Matthijs de Ligt beim FC Bayern: Vom Abwehrboss aufs Abstellgleis?
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Als Yann Sommer sich mit dem Ball am Fuß einen Tanz gegen mehrere Gegenspieler von Paris Saint-Germain erlaubt, sehen viele FCB-Fans in der Arena und vor den TV-Geräten schon wieder ihre Champions-League-Träume zerbrechen. Es ist die 38. Minute in einem Achtelfinale, das trotz eines 1:0-Hinspiel-Siegs der Münchner auf der Kippe steht.
Vollkommen ohne Not channelt der Schweizer seinen inneren Manuel Neuer und schwingt das Tanzbein. Es kommt, was viele schon nach dem Auftaktschritt ahnen: Ballverlust. Vitinha bekommt die Kugel und muss nur noch ins leere Bayern-Tor einschieben. Die Führung für Paris, die Wende im Duell um den Viertelfinaleinzug und auch das Ende für Julian Nagelsmann?
Nicht alle Superhelden tragen einen Umhang. Matthijs de Ligt erkennt die Situation frühzeitig, sprintet in Richtung Torlinie und grätscht den laschen Schuss des Portugiesen in letzter Sekunde, gar in letzter Millisekunde ab. Oft sind es die Offensivszenen, die im Fußball als entscheidend und besonders einprägsam in die Geschichte eingehen.
Denkt man zurück an dieses Achtelfinale, so ist es die Grätsche des Niederländers, die ganz oben auf der Liste an Highlights steht, an die man sich erinnert. Anlässlich des Jahreswechsels spielte der FC Bayern die Szene auf seinen sozialen Kanälen nochmal rauf und runter. Eine Grätsche, die einem Kunstwerk gleicht.
Matthijs de Ligt: Erst Spieler der Saison, dann Abstellgleis?
Nagelsmann muss wenig später dennoch gehen. Doch für den Moment kann de Ligt ihn retten. Ohnehin ist es eine Saison, in der der Neuzugang von Juventus Turin zu überzeugen weiß. In Freiburg schweißt er humorlos einen Schuss aus mehr als 20 Metern in den rechten Knick. Über weite Strecken der restlichen Saison überzeugt der heute 24-Jährige mit resolutem Zweikampfverhalten und einer Aura, die dem gesamten Team Sicherheit zu geben scheint.
Im Sommer 2023 kürt unsere Redaktion den Innenverteidiger zum Spieler der Saison. Einer der wenigen Ligt-Blicke in einer Saison, die sonst zu Recht viel Kritik erhält. Vom neuen Abwehrboss ist die Rede. Doch der Aufstieg hält nicht lange an.
In dieser Saison kommt de Ligt erst auf 435 Minuten, 45 davon im Supercup. Weite Teile der Vorbereitung verpasst der ehemalige Ajax-Profi verletzt, weshalb er hinter Neuzugang Min-jae Kim und Dayot Upamecano nur noch dritte Wahl unter Thomas Tuchel ist. Dieser betont mehrfach, dass es um Geduld gehe und seine aktuelle Wahl recht eindeutig sei.
Doch de Ligt kämpft sich zurück in die Startelf, weiß darum, dass der Kader auf seiner Position sehr dünn ist. Gegen den VfL Bochum spielt er 45 Minuten, erzielt sogar ein Tor. Wegen eines Schlags verpasst er die kommenden Spiele erneut. Auch sein abermaliges Comeback ist nur von kurzer Dauer. Wegen eines Innenbandanrisses im Knie muss er nahezu den kompletten Rest der Hinrunde aussetzen. Erst gegen den VfL Wolfsburg darf er im letzten Spiel des Kalenderjahres nochmal für 27 Minuten auf den Rasen.
FC Bayern: Wie gut ist Matthijs de Ligt?
So schnell es beim FC Bayern für Spieler bergauf gehen kann, so schnell kann es auch wieder bergab gehen. Die Kritik an de Ligt ist gewachsen, obwohl er rein fußballerisch kaum Angriffsfläche geboten hat. Medial wird spekuliert, dass sich Tuchel auch einen Verkauf des 43-fachen Nationalspielers vorstellen kann. Es werde ein Abwehrboss gesucht, der gleichzeitig in der Lage sei, das Spiel mit dem Ball zu gestalten.
Doch wie sinnvoll wäre es, de Ligt nach so kurzer Zeit schon wieder fallen zu lassen? Schon ein Blick auf die Zahlen von FBref zeigt eine gewisse Ambivalenz. Gegen den Ball ist sein Spiel von enormer Qualität geprägt – wenn man die Saison 2022/23 als Richtwert seiner Leistungsfähigkeit betrachtet. Knapp über 71 Prozent seiner Tacklings waren damals erfolgreich. Zum Vergleich: Kim kommt in dieser Saison auf knapp über 56 Prozent, Upamecano auf etwas über 57 Prozent.
Auch seine Quote gegen dribbelnde Gegenspieler war mit 62,5 Prozent deutlich stärker als jene von Kim (43,8 Prozent) und Upamecano (55 Prozent) jetzt. Etwas schwächer ist er hingegen in der Luft – 60 Prozent stehen hier jeweils rund 71 Prozent bei seinen Kontrahenten gegenüber. Dennoch stützen die Zahlen die These, dass de Ligt ein unglaublich guter Verteidiger ist.
Sein Spielstil hat dem sonst recht hektisch daherkommenden Fußball unter Nagelsmann gutgetan. Denn anders als Kim, der viel nach vorn verteidigt und proaktiv agiert, löst de Ligt viel über sein Spielverständnis und das richtige Timing. Der Koreaner kommt in dieser Saison auf über zwei abgefangene Pässe pro 90 Minuten, de Ligt in der vergangenen Spielzeit nur auf 0,8.
Eine Wertung fällt hier schwer, beide Stile haben ihre Vorteile und ihren Nutzen. Tuchel ist es in dieser Saison auch ohne de Ligt gelungen, die Defensive augenscheinlich zu stabilisieren. Doch Upamecano und auch Kim agierten dabei alles andere als fehlerlos. In allen Wettbewerben gab es Spiele, in denen sie überfordert wirkten. Kims aggressive Spielweise half dem Team oft, führte hin und wieder jedoch zu Gegentoren. Upamecanos kaum zu erklärende Totalausfälle sind mittlerweile bekannt.
Matthijs de Ligt: Erklären Zahlen seine Situation beim FC Bayern?
Defensiv könnte sich de Ligt als stabilere Lösung erweisen – und auch als der Leader, den Tuchel angeblich für seine Defensive sucht. Doch womöglich ist das Problem nicht die Abwehrarbeit.
Der Vergleich zwischen de Ligts Daten aus der Saison 2022/23 und den aktuellen Zahlen von Kim und Upamecano zeigt, dass das Aufbauspiel des Niederländers ausbaufähig ist. 71,2 erfolgreiche Pässe pro 90 Minuten sind deutlich weniger als Kims 94,9 oder Upamecanos 89,3. De Ligt kam durchschnittlich auf einen vertikalen Raumgewinn von 5,3 Metern pro Pass. Das ist knapp mehr als bei Upamecano (5 Meter pro Pass), aber weniger als bei Kim (5,6 Meter pro Pass). Die relativen Zahlen verschweigen in dem Fall, dass er absolut deutlich unterlegen ist: Kim kommt auf fast 573 Meter pro 90 Minuten, Upamecano auf rund 483 und de Ligt eben nur auf 420.
Der Niederländer wählt häufiger den sicheren Weg, während seine Kollegen eher mal das Risiko suchen. Es gibt eine Statistik, die misst, wie oft ein Spieler mit dem Ball am Fuß einen vertikalen Raumgewinn von mindestens zehn Metern erzeugt – die also Rückschlüsse über das Verhalten beim Andribbeln zulässt. De Ligt kommt pro 90 Minuten auf einen ähnlichen Wert wie Kim (0,64 zu 0,62), ist aber deutlich hinter Upamecano (1,03). Kim kommt pro 90 Minuten zudem auf zehn Meter mehr Raumgewinn.
FC Bayern: Hier muss Matthijs de Ligt besser werden
Ein klares Fazit anhand von Zahlen zu ziehen, fällt schwer. Jeder der drei Verteidiger hat in irgendeinem Bereich die Nase vorn. Womöglich sucht Tuchel nach dem perfekten Komplettpaket. Keiner im aktuellen Bayern-Kader konnte bisher nachweisen, das zu sein.
Bei de Ligt fällt auf, dass er defensiv sehr stark ist, mit dem Ball aber Luft nach oben hat. Denkt man zurück an seine Ausbildung bei Ajax, muss hier aber von Entwicklungspotenzial und nicht zwingend von einer dauerhaften Schwachstelle gesprochen werden. Der 24-Jährige zeigt gute Ansätze, aber auch zu wenig Vertrauen in diese.
Dass Tuchel bisher mit Kim jemanden präferiert, dem ebenfalls enorme Defenisvstärke nachgesagt wird, der aber minimal auffälliger im Passspiel ist, erscheint logisch. Upamecano ist zudem der Bayern-Innenverteidiger, der die mit Abstand besten Zahlen im Aufbauspiel liefert.
Und trotzdem ist der Spielaufbau eine der großen Baustellen. Hier hatten die Münchner die größten Probleme. Defensiv sind sie weitestgehend stabil und scheinen sich trotz des Ausrutschers in Frankfurt zunehmend zu finden. Doch wer ist in der Lage, gute Lösungen gegen hohes Pressing zu entwickeln? De Ligt war bisher nicht die eindeutige Antwort darauf.
Doch er ist auch der einzige Innenverteidiger des FCB, der in der ersten richtigen Tuchel-Saison einen Großteil der Vorbereitung und der Pflichtspiele verletzt verpasste.
FC Bayern: Ist Matthijs de Ligt der reifste Innenverteidiger?
Die Bayern sollten auch deshalb davor gewarnt sein, das Potenzial von de Ligt zu unterschätzen. „Fußball ist keine Mathematik“, sagte ein bekannter Bayern-Funktionär einst. Die Statistiken und Zahlen erzählen auch bei ihm maximal die Hälfte der Geschichte.
All das, was ihn im Sommer noch zum Miasanrot-Spieler der Saison machte, ist nicht plötzlich weg. Seine unbedingte Lust auf Abwehrarbeit kombiniert mit einem taktisch sehr klugen Stellungsspiel ist etwas, das dem FC Bayern derzeit trotz guter Defensivkennzahlen fehlt.
Schaut man auf die negativen Ausreißer der bisherigen Saison, könnte de Ligt vielleicht doch noch ein entscheidendes Puzzleteil im System von Tuchel werden. Weder Kim noch Upamecano haben es bisher geschafft, so leistungsstabil aufzutreten wie der Niederländer in der vergangenen Saison.
Es liegt nun an ihm, diese Form wiederzufinden – und dafür zu sorgen, dass seine Grätsche gegen Paris Saint-Germain kein Gemälde für das bayerische Antiquariat ist, sondern nur das erste von vielen Kunstwerken in einer Karriere, die noch deutlich höher hinausgehen kann. Weil Kim an der Asienmeisterschaft teilnimmt, wird de Ligt in jedem Fall seine Chance bekommen.
Der FC Bayern sollte sich an die Leistungen des Innenverteidigers erinnern, die Anfang 2023 noch dafür gesorgt hat, dass die Saison nicht allzu katastrophal endete. Denn auch wenn das ein objektiv nur schwer prüfbares Kriterium ist: Matthijs de Ligt hinterlässt mit seiner Spielweise einen deutlich reiferen Eindruck als seine Teamkollegen und Kontrahenten.
Mehr zu Matthijs de Ligt gibt es in unserer Kurve.
Das Titelbild wurde illustriert von unserem neuen Teammitglied Sophia Hübner. Sophia kümmert sich ab sofort um Themen wie Social Media und Grafikdesign in unserer Redaktion. Wir begrüßen sie damit auch ganz offiziell in unserem Team.