Scouting-Report: Das ist Tiago Dantas
Nach vier Transfers für die Profis hören wir Uli Hoeneß irgendwo ganz deutlich sagen: „Das war’s noch nicht!“ Am Dienstagmorgen stellen die Bayern einen weiteren Spieler vor: Vom ES Troyes AC kommt Rémy Vita (Linksverteidiger, 19 Jahre alt). Er hat einen Vertrag über drei Jahre unterzeichnet und wird die Bayern Amateure verstärken. Über Vitas Vita können wir an der Stelle wenig berichten, weil wir den Spieler nicht kennen.
Aber die Bayern sind in diesen Stunden dabei, noch einen weiteren Deal abzuschließen, der nochmal interessanter ist: Tiago Filipe Oliveira Dantas, kurz einfach Tiago Dantas. Der ebenfalls 19-Jährige (Jahrgang 2000) soll von Benfica zunächst auf Leihbasis kommen, berichten mehrere voneinander unabhängige Medien – allerdings sollen die Bayern eine Kaufoption haben, die sich bei um die 8 Millionen Euro befinden soll.
Dantas wäre ein typischer Transfer für den FC Bayern, seit Hasan Salihamidžić Sportdirektor respektive Sportvorstand ist: Ein junges Talent, das klar in das vorgegebene Spielerprofil einer Position passt, wie sich im Laufe der Analyse zeigen wird. Außerdem besteht kein finanzielles Risiko. Entwickelt sich Dantas nicht den Erwartungen entsprechend, geht er eben zurück nach Lissabon. Sind die Bayern zufrieden, ist die kolportierte Klausel kein großes Problem für den Klub.
Tiago Dantas: Die Eckdaten
Doch erstmal alles auf Anfang: Was für ein Spieler ist das überhaupt? Dantas ist im zentralen Mittelfeld zu Hause. Auf der halbrechten Acht absolviert er seine meisten Partien. Dantas durchlief von der U16 bis zur U20 alle Teams der portugiesischen Nationalmannschaft. In Benficas Jugendakademie konnte er besonders in der UEFA Youth League 2019/20 auf sich aufmerksam machen. In acht Partien erzielte er vier Tore und bereitete zwei weitere vor – im Finale scheiterte Benfica nur knapp an Real Madrid (2:3).
Dantas sammelte sogar schon Erfahrungswerte als Mannschaftskapitän, was ihm dabei helfen sollte, Verantwortung zu übernehmen und sich dementsprechend auf dem Platz zu verhalten. Für die Profis von Benfica spielte er noch keine große Rolle.
Beim FC Bayern soll er perspektivisch in den Profikader aufrücken, schreibt beispielsweise der Kicker. Dantas soll zunächst die Bayern Amateure verstärken, dort zugleich aber als Alternative für die Männer aufgebaut werden. Im Prinzip wäre er damit der direkte Cuisance-Ersatz, wenngleich der Portugiese erstmal erheblich mehr Zeit mit den Amateuren verbringen würde als sein Vorgänger zuletzt.
Ist Tiago der neue Thiago?
Nicht nur wegen seines Namens wird hin und wieder gern der Vergleich zu Thiago Alcántara gezogen. Dantas ist ein hochbegabtes Talent, das gut in ein Spielerprofil passt, das der FC Bayern unter Salihamidžić zwar definiert hat, das dem Kader aber abgeht.
Dantas hat seine Stärken vor allem in Phasen des Ballbesitzes. Durch seine technischen Fähigkeiten und seine Beweglichkeit ist er in der Lage, Gegenspieler auf dem Bierdeckel alt aussehen zu lassen. Auf engem Raum trifft er häufig gute Entscheidungen und schafft es so, das Pressing des Gegners ins Leere laufen zu lassen. Dabei helfen ihm seine Antizipation und sein Positionsspiel. Dantas fordert Bälle, bietet sich aktiv an und besetzt dabei klug die richtigen Räume.
Er ist im Spielaufbau eine Art Entlastung für den Sechser, weil er zwischen den Ketten des Gegners immer wieder Verbindungen zu seinen Mitspielern knüpft. Bekommt er den Ball, ist er in seinen Aktionen sehr variabel. Diagonale Dribblings zwischen die Linien und messerscharfe Pässe (flach, aber auch mal Chipbälle hinter die Abwehr) zeichnen ihn aus. Es macht geradezu Spaß, ihn mit dem Ball am Fuß zu sehen.
Durch seinen Zug zum Tor ist er auch an vielen Treffern direkt oder indirekt beteiligt. Dantas übernimmt gern die Initiative und leitet viele Angriffe ein oder veredelt sie. Was ihm dabei sehr hilft, ist sein Tempo – physisch, aber auch im Kopf. Er trifft nicht nur schnelle, sondern oft auch richtige Entscheidungen. Kann er sich im Dribbling Räume erarbeiten, ist er kaum zu stoppen.
Das sind seine Schwächen
Will man sich einen Weltklassespieler als Richtlinie suchen, geht die Tendenz aber eher zu Luka Modrić als zu Thiago. Insbesondere mit seiner Diagonalität im Spiel und dem Zug zum Tor erinnert Dantas an den Real-Star.
Doch Vorsicht ist bei so jungen Spielern immer geboten: Die Erinnerung an einen Top-Star alleine reicht nicht aus. Der Weg ist für Dantas nach wie vor sehr weit. Mit 1,70 Meter Körpergröße muss er vor allem an seiner Physis arbeiten. Die fehlende Körperlichkeit beeinträchtigt ihn sowohl in Zweikämpfen gegen als auch mit dem Ball.
Gerade in der 3. Liga müsste er sich deshalb in vielen Situationen umstellen. In Deutschland ist das Spiel geprägt durch viele Zweikämpfe und aggressives Pressing. Das würde für Dantas ein großer Unterschied sein.
Im Spiel gegen den Ball wirkte der 19-Jährige schon in Portugal nicht wirklich stabil. So gut sein Positionsspiel in Ballbesitz ist, so nachlässig war sein Stellungsspiel oftmals ohne Ball. Darüber hinaus zeigte er klare Schwächen im Timing seiner Zweikämpfe. Positiv herausstellen lässt sich, dass er viel fürs Team arbeiten will und sich dementsprechend auch ohne Ball reinhängt. An seiner Zweikampfführung und dem Stellungsspiel wird aber zu arbeiten sein.
Seine Rolle beim FC Bayern
Für die Amateure kann er dennoch ein sehr wertvoller Spieler sein. Vieles hängt dort im Mittelfeld von Angelo Stiller ab, auf den sich die Gegner zunehmend einstellen können. Mit Tiago Dantas hätten die Amateure einen guten Sportfreund für Stiller, der ihn entlasten könnte. Seine Qualitäten im Dribbling und mit dem Ball allgemein wären wertvoll für einen zuletzt recht unstrukturiert und zäh wirkenden Ballvortrag.
Dantas könnte sich in der 3. Liga perfekt an das fußballerische Klima in Deutschland gewöhnen und wichtige Erfahrungen auf Profiniveau sammeln, um sich auf seine eigentlich geplante Aufgabe bei der ersten Mannschaft vorzubereiten.
Sollte er tatsächlich kommen, wird vieles damit stehen und fallen, wie schnell sich Dantas an den Fußball in Deutschland anpassen und sich selbst in Sachen Körperlichkeit und Zweikampfverhalten weiterentwickeln kann. Ohne Frage wäre der Portugiese aber isoliert betrachtet ein großartiger Transfer für den FC Bayern. In seiner Altersklasse zählt Dantas zu den vielversprechendsten Spielern auf der Achterposition. Noch ist er ein Versprechen an die Zukunft. Aber selbst wenn er dieses nicht einhalten könnte, wäre das Risiko für die Bayern überschaubar.
Kritik: Blockieren die Bayern ihre eigenen Talente?
Wobei. Ein nennenswertes Risiko gäbe es schon. Es gibt nämlich einen Spieler, der in seiner Altersklasse ebenfalls zu den besten gehört und vom Profil her gar nicht so unähnlich zu Tiago Dantas ist. Torben Rhein ist einer dieser Spieler am Campus, in den die Bayern große Hoffnungen legen. Er soll zukünftig wieder jemand sein, der den dauerhaften Sprung zur Profimannschaft packt und dort die Generation der Spieler aus der eigenen Jugend beerbt.
Auch für ihn ist der Weg noch selbstredend sehr weit, aber seine Chancen auf einen Durchbruch werden sicher nicht größer, wenn man mit Dantas einen Spieler für seine Position verpflichtet, der ihm die Entwicklung nicht einfacher macht.
Nun geht es auch nicht darum, den Jugendspielern immer nur den roten Teppich auszurollen. Konkurrenzkampf spielt eine wesentliche Rolle auf dem Weg nach ganz oben. Man könnte also argumentieren, dass Spieler wie Rhein ihren Weg gehen werden, wenn sie die Qualität haben.
Rheins Vertrag läuft aus
Doch wer selbst mal in einem Fußballklub (fast schon egal auf welchem Niveau) tätig war, der weiß, dass es Unterschiede in der Behandlung zwischen externen Zugängen und Jugendspielern gibt – auf nahezu allen Ebenen. Und auch wenn Rhein selbst 2017 aus Berlin kam, so hat er ähnlich wie Alaba damals dennoch den Status eines Bayern-Jugendspielers, weil er entscheidende Entwicklungsschritte in München vollzog.
Rheins Vertrag läuft im nächsten Sommer aus. Allein in der Bundesliga dürften nahezu alle Klubs sehr daran interessiert sein, einen solchen Spieler unter Vertrag zu nehmen. Es liegt an den Bayern, ihm jetzt eine Perspektive zu eröffnen, die trotz eines möglichen Dantas-Transfers überzeugend ist. Andernfalls könnte die Geschichte auch unschöne Folgen für den Klub haben.
Sowohl Salihamidžić als auch Oliver Kahn haben mehrfach betont, dass es das große Ziel sei, den nächsten Thomas Müller zu finden – eine Identifikationsfigur aus dem eigenen Jugendbereich. Gerade bei den Amateuren und den oberen U-Mannschaften besetzen aber häufig Spieler die Positionen, die mit Müller nicht viel gemeinsam haben, weil sie erst spät über Scouting dazu geholt wurden. Dantas wäre da nur eines von vielen Beispielen.
Scouting ist sicher ein wesentlicher Bestandteil der Jugendarbeit. Wenn dadurch aber Talenten wie Rhein der Weg blockiert wird, wäre das exakt das Gegenteil von dem, wofür der Campus eigentlich stehen soll. Man darf dementsprechend gespannt sein, wie sich die Lage im konkreten Fall um Rhein und Dantas entwickeln wird.