Kader umgebrochen, Verein zerbrochen?

Tobi Trenner 24.10.2019

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Schon kurz nach dem Höhepunkt des Münchner Schaffens im Jahr 2013 wurden mahnende Stimmen laut, wonach ein baldiger Kaderumbruch unabdingbar wäre. In der Tat: Das Quartett Lahm, Schweinsteiger, Ribéry und Robben steuerte auf den Karriereherbst zu. Dieser Kaderumbruch galt (zurecht) viele Jahre lang als die größte Herausforderung des FC Bayern.

Auch wenn die letzten Bestandteile dieses Quartetts erst im vergangenen Sommer den Verein verließen, so war der Umbruch bereits früher zu spüren: führungstechnisch mit dem Karriereende Lahms, spielerisch spätestens mit den Dauerausfällen von Robbery um 2018 herum.

Im Nachhinein lässt sich im Herbst 2019 feststellen, dass dieser Umbruch zumindest auf dem Platz extrem sanft und durchaus erfolgreich umgesetzt wurde. Bastian Schweinsteigers Rolle wurde durch Guardiola einfach gruppentaktisch (Alonso, Thiago, Vidal etc.) gestrichen. In einem gefühlten Akt der buddhistischen Wiedergeburt ersetzte Kimmich als Rechtsverteidiger Philipp Lahm leistungstechnisch sowie als Führungsperson – wenn auch inhaltlich sehr anders interpretiert – bestmöglich.

Arroganz ohne Ergebnisse?

Selbst die Weltklasseflügelzange konnte, wenngleich etwas zäher, adäquat durch Gnabry und Coman nachbesetzt werden. Darüber hinaus ist Manuel Neuer immer noch ein sehr starker Rückhalt, Thiago Alcántara am Zenit angekommen und Robert Lewandowski in der Form seines Lebens. Der aktuelle Bayernkader ist weiterhin (oder wieder?) stark genug, um an guten Tagen jeder Mannschaft der Welt ein Bein stellen zu können.

Eventuelle Schwachpunkte in der Aufstellung sind nicht gravierend genug, um dem Erfolg im Wege zu stehen. Dennoch befindet sich der FCB in einer Schaffenskrise. Zweifel an der Nachhaltigkeit guter Ergebnisse sind nicht mehr strategischer Natur, ganz im Gegenteil: An der Säbener Straße dienen Siege inzwischen nur noch als kurze Ruhepause zwischen den Negativmomenten und als oberflächliches Argument gegen tiefergehende Kritik. Während der Kaderumbruch erfolgreich und finanziell sogar relativ schonend vollzogen wurde, scheint im Verein als Ganzes etwas zerbrochen zu sein.

Von Hause aus ist dem FC Bayern eine gewisse Arroganz zu unterstellen, wie sie schon im Vereinsmotto „Mia San Mia“ schlummert. Seit Langem gehören eine selbst verordnete Sonderstellung sowie ständiger Erfolg zum Brot- und Buttergeschäft der Münchner. Doch nun schleicht sich mehr und mehr das Gefühl ein, dass die Arroganz überhaupt nicht mehr durch Ereignisse auf dem Platz zu rechtfertigen ist.

„Mentalität ist Chefsache“

Anders gesagt: Dem Brot ist die Butter abhandengekommen. Doch warum fürchten sich Bayernfans vor der Umstellung auf Trockenbrot? Weil die dritte Komponente vergessen wurde: das Messer. Die Verbindung zwischen dem Auftreten nach außen und dem Agieren auf dem Platz war stets das interne Anspruchsdenken. Nur das Beste war gut genug und auch dann war es nicht perfekt.

Verglichen damit erschrecken einen die Aussagen und Handlungen des Vereines in den letzten 2-3 Jahren. In aller Deutlichkeit: Schuld sind nicht die Spieler, welche weder 90-minütige Konstanz bieten noch Spiele innerhalb der ersten 30 Minuten entscheiden. Schuld ist letztendlich auch nicht der Trainer, welcher in der heimischen Arena gegen Mittelmaß auf Remis spielt. Mentalität ist Chefsache.

Wer erinnert sich nicht an den ständigen Mahner, Matthias Sammer? Der damalige Sportdirektor konnte den Finger nur ständig in die Wunde legen, weil es innerhalb des Vereins eine glaubwürdige Position war. Wer zum FC Bayern kam, ob Spieler oder Trainer, war sich des (teils überzogenen) Anspruchsdenkens schnell bewusst. Siege feiert man dort nur im Mai, Niederlagen sind stets die größte Blamage. Diese Mentalität sowie die dahinterstehenden internen Mechanismen hätten halbgare Aussagen, wie man sie nahezu wöchentlich von Salihamidžić oder Kovač hört, kaum zugelassen.

Der FCB ist (wieder) sterblich geworden

Die in Dauerschleife stattfindenden Auftritte der Mannschaft, welche stets zwischen Lust- und Ahnungslosigkeit zu pendeln scheinen, wären im Keim erstickt worden. Stattdessen eiert der FCB seit Jahren umher. Seit der Entlassung Ancelottis agiert man wie in einer Kurzzeitphase der Umorientierung. Leider vergeudet man dabei individuelle Leistungsspitzen, die größere Erfolge oder zumindest attraktiveren Fußball ermöglichen könnten.

Es ist zugegebenermaßen nichts als Spekulation. Doch da die führenden Köpfe im Verein weiterhin die bekannten Gesichter sind, liegt der Verdacht nahe: Können bzw. wollen Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge kurz vor dem Ende ihrer Ära nicht mehr die Energie und den Willen aufbringen, um dem Verein weiterhin unbedingten Siegeswillen einzuimpfen? Menschlich wäre das mehr als verständlich, beim FCB hingegen wäre das Ergebnis ein Anspruchs- und Führungsvakuum.

Ein FC Bayern, der für drei Punkte nicht über Leichen geht, ist ein austauschbares Produkt. National agiert die Konkurrenz kadertechnisch inzwischen schlau genug, um mit einem „sterblichen“ FCB mithalten zu können – bisher glauben sie lediglich noch nicht daran. International sind die Kapitalhebel aus TV-Einnahmen und externen Geldquellen sowieso größer, um die Münchner finanziell wegzudrücken.

Wo bleibt die Selbstkritik?

Die Kovač-Frage, die seit inzwischen einem Jahr im Raume steht, ist darum auch mehr als eine Kritik an Taktik und Konzentrationsfähigkeit. Sie ist ebenso eine Frage nach dem Erfolgsstreben des Clubs. Der Kern der Thematik ist nicht, ob Kovač der richtige Mann dafür ist, die nächste Meisterschaft nach München zu holen. Viel mehr geht es um die Sorge, ob der Verein noch in der Lage ist, langfristig zu denken sowie seine Siegermentalität zu wahren und nach unten zu transportieren.

Es mag übertrieben wirken, den aktuellen Problemen einen solchen Stellenwert zuzuschreiben. Doch vor etwas mehr als zehn Jahren stand man vor ähnlichen Sorgen: Ein teils frischer Kader, ein junger Trainer mit guter Außendarstellung, Chaos auf dem Platz. Die Reißleine auf der Trainerposition zog man aufgrund mangelhafter Ergebnisse schnell, doch die strategischen Probleme verdeutlichte erst Philipp Lahm den Oberen. Letztendlich brachte man (für viele überraschend) den Mut auf, die Komfortzone zu verlassen. Diesen Schritt gilt es erneut zu meistern, in welcher Form auch immer.

Eine Siegermentalität ist keine Selbstverständlichkeit, wie man gerne bei Manchester United erfragen kann. Ob mit oder ohne Kovač: Der FC Bayern muss sich selbst gegenüber wieder kritischer und unbequemer werden. Wer dafür erst auf Oliver Kahn warten will, der riskiert viel.