„Guardiolas Fesseln“ als Chance
Allein das allgemeine Echo auf diese Aussage zeigt, wie sehr Scholls Ansicht polarisiert. Doch auch Ottmar Hitzfeld ging in den letzten Tagen in diese Richtung, als er den Bayern unter Ancelotti „mehr Freiheiten“ attestierte.
Beschäftigt man sich allerdings etwas tiefer mit der Thematik, erkennt man schnell, dass der neue Bayern-Trainer noch sehr von dem Werk seines Vorgängers profitiert. Das sehen auch die Spieler so, selbst wenn es in den vergangenen Tagen ein paar kritische Zwischentöne gab. Die taktische Weiterentwicklung unter Guardiola erkennt jeder Spieler an und nennt sie als Grundlage für das heutige Spiel. So äußerte sich Javi Martínez jüngst zu ersten Vergleichen der beiden Trainer und hatte viele lobende Worte für seinen Ex-Trainer übrig (Teil 1 | Teil 2). Mannschaftskapitän Philipp Lahm gehört ebenfalls zu den Ex-Spielern des Katalanen, die keine schlechten Worte über ihn verlieren. Der 32-Jährige widerlegte die Scholl-These und bestärkte sogar den Stellenwert des Positionsspiels.
Carlo Ancelotti hat bereits bei vielen großen Klubs gearbeitet. Dennoch würde ich behaupten, dass er noch nie zu Beginn eine Mannschaft vorgefunden hat, die so flexibel, taktisch geschult und gefestigt war. Er übernimmt ein Team, das in der Schule Guardiolas nicht nur das Positionsspiel perfektioniert hat, sondern auch auf fast jede Entwicklung eines Spiels eine oder mehrere Antworten parat hat.
Natürlich wird man in Zukunft immer über die Spielweisen dieser beiden Ausnahmetrainer diskutieren. Solange das mit Respekt und aller Sachlichkeit passiert, dürfte dieses Thema auch noch sehr spannend werden. Auch wir versuchten uns bereits daran, die Unterschiede zu den letzten Spielzeiten festzumachen. Es macht jedoch darüber hinaus weitaus mehr Sinn zu überlegen, wie gut sich der Guardiola- und Ancelotti-Fußball ergänzen. Eine Symbiose beider Philosophien ist das klare Ziel des aktuellen Bayern-Trainers und das hat nachvollziehbare Gründe.
Viel Ancelotti, aber auch oft Guardiola
Bereits im Auftaktspiel der Bundesliga gegen den SV Werder Bremen zeigte sich, dass viele Gegner nur selten einen abwartenden Fußball der Bayern zulassen werden. Dort profitiert der 57-Jährige ganz klar von der Philosophie der letzten Jahre. Zwar versucht er noch direkter und schneller mit dem Ball agieren zu lassen sowie den Ballbesitz etwas unterzuordnen, aber das Verständnis der Spieler für die gefährlichen Räume hat immer noch einen Hauch von Guardiola. Das Team besetzte die Zonen am vergangenen Freitag sauber und konnte den Ball so auch schnell in das letzte Drittel tragen.
Zwar tat der erschreckend schwache Gegner alles, um das auch zuzulassen, aber die Bewegungsabläufe kamen einem häufig bekannt vor. Diagonale Läufe von Lahm in den Strafraum, wie bei seinem Tor, oder die Mechanismen zwischen den drei zentralen Spielern Alonso, Thiago und Vidal wären nur zwei von vielen Beispielen.
Die Kritik, dass Guardiola seine Spieler in ein System drücken würde, ist trotzdem in gewissem Maße nachvollziehbar. So könnte die Zusammenarbeit mit dem Katalanen mental fordernder für die Spieler gewesen sein als jetzt. In einigen Interviews wurde zudem deutlich, dass ein paar Spieler nicht immer zufrieden waren, wenn ihnen die Freiheit genommen wurde oder sie auf anderen Positionen spielen mussten. Dazu lassen sich Franck Ribéry und Robert Lewandowski zählen. Dass es das in diesem Ausmaß unter Ancelotti nicht mehr geben wird, kann womöglich ein Vorteil sein.
Allerdings ist es auch kein Nachteil, dass gleich mehrere Akteure das Verständnis für viele Positionen besitzen. Zumal Guardiola das alles aus ebenso nachvollziehbaren Gründen tat. Er machte die Spieler dadurch nicht nur besser, sondern entwickelte so auch sehr viele erfolgreiche Lösungswege gegen Gegner und teaminterne Rückschläge.
Speziell die Flügelspieler scheinen in dieser Saison aber eine größere Freiheit zu genießen. Ribéry kippt beispielsweise immer wieder ins Zentrum ab, um dort zu unterstützen. Das führt jedoch auch dazu, dass die Bayern im Gegenpressing nicht mehr so effektiv sind wie in den Vorjahren. War dieses frühe Anlaufen unter Guardiola noch essenziell, so versuchen sich die Münchner nun nach Ballverlusten tiefer aufzustellen. Folglich hatte Werder Bremen mit 76% Passquote einen höheren Wert als in den vergangenen Jahren.
One big Carlo change? Bremen completed 76% (72% in 1H) of passes vs Bayern, last year only 63% (53%) in a 5-0. Maybe softer pressing this yr
— Saturdays on Couch (@SaturdayOnCouch) 28. August 2016
Diese Abkehr vom Ballbesitz als höchste Priorität muss jedoch nicht immer verkehrt sein. Sehr gespannt bin ich beispielsweise auf die Begegnung mit Atlético Madrid. Die Bayern spielen aktuell mit deutlich mehr Risiko in die Spitze. Das erhöht natürlich die Wahrscheinlichkeit für einen Ballverlust, aber eben auch die Chance auf eine gute Abschlussmöglichkeit im letzten Drittel. Den Besitz des Spielgeräts in der Wichtigkeit etwas zu entkräften dürfte der größte Eingriff in Guardiolas Spielsystem sein.
Der FC Bayern München war in den letzten Jahren sehr erfolgreich unterwegs. Man kann nicht aufhören zu betonen, dass ein dreimaliges Ausscheiden in einem Champions-League-Halbfinale, drei Meistertitel, zwei Pokalsiege sowie der Gewinn des europäischen Supercups und der Klub-WM ein großartiger Erfolg sind. Guardiola hat die Mannschaft flexibler gemacht und ihnen ganz neue spielerische Möglichkeiten eröffnet. Er hat darüber hinaus den Lauf eines Teams verlängert, das auf dem Höhepunkt zu sein schien.
Carlo Ancelottis große Chance liegt genau dort. Sein Vorgänger hat ihm eine Mannschaft übergeben, die in jedem Bereich des Spiels auf höchstem Niveau agieren kann. Der Italiener kann darauf bestens aufbauen. Nicht umsonst will er den Fußball in München nicht neu erfinden.
Vorgänger und Nachfolger gemeinsam erfolgreich?
Um die grauenhafte Metapher mit den Fesseln noch mal aufzugreifen: Der Italiener tut gut daran sie an den richtigen Stellen etwas zu lockern, aber er sollte sie niemals komplett ablegen. Schließlich wirkten die Bayern in der jüngeren Vergangenheit auffällig oft wie entfesselt. Guardiolas Einfluss auf das Spiel war enorm. Man hatte das Gefühl, dass er den Spielverlauf auf eine Art und Weise bestimmen konnte wie kein anderer Bayern-Trainer zuvor. Gewissermaßen legte er die mannschaftstaktische Ausrichtung des eigenen Teams in Fesseln, aber auch die des Gegners.
Der Katalane versuchte seine Mannschaft dem Gegner anzupassen und entwickelte auf Grundlage der eigenen Philosophie Lösungen auf die Spielweise des Kontrahenten. Ancelotti hingegen ist pragmatischer. Er versucht das für seine Spieler bestmögliche System zu finden, um deren Wohlbefinden zu maximieren. Dabei setzt der Italiener häufig auf dieselbe Ausrichtung. Das eröffnet dem Gegner auch Chancen sich besser auf die Münchner einzustellen. Genauso können die eingespielten Automatismen unter dem neuen Trainer in Kombination mit der taktischen Entwicklung der letzten Jahre aber auch ein voller Erfolg werden. Man sollte daher nicht schauen welche Guardiola-Elemente entfernt werden, sondern überlegen was von ihm bleibt. Eine Symbiose der Ideen beider Trainer könnte eine riesige Erfolgsgeschichte für den FC Bayern werden.
Ancelottis Arbeit wird wohl mehr denn je an Tafelsilber gemessen werden. Die Erwartungshaltung vieler geht in die Richtung, dass der FC Bayern in Zukunft weniger auf den spielerischen Werdegang achtet und die Titel nun endgültig in den Vordergrund rückt. Während Guardiola in einem Dreistufenplan den Erfolg an der Umsetzung seiner Philosophie gemessen hat, scheint Ancelotti alles den Titeln unterzuordnen. Das kann funktionieren. Im Erfolgsfall wird man aber auch auf die vergangenen drei Jahre zurückblicken müssen, wenn man eine faire Bewertung abgeben möchte.