Miasanrot-Awards: Wand der Saison 2020/21
Okay, okay, zugegeben: Dieser Titel war nicht geplant oder vorgesehen. Manuel Neuer ist weder für die Auszeichnung des besten Nachwuchsspielers, noch Neuzugangs qualifiziert. Als er also in der internen Wahl der Redaktion zum Spieler der Saison überraschend deutlich unterlag, hieß es eigentlich: Leider kein Preis für dich dieses Jahr, Manuel. Aber das wollte ich einfach nicht akzeptieren, also verleihen wir den außerordentlichen Award der Wand der Saison.
Die beste Phase des womöglich Besten aller Zeiten
Warum ich so erpicht darauf war, dass Manuel Neuer dieses Jahr einen Individualpreis zu bekommen hatte, ist leicht erklärt. Es herrscht weltweiter Konsens darüber, dass Manuel Neuer einer der besten Torhüter der Fußballgeschichte ist. Weltweit wird er dafür geehrt, wie er das Anforderungsprofil eines Topkeepers um mehrere Aufgabenpools und Fähigkeiten erweitern konnte.
Und dafür, dass er schon vor dieser Saison diesen Ruf hatte, erreichte er zwischenzeitlich nochmal ein Niveau, welches in meinen Augen selbst er bislang noch nie zu erreichen vermochte. Die Phase von August 2020 bis zum Januar war nach meinem Dafürhalten nicht weniger als die beste Phase der Karriere Manuel Neuers. Die beste Phase des womöglich besten Torhüters der Geschichte.
Ich würde hier sogar noch einen draufsetzen und die einsame Position des Torwarts verlassen um auch alle Feldspieler ins Boot nehmen. Im Herbst und Winter keuchten die Feldspieler der Welt unter der Last des Corona-Kalenders. Überall waren Spiele, konstante Leistungen gab es selten. Selbst ein Lewandowski machte zwar weiterhin munter Tore, klinkte sich aber weniger in das Spiel ein, wie er es noch im Jahr zuvor tat.
Nur Manuel Neuer brillierte alle drei Tage in egal welchem Wettbewerb. Der gute Freund dieses Blogs Lukas Tank prägte auf seiner eigenen Suche nach den besten Spielern ihrer Zeiten einst den Begriff von transcending world-class, der Transzendierung der Weltklasse. Sprich, auf die Weltklasse nochmal einen draufzusetzen. Vom August bis Januar habe ich weltweit genau einen Spieler gesehen, dessen Leistungen in allen Bereichen über der simplen Latte Weltklasse hingen und der konstant Woche für Woche unfassbares zeigte: Manuel Neuer.
Mit Hand…
Zum einen haben wir hier die klassischste Disziplin des Torwartspiels, das Toreverhindern. Auf den ersten Blick hat der FC Bayern eine stark unterdurchschnittliche Saison gespielt. Grundsätzlich hat der FC Bayern mit 44 Gegentoren natürlich eine unterdurchschnittliche Saison gespielt, doch sollte man sich davon bei der Leistungsbewertung Neuers nicht beirren lassen. Jeder, der gerade die Hinrunde der Saison noch vor Augen hat, wird sich daran erinnern, wie der FC Bayern eher noch erstaunlich wenige Gegentore kassierte – eben wegen Manuel Neuer. In fast jedem Spiel -und das ist keine Übertreibung- rettete er seine oft vogelwilde Defensive mit einem gehaltenem Unhaltbaren.
Gegen Sevilla kurz vor Schluss bewahrte er dabei sogar das sagenhafte Sextuple. Seine Parade hier ist besonders beispielhaft, weil es alles in Neuers klassischem Torwartspiel kombiniert. Über 80 Minuten hatte er hier kaum einen Schuss halten müssen, doch dann bricht nach einem Bayern-Standard Sevilla durch und es ist klar, dass es zu einem Eins-gegen-Eins kommt. Neuer erkennt, ein Herauskommen wäre hier Harakiri, sammelt sich also breitbeinig in perfekter Distanz zu seinem Tor – nicht zu weit entfernt um überlupft zu werden, aber exakt so, dass er den Winkel bestmöglich deckt. Er bietet bis zum Schluss nichts an und zwingt den Stürmer so zum Handeln, um dann den ganzen angestauten Fokus in einer Weltklasseparade zu entladen.
Ein paar Tage später sollte Erling Håland nach einer ganz ähnlichen Szene im nationalen Supercup noch verdattert anerkennen, er hätte gegen jeden anderen Torhüter der Welt an jenem Tag getroffen.
Kleine Statistik-Eskapade
Auch statistisch spiegelte sich dies wider. Vorsicht, das hört sich jetzt komplexer an, als es eigentlich ist: Der so genannte Post-Shot-Expected-Goals-Minus-Goals-Allowed-Wert ist die Relation zwischen Expected Goals von Abschlüssen und den real kassierten Toren. Mit dem Akronym PSxG-GA zeigt er uns auf 90 Minuten berechnet eigentlich ganz einfach an, wie viel mehr oder weniger ein Keeper kassiert, als die Abschlüsse es erwarten lassen würden.
Für gewöhnlich pendeln sich richtig gute Keeper hier über eine Saison irgendwo um Null ein, Wolfsburgs stabiler Koen Casteels etwa wird hier über die abgelaufene Bundesliga-Saison mit +0,04 gelistet, während in Spanien Marc-André Ter Stegen mit -0,03 etwas unterdurchschnittlich einläuft.
Ende November hatte Neuer hier zwischenzeitlich unfassbare +0,41 pro 90 Minuten. Das heißt nichts anderes, als dass er auch statistisch fast alle zwei Spiele genau ein Tor mehr verhindern konnte, als es die Qualität der Abschlüsse eigentlich hergeben würden.
Zum Vergleich mit einer gemeinhin als schwach geltenden Neuer-Saison: In der gesamten Saison 2018/19 kam er hier auf -0,21.
… Und Fuß
Besonders schön an dieser Saison war auch, dass Manuel Neuer endlich wieder klassische Neuer-Fähigkeiten zeigen konnte. Für seine Ausflüge vor sein Tor, sowie präzisen Pässe wurde er berühmt, doch unter konservativen Trainern wie Carlo Ancelotti und Niko Kovač sah man dies nur ausgesprochen selten. Hansi Flick allerdings spielte wieder auf der gesamten Klaviatur von Neuers Tönen.
Beinahe in jedem Spiel ritt er auf der Rasierklinge mit waghalsigen Libero-Klärungen, erst in der Rückrunde kamen da Fehler dazu. Und bei der Vielzahl Klärungen in letzter Sekunde, war das nur zwangsläufig. Dazu war er auch so entscheidend beteiligt wie selten zuvor im Passspiel seines Teams. Vorbei waren die Zeiten, als manch einer spöttisch nach seiner Verletzung Neuer mit Ball am Fuß mit Oliver Kahn verglich.
Hansi Flicks hohe Linie mit Fokus auf einen Torspieler als erster Spielgestalter kam auch so an seine Grenzen. Ohne Neuer mit all seinen Facetten an Fähigkeiten, wäre sie vollkommen zerbrochen.
Rückrunde
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass er in der Rückrunde von dem ganz hohen Niveau des Saisonbeginns etwas abfiel. Betrachten wir dieselbe Statistik wie weiter oben, fällt der saisonale Wert mit der Rückrunde knapp unter +0,1 (womit er immer noch der beste Bundesliga-Keeper ist). Selbst in einem großen Champions-League-Spiel packte er unüblicherweise mal daneben. So etwas wie beim 0:1 gegen PSG, sieht man jedenfalls gerade in Topspielen sehr selten von ihm.
Es war insgesamt alles andere als eine schwache Rückrunde, er fiel nicht von der (Über-) Weltklasse ins Mittelmaß. Es war mehr der Abstieg vom Halbgott zum sterblichen Heros. Noch immer sehr gut, aber ich habe weiter oben schon bewusst den Zeitraum August bis Januar gesondert herausgestrichen.
Weit mehr als ein Comeback
Zur Geschichtsschreibung Manuel Neuers in dieser Phase seiner Karriere gehört, dass mit dieser erneuten Leistungsexplosion ja niemand rechnen konnte. Es ist kaum mehr als eineinhalb Jahre her, als Uli Hoeneß schimpfte, die Westpresse würde Ter Stegen zur deutschen Nummer Eins schreiben. Eineinhalb Jahre, als man ihm einen klaren Qualitätsverlust zu seiner Zeit vor den Verletzungen unterstellte.
Dass Neuer sich nach entsprechender Zeit wieder fangen würde, überrascht dabei gar nicht so sehr. Dass man aber leise nickt, wenn Joachim Löw jetzt meint, Neuer wäre besser als je zuvor, damit konnte wirklich keiner rechnen. Mit 35 stabilisieren sich Keeper höchstens, wer verbessert sich bitte noch?
Wir befinden uns eben in einem außerordentlichen Akt der Karriere eines außerordentlichen Torwarts. Fast mag man dem verwöhnten Bayern-Publikum zurufen: Gewöhnt euch nicht an diesen Wahnsinnigen im Tor! Nichts was dieser Mann leistet, ist noch normal!