

„Diese Vereine haben alle eine gute Struktur, aber das Nationalteam Namibia, für das ausschließlich Schwarze Spieler antreten, hat kein einziges vorzeigbares Stadion und muss in Südafrika spielen“, erzählt Blaschke. „An diesem Beispiel kann man sehr gut sehen, wie der Kolonialismus noch nachwirkt.“

Als eine indische Fußballmannschaft englische Soldaten besiegte

Auch war Blaschke nicht klar, was für eine große Rolle der Fußball in Indien spielt, verbindet man das Land in der öffentlichen Wahrnehmung doch eher mit Kricket. „Es war mir nicht bewusst, dass es beispielsweise in Kolkata eine große Leidenschaft für den Fußball gibt“, so Blaschke. „Es gibt dort Vereine, die älter sind als der FC Bayern, weil die Briten damals in Kolkata ihre Hauptstadt hatten.“

In seinem Kapitel über Indien, „Aussätzige im eigenen Land“, zeichnet Blaschke eindrucksvoll nach, wie im Jahr 1911 das erste Mal eine indische Fußballmannschaft des Vereins Mohun Bagan mit 2:1 gegen eine Auswahl britischer Soldaten gewann.

„Es erfüllt jeden Inder mit Stolz und Freude zu wissen, dass Reis essende, von Malaria geplagte, barfüßige Bengalis den Rindfleisch essenden, herkulischen, gestiefelten John Bull in diesem englischen Sport besiegt haben“, schrieb etwa die Zeitung „Nayak“ nach dem historischen Sieg. Dieser „magische Tag“ wird laut Joy Banerjee, dem Pressesprecher von Mohun Bagan, bis heute als ein prägendes kulturelles Ereignis in der Geschichte gefeiert.

Überhaupt: Die eindrucksvollsten Passagen aus dem Buch sind die, in denen Blaschke die Menschen zu Wort kommen lässt, mit denen er sich trifft. Das war ihm besonders wichtig. „Manchmal ist es vielleicht nicht unbedingt lesefreundlich, wenn man pro Kapitel zehn neue Namen einführt, aber ich wollte mir – als weißer Deutscher, der über Kolonialismus und Rassismus schreibt – die Autorität von den Menschen leihen, die viel tiefer in der Thematik drinstecken. Da muss ich mich nicht selbst als Experte aufschwingen, nur weil ich gerade mal zwei Wochen in dem jeweiligen Land zu Gast war.“

Rassistisches Denken und struktureller Rassismus tief im Fußball verankert

Es ist vor allem die Arbeit dieser Menschen, ihrer Gruppen und Netzwerke, die Aufklärungsarbeit leisten und sich engagiert für Antirassismus einsetzen, die Blaschke hoffnungsvoll stimmt: „Das ist erfrischend und gut, und man wünscht ihnen viel mehr Öffentlichkeit.“

Diese Stimmen sind wichtig, und dennoch werden sie viel zu selten gehört. Rassistisches Denken und struktureller Rassismus ist tief in der Fußballindustrie verankert, schreibt Blaschke: „Schwarze Fußballer sind als Spielgestalter, denen man Weitsicht und Intelligenz nachsagt, häufig unterrepräsentiert. Auf Positionen, die mit Kraft und Körperlichkeit verknüpft werden, sind sie überrepräsentiert. Neokoloniale Denkmuster finden wir in Fangesängen, Fernsehkommentaren und sogar in Videospielen.“

Und es geht noch viel weiter: In Sportredaktionen, als Funktionär*innen, Trainer*innen oder Schiedsrichter*innen finden sich selten nicht-weiße Menschen. Zu diesem wichtigen Thema gibt es bislang kaum Studien, so Blaschke, und auch wenige Forschende, mit denen man darüber sprechen kann.

Die große Frage lautet nun natürlich: Wie lässt sich der Fußball dekolonisieren? Blaschke sagt, dass auch er keine perfekten Antworten hat oder Patentlösungen anbieten kann. Zumindest aber möchte er mit seinem Buch die Leser*innen für das Thema sensibilisieren und im Idealfall eine Debatte anstoßen.

Dies ist letzte Beitrag der Artikelserie, die wir im Rahmen der Internationalen Wochen gegen Rassismus veröffentlichen. Im ersten Teil haben wir uns mit der Frage beschäftigt, welche Rolle der Fußball im Kampf gegen Rassismus spielen kann, im zweiten Teil gingen wir näher auf Initiativen ein, die sich mit dem Thema Rassismus und Antidiskriminierung auseinandersetzen. Auch in Zukunft werden wir das Thema weiter begleiten und darüber berichten. Es ist wichtig, nicht nur während Aktionswochen darauf aufmerksam zu machen. Wenngleich diese sich besonders gut dafür anbieten.

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