FC Bayern: Irritierende Tuchel-Zahlen! Wie schlimm ist es wirklich?

Justin Trenner 24.01.2024

Die Zahlen, so wurde es in den letzten Tagen von nahezu allen Medien berichtet, sprechen ganz klar gegen Thomas Tuchel. Der Trainer des FC Bayern München hat, schaut man sich die gesamte Amtszeit an, einen schlechteren Punkteschnitt als beispielsweise Julian Nagelsmann oder Niko Kovač.

2,11 Punkte holt Tuchel laut der tz beispielsweise durchschnittlich. Kovač (2,26), Ancelotti (2,28), Nagelsmann (2,31) und Guardiola (2,41) stehen ebenso vor ihm wie Heynckes (2,49 – 2012–2013 – und 2,43 – 2017–2018) und Flick (2,53).

Sky zog indes einen Vergleich mit Julian Nagelsmann: Siegquote (71 zu 66 Prozent), Tore pro Spiel (3,04 zu 2,39), Gegentore pro Spiel (1 zu 1,16) und Schüsse aufs Tor pro Spiel (8,1 zu 7) gehen allesamt an den aktuellen Bundestrainer. Doch wie fair ist dieser Vergleich?

FC Bayern: Thomas Tuchel als schwächster FCB-Coach?

Es ist ein legitimer Ansatz, einen Trainer immer anhand einer gesamten Amtszeit zu bewerten. Allerdings wurden aus diesem Vergleich durchaus irritierende Schlüsse gezogen – sowohl von jenen, die sie geteilt haben als auch von jenen, die sie rezipiert haben.

Statistiken und Zahlen erfordern immer einen Prozess der Einordnung, um sie bewerten zu können. Sind zehn Torschüsse beispielsweise besser als fünf? Das kommt drauf an. Zehn Schüsse von der Mittellinie sind weniger wert als fünf innerhalb des gegnerischen Strafraums.

Bleibt die Frage: Ist Tuchels gesamte Amtszeit ein angemessener Vergleichswert? Der 50-Jährige übernahm Ende März 2023 das Amt beim FC Bayern – in einer Situation, die für alle kompliziert war. Allein der Entlassungsprozess von Julian Nagelsmann sorgte für eine Unruhe, die mit keiner anderen Trainerentlassung in den Vorjahren zu vergleichen war.

Dass Tuchel die Saison eher mäßig zu Ende gebracht hat, verwunderte vor diesem Hintergrund nicht. Der gesamte Club schaffte es rund um die Ereignisse nicht, die Unruhe in den Griff zu bekommen. Quasi während des Saisonfinals mussten Hasan Salihamidžić und Oliver Kahn ihre Hüte nehmen.

Also nochmal: Wie fair ist es, die Zahlen aus dieser ersten Tuchel-Phase mit einzubeziehen, wenn es darum geht, ihn unter anderem mit sehr erfolgreichen Bayern-Trainern zu vergleichen und insbesondere mit Nagelsmann, der viel mehr Vorbereitungszeit auf seine ersten Spiele hatte?

Thomas Tuchel vs. Julian Nagelsmann: Tieferer Blick in die Zahlen

Schauen wir also auf die 26 Pflichtspiele, die der FC Bayern in dieser Saison unter Tuchel absolviert hat. 19 dieser 26 Spiele haben die Münchner gewonnen, hinzu kommen drei Unentschieden und drei Niederlagen – eine davon im eher unbedeutenden Supercup. Macht eine Siegquote von 73 Prozent und 2,31 Punkte pro Spiel. Das ist in etwa Nagelsmann-Niveau.

Mit 2,65 Toren pro Spiel steht Tuchel zwar hinter Nagelsmann (3,04), aber längst nicht mehr so deutlich wie bei Betrachtung seiner gesamten Amtszeit (2,39). Die Gegentore pro Spiel sind wiederum ausgeglichen (beide ungefähr eins pro Spiel).

Schaut man auf die Expected Goals pro 90 Minuten, ist der Unterschied ebenfalls pro Nagelsmann gegeben: Auf 2,62 kam er in Bundesliga und Champions League, Tuchel in dieser Saison auf 2,48. Interessant allerdings: Nagelsmann profitiert in allen Statistiken von einer starken ersten Saison. Schaut man nur auf die 33 Pflichtspiele in Bundesliga und Königsklasse aus der vergangenen Saison, sinkt sein Wert auf 2,11 xG (2,62 in der Vorsaison).

Bei den Expected Goals against ist es ähnlich, aber weniger gravierend. Der Durchschnittswert von 1,03 in 77 Partien in Bundesliga und Champions League ergibt sich aus einem xGA pro Spiel aus der ersten Saison und aus 1,07 aus der zweiten Saison. Tuchel kommt in dieser Saison auf 0,83 xGA pro Spiel in Bundesliga und Champions League.

Was bedeuten diese Zahlen jetzt für Thomas Tuchel?

Auch mit diesen Zahlen ließe sich das Fazit ableiten, dass Tuchel schlechter abschneidet als die meisten seiner Vorgänger – und auch schlechter als Nagelsmann. Doch das würde immer noch viele Faktoren ignorieren, die bei einer solchen Bewertung wichtig sind. Denn es ist komplizierter.

Zunächst mal war die Bilanz von Nagelsmann aus statistischer Perspektive alles andere als schlecht. Insbesondere seine erste Saison mit den Bayern treibt den einen oder anderen Schnitt nach oben. In der Bundesliga gelangen den Bayern damals 97 Tore. Doch was war das noch wert, als er nach einer durchwachsenen Serie entlassen wurde?

Tuchel steuert derzeit auf eine 81-Punkte-Saison zu. Nagelsmann gelang das beispielsweise nicht. Schaut man sich die Expected Goals an, ist unter Tuchel ein positiver Trend zu bemerken. Im Vergleich zu Nagelsmann, aber auch im Vergleich zu seinen ersten Monaten beim FC Bayern.

Die Zahlenspielchen, die in den sozialen Netzwerken rauf und runter geteilt wurden, „profitierten“ von zwei Effekten: Erstens ist Nagelsmann vielen Menschen allein durch die Entlassung negativer in Erinnerung geblieben, als seine tatsächlichen Leistungen Anlass dazu gäben. Zweitens hat Tuchel gerade zwei sehr schwache Spiele seiner Mannschaft sehen müssen, wovon eines daheim gegen Werder Bremen verloren wurde. Die Zahlen befeuern also eine Überreaktion auf das letzte Ergebnis.

FC Bayern: Richtungsweisende Wochen für Tuchel

Das bedeutet nicht, dass alles gut ist. Tuchel ist weit davon entfernt, zahlenmäßig und realistisch gesehen der beste Trainer in der Geschichte des FC Bayern zu sein oder zu werden. Es gibt fußballerische Probleme, die es zu analysieren gilt. In unserer Szenenanalyse zum Bremen-Spiel haben wir einige davon herausgestellt.

Und doch braucht es einen tieferen Blick hinter die Zahlen, um ein ausgewogenes Fazit ziehen zu können. Bei allen Trainern in der jüngeren Vergangenheit fallen Phasen auf, in denen wenig zusammenlief. Teils längere Phasen, in denen sich sehr gute mit eher schwächeren Auftritten abwechseln. Tuchel erlebt diese Phasen ebenso wie Nagelsmann, Kovac oder Flick zuvor.

Ein Vergleich weiter zurück in die Vergangenheit wäre noch unfairer. Denn Pep Guardiola und Jupp Heynckes waren nicht nur herausragende Trainer, sondern hatten auch eine herausragende Mannschaft. Vieles lief damals zusammen. Der einzige, der statistisch an die beiden herankommt, ist Flick. Auch bei ihm lief 2020 einiges zusammen. Eine gute Kaderzusammenstellung und vor allem die Entwicklungen rund um die Coronapandemie, die seinem Spielstil sehr entgegenkamen.

Würde man Tuchel mit diesen drei Ausnahmezeiten vergleichen, könnte er nur verlieren. So wie vermutlich jeder andere Trainer beim FC Bayern nur verlieren könnte. Der Club ist seit 2017 mit einer kleinen Ausnahme zurückgekehrt in einen Zustand, der vor den Heynckes- und Guardiola-Festspieljahren Normalität war.

Die Frage, die sich der FC Bayern jetzt stellen muss, ist: Wie kommt man wieder raus aus der Normalität, die im erfolgsverwöhnten München längst nicht mehr ausreichend ist? Eine Antwort kann der Trainer sein. Doch als einzige Antwort taugt er sicher nicht. Christoph Freund, Max Eberl und das Team, das sie umgeben wird, haben die große Aufgabe, den Rekordmeister vor allem strategisch wieder auf Kurs zu bringen.



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