Mailbag: Final-Edition

Maurice Trenner 23.08.2020

Alex, Daniel und Maurice haben sich zusammen gefunden, um zu erörtern, ob das Finale ein Schützenfest wird, was das spannendste Duell auf dem Platz ist und wer der Münchner Matchwinner werden könnte.

Frage 1: Mit Paris Saint-Germain und dem FC Bayern treffen die beiden besten Offensiven der diesjährigen Champions-League aufeinander. Sehen wir ein Schützenfest oder doch eher ein typisches low-scoring Finale?

Alex: Ich würde sagen, wir sehen sehr frühe Tore (Plural) und dann beruhigt sich das Spiel etwas, weil keine der beiden Mannschaften ein Schützenfest riskieren möchte. Tore auf beiden Seiten, und potentiell viele, sehe ich trotzdem voraus. Hansi Flick hat bei den Bayern sehr konsequent eine sehr hohe Positionierung aller Spieler etabliert. Nicht selten steht die defensive Viererkette beim Umschalten nach Ballverlust auf Höhe der Mittellinie. Manuel Neuer hat im Prinzip oft eine ganze Spielhälfte für sich. Ich mag diesen Ansatz sehr, weil er Souveränität, Klasse und diese gewisse arrogante Lässigkeit ausstrahlt – und die Bayern können ihn auch spielen, weil sie die notwendige Geschwindigkeit haben – aber er ist nicht ganz ohne Risiko. Im schlechtesten Fall starten die Bayern so wie gegen Barca und Lyon und sie lassen sich zum Anfang des Spiels gleich mehrmals überlaufen bzw. mit einem langen Ball über die Kette oder in die Zwischenräume aushebeln. Gleichzeitig stellt sich Paris aber dank Neymar und des für den Spielstil der Bayern noch gefährlicheren Mbappé cleverer an und nutzt seine Chancen. Dann müssen die Bayern agieren. Selbst wenn sich Paris dann zurückziehen sollte, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie ohne Gegentor auskommen werden. Die Bayern erzielen in dieser Champions-League-Saison durchschnittlich gut vier Tore pro Spiel. Die Hintermannschaft der Pariser ist nicht schlecht, aber die Bayern haben so viele unterschiedliche Waffen in ihrem Offensiv-Arsenal – vermutlich ist das bayerische Angriffsspiel momentan das variabelste im Weltfußball – dass PSG definitiv Tore (wieder Plural) wird hinnehmen müssen. Eine „cagey affair“, bei der beide Mannschaften abwartend oder auf Halten spielen und sich den Ball im Mittelfeld ruhig hin- und herschieben, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Kurzum, ich glaube an etwas in der Größenordnung 3:2 oder 4:1 oder ähnliches. 

Sehen wir am Sonntag solche schönen Jubelszenen? Wenn es nach Alex geht gibt es für beide Mannschaften viele Gründe zum Jubeln.
(Foto: FRANCK FIFE / POOL / AFP)

Daniel: Ich glaube an ein Mittelding. Nicht wirklich ein Schützenfest wie ein 4:3, aber auch kein klassisches 2:1. Bayerns hohe Defensivlinie verspricht von außen betrachtet Gegentore, während PSGs ungetestete und in meinen Augen qualitativ arg überschätzte Abwehr auch den ein oder anderen Bock verspricht. Ich hätte eigentlich gedacht, Tuchel würde diese für ein großes Finale verändern, aber es sieht so aus, als wenn auch er seinem Team da vertraut und eine lange Leine lässt. Für Bayern wird es darauf ankommen sich nicht auf einen Schlagabtausch einzulassen.

Maurice: Dann bleibt mir ja nur noch die Rolle ein klassisches Finalspiel vorherzusagen. Eine nicht zu unterschätzende Komponente in jedem Endspiel nimmt die Psyche ein. Der Druck ist auf der allerhöchsten Ebene einfach noch etwas größer. Die Angst einen Fehlpass zu spielen oder mit einer einzelnen Aktion das Spiel früh zu entscheiden, dürfte gerade bei den Spielern präsent sein, die ihr erstes Spiel auf dieser Bühne bestreiten. Ich glaube daher, dass wir gerade zu Beginn beide Teams etwas passiver sehen werden und mehr auf Kontrolle bemüht. Es wird entscheidend sein, wer dann nach dieser Phase das Heft an sich reißen kann und welche Mannschaft die besseren Antworten auf die Fragen findet vor die sie der Gegner stellt.

Frage 2: Neymar und Lewandowski, Mbappé und Müller, di Maria und Gnabry – auf beiden Seiten stehen große Namen. Welches Duell ist für euch das spannendste und kann das Match entscheiden?

Alex: Ich würde die Frage nach den Duellen anders beantworten wollen. Ich bin am gespanntesten darauf, wie sich David Alaba und Alphonso Davies gegen Kilyan Mbappé und Neymar schlagen werden. Aufgrund des gerade schon beschriebenen Spielstils der Bayern sehe ich viele Laufduelle zwischen diesen Spielern voraus. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Bayern vorne Tore erzielen werden. Für mich ist der stärkste Unsicherheitsfaktor die Frage, wie viele Tore die Bayern hinten werden zulassen müssen. An dieser Frage entscheidet sich für mich daher auch das Spiel und dementsprechend sehe den Ausgang der Defensivduelle der Bayern für mich auch als das wesentliche spielentscheidende Moment dieses Finales an.

Einen wesentlichen Einfluss auf die Anzahl der Defensivduelle der Bayern und damit auf den wahrscheinlichen Ausgang des Spiels hat neben der hohen Linie auch der in meinen Augen sehr wichtige Faktor, wie viele Fehlpässe die Bayern im Spielaufbau spielen werden. Sollte insbesondere Thiago ähnlich zum Halbfinale gegen Lyon wiederholt einen eher schwachen Tag haben und dem Gegner zahlreiche Bälle in die Füße spielen, werden Alaba und Davies hinten noch stärker gefordert sein, das schnelle Umschalten über Neymar und Mbappé abzufangen. An ihrer hohen Linie werden die Bayern höchstwahrscheinlich nichts ändern (gut so!), aber an ihrer Fehlpassquote im Mittelfeld könnten sie arbeiten und damit dem Spiel etwas weniger Spannung verleihen, als vielleicht aus Sicht des neutralen Zuschauers wünschenswert wäre.

Daniel: Ganz klar Joshua Kimmich und Jérôme Boateng gegen Neymar und Kylian Mbappé. Es wird spannend zu beobachten ob Kimmich nicht doch (endlich) ein Stück weit konservativer spielen wird. Ob er nicht mehr immer grundsätzlich nach vorne stürmt, sondern nur angreift, falls er vorne eine Lücke auszumachen vermag. Zu diesem Zweck wird ja auch über die Rückkehr von Benjamin Pavard gesprochen, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er bereits 100% seiner Form hat. Wo soll diese denn auch herkommen? Zehn Minuten gegen ein fast geschlagenes Lyon reichen mir da nicht bei weitem nicht aus. Und einen nur dubios fitten Pavard einem topfitten Thiago vorzuziehen, schreit förmlich danach in die Hose zu gehen. Das wäre dann auch schlichtweg ein Trainerfehler, von dem sich selbst der zurecht hochgelobte Flick nicht mehr so leicht erholen kann. Nein, da sollte man doch lieber auf Kimmich und Boateng vertrauen.

Wer stoppt das gefürchtete Pariser Sturmduo aus Neymar und Mbappe?
(Foto: David Ramos / POOL / AFP)

Man sollte auch nicht komplett in Angst verfallen. Atalanta ist eine magische Story, aber hat nicht ansatzweise die Qualität von Bayern. Leipzigs Defensive kann da schon eher mit München mithalten, scheiterte am Dienstag aber an einer völlig merkwürdigen Staffelung. Lässt man ihnen so viel Raum, ist es nicht verwunderlich, wenn Neymar und Mbappé den metaphorischen Schlund ganz weit aufreißen und ein Team ganz alleine auffressen. Doch auch sie mussten in dieser Saison noch nicht gegen eine qualitativ so hochwertige und gleichzeitig taktisch gut gestaffelte Defensive antreten. Und bei aller Wiese zwischen Neuer und den Innenverteidigern ist Bayern ja abzüglich der ersten 15 Minuten gegen Lyon genau das. Zwischen Innenverteidigung und defensivem Mittelfeld machen sie es eng und sollten alle von Beginn an mitmachen (was gegen Lyon nicht immer klappte), wird es auch PSG schwer haben.

Maurice: Natürlich werden alle Augen auf Mbappe und Neymar gegen die vermeintlich anfällige rechte Abwehrseite der Münchner gerichtet sein. Doch die Bayern selbst müssen sich auch nicht verstecken. Ich bin gespannt auf die Duelle auf den Münchner Außenbahnen. Bei allem Respekt für die Entwicklung von Juan Bernat und Thilo Kehrer im System von Thomas Tuchel, doch mit einem Serge Gnabry in Torlaune sowie Ivan Perišić und dem Munich Roadrunner Alphonso Davies treffen sie auf ein ungleiches Duo. Im Gegensatz zu ihren Münchner Kollegen können Bernat und Kehrer zudem nicht immer auf die Unterstützung ihrer Vordermänner zählen. Ich erwarte das eine oder andere Tempodribbling, bei dem den beiden Pariser Außenverteidigern schwindelig wird.

Frage 3: Kahn 2001. Robben 2013. Welcher Münchner avanciert am Sonntag in Lissabon zum Matchwinner?

Alex: Ich biete drei Szenarien an. 

1. Robert Lewandowski. Nach seiner für seine Verhältnisse großen Zurückhaltung im Spiel gegen Barcelona und dem eher unglücklichen Auftritt gegen Lyon platzt bei ihm im Finale der sprichwörtliche Knoten und er erzielt einen Hattrick beim 4:2-Sieg der Bayern über PSG. Diese Leistung krönt seine außergewöhnliche Saison, brächte ihm den Ballon d’Or ein, wenn er vergeben würde, und geht in die Geschichtsbücher ein als der Höhepunkt seiner Saison und seiner Schaffenskraft und steht damit emblematisch für den besten Robert Lewandowski aller Zeiten.

2. Alphonso Davies: Der unfassbare Youngster der Bayern lässt Kylian Mbappé und Neymar das ganze Spiel über kaum einen Stich und ist mit seiner Geschwindigkeit die Lebensversicherung der Bayern in der Defensive. Mehrmals läuft er kritische Lücken zu, stellt die Offensivkünstler der Pariser im Zweikampf und gewinnt somit die entscheidende Zeit, die es den anderen Bayern-Spielern erlaubt aufzuholen, sich defensiv zu organisieren und die Anzahl der Gegentore gering zu halten. Gleichzeitig setzt er vorne offensive Akzente und legt sogar mit einem cleveren Pass ein Tor auf. Nach dem Spiel wird er in den Medien weltweit gefeiert als der kommende beste Linksverteidiger im europäischen Fußball, wenn er das nicht sogar schon ist (man ist sich noch unschlüssig).

3. Manuel Neuer: Dank der gewohnt hohen Linie der Bayern und dem Offensivdrang ihrer kompletten Defensiv-Abteilung schaffen es die Pariser vor allem über Neymar und Mbappé, eingesetzt meist von di Maria, wieder und wieder vorne durchzubrechen und nahezu alleine auf das Tor von Manuel Neuer zuzulaufen oder sich vielversprechende Überzahlsituationen zu erspielen. Allein Manuel Neuers überragendem Stellungsspiel und präzisem Instinkt dafür, wann er wie weit herauszulaufen hat, ist es zu verdanken, dass PSG seine xG deutlich untertrifft. Zudem sorgt er das ganze Spiel über, wenn immer er den Ball nach einem Angriff der Pariser unter Kontrolle gebracht hat, mit seinen gewaltigen, langen Abwürfen für schnelle Konter gegen die noch unsortierte bzw. noch nicht zurückgelaufene Pariser Hintermannschaft, aus denen mehrere Torchancen entstehen. Im Anschluss an das Spiel wird Neuer in den Medien unisono gefeiert als das spielentscheidende Etwas im Rückraum einer Spitzenmannschaft, welches andere Mannschaft in dieser Form nicht hätten und entsprechend darunter litten. Karl-Heinz Rummenigge wird sagen, dass man genau wisse, was man an Neuer habe und ja spätestens jetzt jeder sehen könne, warum man seinen Vertrag erst im Mai um drei Jahre zu guten Konditionen verlängert habe.

Daniel: Ich habe irgendwie das ganze Turnier schon das Gefühl, dass Kingsley Coman noch den berühmten “einen Moment” bekommt. Die eine Szene, wo in Vergessenheit gerät wie wenig Endprodukt seine Aktionen doch bisweilen haben.

Alternativ würde es passen, wenn Perišić nochmal richtig einen raushaut. Es wäre vor allem in der Retrospektive so wunderbar herrlich, wenn dieser in der Bundesliga so seine Probleme habende Spieler, sein ohnehin beeindruckendes Champions-League-Turnier auch noch krönen sollte, nur um dann sofort wieder zu gehen, weil der Verein sich ihn trotzdem nicht leisten möchte.

Gnabry, Coman oder doch Perišić: Welcher Münchner Flügelstürmer wird zum Matchwinner gegen Paris?
(Foto: Christof STACHE / AFP)

Und dann gibt es natürlich Robert Lewandowski. Er hat die Diskussionen der letzten Jahre noch im Kopf und ich glaube es nagt an ihm, wie vergleichsweise unwichtig seine Tore in Lissabon bislang waren. Entweder er zerbricht daran und vergibt wieder 100%ige oder aber er mutiert zum Man of the Match und sichert sich zugleich den Titel des Weltfußballers.

Ansonsten stimme ich Alex zu: Mindestens einen Unhaltbaren wird Neuer wohl halten müssen. Selten dürfte er vor einem Spiel sich so sicher sein, dass ihm die Schüsse nur so um die Ohren fliegen werden. Ansonsten glaube ich nicht unbedingt daran, dass Serge Gnabrys glorreiche Champions-League-K.O.-Phase auch im Finale genauso weitergehen wird. Durchaus aber, dass nach Sonntag auch außerhalb Deutschlands die Erkenntnis sich anreifen wird, wie überragend David Alaba als Innenverteidiger agiert.

Maurice: Meine Vorredner haben die wahrscheinlichsten Kandidaten schon genannt. Mir gefällt die Vorstellung, dass Kingsley Coman ausgerechnet gegen das Team, das ihn in der Jugend wegschickte, eine entscheidende Rolle einnimmt. Doch so ganz sehe ich das nicht kommen. Für diese Saison typisch wäre es, wenn entweder Thomas Müller oder Leon Goretzka die Rolle des goldenen Torschützen zukommt. Aus reiner Nostalgie wähle ich den Ur-Bayer, der damit endgültig seinen Fluch aus diesem ominösen Spiel 2012 ablegt und in den Herzen der Bayern-Fans wirklich unsterblich wird. Es wäre zudem der Höhepunkt einer Storyline, die mit einer häufigen Degradierung auf die Ersatzbank unter Kovac und einer Verbannung aus der Nationalelf unter Löw begann. Vielleicht wäre es daher dann doch ein zu märchenhaftes Ende…

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