EM: Der risikofreudige Löwe

Daniel Trenner 02.07.2021

Die K.O.-Phase der Europameisterschaft. Deutschland trifft auf einen alten Rivalen. Um den Gegner nicht zu Torchancen kommen zu lassen, hat sich Bundestrainer Joachim Löw angepasst. Man steht tiefer als gewöhnlich. Beide Teams neutralisieren sich. Es gibt kaum Torchancen, ja nicht einmal wirkliche Torszenen. Es wirkt wie ein Schwergewichtsboxkampf, der von Anfang an ausgelegt ist, nach Punkten entschieden zu werden.

Hier gehen wir aus unserer Erzählung raus, denn nein, wir befinden uns gar nicht im Jahr 2021. Ich spreche gar nicht vom EM-Achtelfinalspiel der deutschen Nationalmannschaft gegen England. Ich spreche von dem Spiel, an das mich dieses deutsche Aus am Dienstag am meisten erinnert hat. Weil die Ereignisse sich bis zur Halbzeit ebenso sehr gleichen, wie sie sich nach der Halbzeit fundamental voneinander unterscheiden. Ich rede vom epischsten aller Löw-Spiele, dem Viertelfinalspiel der EM 2016 gegen Italien.

In Schlachten müssen manchmal auch die Trainer einstecken.
(Bild: Imago Images)

Nachdem in der ersten Halbzeit zugegeben noch weniger in den beiden Strafräumen lief, als es nun in Wembley der Fall war, tat der Bundestrainer etwas, wovon er gegen England absah: Er erhöhte mit Umstellungen das Risiko. Konkret tauschte er damals seine beiden Achter Bastian Schweinsteiger und Mesut Özil, wovon insbesondere Letzterer als späterer Torschütze ganz direkt profitierte. Beide spielten nun konsequent höher, was es den beiden Halbverteidigern erlaubte mehr nach vorne zu schieben und so Italien komplett hinten reinzudrücken.

Das hätte auch alles furchtbar schief gehen können, die Italiener hätten die nun größeren Räume zwischen den Verteidigern mit schnellen Spielern nutzen können. Doch es ermöglichte eben auch eine große Upside, weshalb Jogi Löw diese Wette einging. Ihm genügte es nicht, dass eventuell irgendwo mal eine Torchance rausspringen könnte. Und die Wette war erfolgreich. In den 30 Minuten nach der Halbzeit traf die Mannschaft und erspielte sich dazu noch eine gute und eine absolut überragende Torchance, die so außer dem großen Gigi Buffon kaum einer verhindert hätte.

Das Zögern von Wembley

In der Halbzeitpause von Wembley stand Joachim Löw erneut vor dieser Frage. Suche ich das Risiko, verändere Dinge? Stelle ich gar um? Versuche ich mit mehr Leuten anzugreifen und so mehr Torchancen zu erzwingen? Wohlwissend, dass es defensiv auch furchtbar in die Hose gehen könnte?

Wie bekannt ist, hat sich Joachim Löw gegen das Risiko entschieden. Die Konsequenzen davon sind mittlerweile durchdiskutiert, exemplarisch dafür ist Tobias Eschers fabelhaftes Tagebuch oder unser Blogeintrag zu nennen.

Ich sehe es weitgehend ähnlich mit der einen Ausnahme, dass ich es im Kontext des von Deutschland gespielten Turniers (Rückstand in jedem Spiel, bereits fünf Gegentore) durchaus nachvollziehen kann, in der ersten Halbzeit so vorsichtig zu agieren. Auf dem Papier kann man viele Spiele durchkomponieren, doch man ist immer Sklave des Unvorhersehbarem. Formschwankungen, Taktiküberraschungen des Gegners, mit einer zu forschen Idee kann man auch schnell baden gehen. Ich drehe Jogi Löw daher für die erste Halbzeit keinen Strick. Sich erst einmal auf so einen chancenarmen Boxkampf einzustellen ist vollkommen nachvollziehbar, insbesondere wenn man unsicher ist, wo die eigene Mannschaft steht. Kritisch sehe ich höchstens wie wehrlos man die Engländer ins Spiel kommen ließ. Nach den ersten zehn wirklich guten Minuten hätte man das starke Pressing von Toni Kroos, Leon Goretzka und Thomas Müller beibehalten sollen, so überließ man England weitgehend ohne Not die Spielkontrolle.

Der riskante Löwe

Ich möchte mit diesem Artikel in Erinnerung rufen, dass dies nicht immer so mit Joachim Löw war. Ich behaupte sogar, dass einer seiner größten Stärken in seiner goldenen Ära diese intelligente Risikofreudigkeit war. 2012 mochte er das Rad noch überdreht haben, doch er zog nicht die selben falschen Schlussfolgerungen, wie er es später 2018 tun sollte. Immer wieder ging er in entscheidenden Momenten mit intelligenten Mitteln ins Risiko, weil er die Spiele aus eigener Kraft entscheiden wollte. Es mag womöglich gar kein Zufall sein, dass für seine extrem lange Amtszeit von 15 Jahren, er erstaunlicherweise auf nur ein einziges Elfmeterschießen kam. Dabei mussten sogar die Spanier in ihrer alles dominierenden Ära gleich zweimal in die Lotterie.

Wenn man es genau nimmt, war es irgendwo sogar bloßes Pech, welches Joachim Löws Mannschaft das eine Mal zum Elfmeterpunkt führte. Die Führung hätten sie 2016 gehalten, wenn Jérôme Boateng nicht den absurdesten Elfmeter seiner Karriere verursacht hätte. Womöglich hätten sie diese sogar weiter ausgebaut, wenn Mario Gómez in dem Spiel nicht verletzt aus dem Turnier schied und Löws ganzen Offensivplan durchkreuzte.

Von vielen verdrängt war für mich 2016 Löws bestes Turnier. Er formte ein derart dominantes Ballbesitzsystem, dass selbst im damaligen Vereinsfußball schwer seinesgleichen fand.
(Bild: Imago Images)

Ich gehe sogar weiter mit den Konjunktiven und sage mit einem fitten Gómez wären sie ins Finale eingezogen. Gegen Frankreich im Halbfinale erspielte sich die Mannschaft© so viele erstklassige Chancen, dass es nur allzu verständlich ist, dass dieses Spiel Joachim Löw selbst jetzt, fünf Jahre später, schlaflose Nächte bereitet.

Ich sage das, weil dieses kindhafte Lamentieren, wieso es unter Löw nur zu einem Titel reichte, mal wieder Konjunktur hat und das ganze grob unfair ist. Joachim Löw formte die klar spielstärkste Mannschaft der Euro 2016, reichte seinem Team alle Werkzeuge zum Glück. Dass diese dann salopp gesagt zu doof ist um Tore zu schießen und hinten keine Elfmeter zu verschenken (Schweinsteigers Geschenk an Frankreich war noch generöser als Boatengs im Spiel zuvor), kann nicht Löw zu Lasten gehalten werden. 2021 erspielte sich Deutschland tatsächlich nicht genug Chancen um sich über die Chancenverwertung zu beschweren, 2016 aber schon. Ebenso kann man Löw keinen Strick daraus ziehen, dass dieses Land einfach partout keinen Mittelstürmer mehr züchten kann.

2016 war vom Spielverlauf näher dran an 2021, aber es gibt noch ein anderes ganz plakatives Beispiel, wo der Löw von früher das kalkulierte Risiko nicht scheute, sondern es freudig ergriff. Im WM-Finale brach ihm nach einer halben Stunde mit Christoph Kramer ein zweikampfstarker Achter weg. Der moderne, risikoscheue Löw hätte sicherlich einen ähnlichen Spieler eingewechselt um bloß nicht zu viel hinten Preis zu geben. Doch der alte Löw las das Spiel richtig und opferte Physis für mehr offensiven Schwung. Brachte André Schürrle und gab Toni Kroos mehr Defensivaufgaben, als ihm eigentlich damals guttat. Das Risiko ging auf, Deutschland erhöhte den Druck nach vorne und am Ende gab ausgerechnet dieser André Schürrle den goldenen Assist.

Bessere gewannen gar nichts

Die vergangenen drei bis vier Jahre sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass Joachim Löw nicht einfach Glück hatte, nein, er war tatsächlich ein exzellenter Trainer. Seine Siege entstammten nicht einfach einer goldenen Generation, er selbst hatte ebenfalls gewaltigen Anteil daran. Wer kritisiert, er hätte mehr gewinnen sollen, verdrängt nicht nur die EM 2016, sondern die unzähligen großen Generationen anderer Länder, die nie auch nur irgendetwas gewannen.

Die Ungarn der 50er gelten für manche noch immer als die beste Nationalmannschaft aller Zeiten, doch gingen sie titellos in die Geschichte ein. Crujffs Holland scheiterte in den entscheidenden Momenten gleich viermal an eigentlich schwächeren Teams (wenn auch zum Schluss ohne Cruijff selbst). Frankreich und Spanien hatten schon vor ihren großen Ären starke Mannschaften, holten aber jeweils nur eine Europameisterschaft zu Zeiten als diese noch nicht die großen und wichtigen Turniere von heute waren. International gilt Zicos Brasilien als eines der besten brasilianischen Auswahlteams der Geschichte, doch Weltmeistergold blieb ihnen verwehrt. Ganz aktuell haben wir die Beispiele Belgien und noch stärker Argentinien um Messi, Mascherano und andere Stars.

So ein großes Turnier gewinnt sich nunmal nicht so leicht. Womöglich sind wir in Deutschland einfach zu sehr verwöhnt vom Erfolg. Man hat die Turniere immer in solch einer Frequenz gewonnen, dass außer Uwe Seeler und Michael Ballack kaum ein großer Spieler gar nichts mit der Nationalelf gewann. Selbst Oliver Kahn darf sich Europameister nennen, wenn auch nur als Ersatzkeeper.

No Country for Old Löw

Als Joachim Löw übernahm, war er nicht nur Jürgen Klinsmanns Fußballlehrer, er war Deutschlands Fußballlehrer. Er lehrte dem Land die Viererkette richtig zu spielen, die Raumdeckung und ließ erstmals seit Jahrzehnten wirklich schönen, frischen, weltweit anerkannten Offensivfußball spielen. Dass sich der Ruf Fußballdeutschlands so sehr verbessert hat, ist in großen Teilen sein Verdienst. Er war es auch, der die erste wirklich bunte Nationalmannschaft formte und auch nicht einknickte, als es gerade 2012 heftigen, zum Teil gar rassistischen Gegenwind gab.

Sein größter, ihn unsterblich machender Triumph.
(Bild: Imago Images)

Und doch waren die letzten Jahre schlecht. Sehr schlecht. Eine schlechte Idee folgte auf die andere und so verfing man sich in einer Abwärtsspirale. Das Turnier jetzt konnte man wenigstens ordentlich zu Ende bringen. Klar, Aus im Achtelfinale klingt schlecht, aber man bestand in einer starken Gruppe und gegen dieses hungrige, aufstrebende England darf man auswärts auch mal verlieren. Vergleiche zu 2018 sind unangebracht.

Löws weiterer Weg wird spannend sein. Er wird gute Jobangebote bekommen und höchstwahrscheinlich seine Chance in der Champions League erhalten. Die größte Frage wird sein, ob er die in den letzten Jahren gefundenen Fesseln der Risikominimierung wieder abstreifen kann. Es gibt nicht wenige Trainer, die mit der Zeit einfach ihr Mojo verlieren, keinen Zugriff zu Mannschaften finden oder unerklärliche Fehler machen. Vielleicht gehört Löw zu dieser Sorte, vielleicht ist er aber auch einfach der klassische Trainer, der einfach irgendwann bei seiner Mannschaft verbraucht war.

Übrigens, nun beginnt beim FC Bayern zwar die Ära Julian Nagelsmann, doch auch die wird irgendwann ihr Ende finden. Schon alleine aufgrund der sprachlichen Limitierungen bei der Trainersuche wird Jogi Löw ebenfalls immer auch ein Kandidat beim FC Bayern sein. Die Kritik an ihm mag gerade aus Bayern-Fankreisen beliebt sein, doch sollte man sich mit dieser Realität anfreunden.

Hansi Flick – Löws Erbe wie Schüler 

Nun übernimmt beim DFB Hansi Flick. Unmittelbar wird er höchstwahrscheinlich der perfekte Mann sein. Was Löws Mannschaften früh auszeichnete, ist mittlerweile vollständig verloren gegangen: Ein gutes, koordiniertes Pressing. Es passt also, dass Hansi Flicks FC Bayern zuallererst für sein bedingungsloses Hyänenpressing bekannt war. Szenen wie gegen England als Müller seine Elf dazu animierte weiter aufzuschieben, nur um entsetzt festzustellen, dass niemand mitmachte, wird es nicht geben.

Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Hansi Flick die Nationalelf genau wie zuvor schon seinen FC Bayern regelrecht von der Leine lässt. Gerade in der schwachen WM-Qualifikationsgruppe sehe ich es schon vor meinen Augen, wie er einfach alle Offensivspieler aufstellt, sie hoch stehen lässt und diese dann über die kleinen Nationen nur so herfallen.

Kritischer wird es allerdings, wenn ich an ihn als Turniertrainer denke. Wenn es zwei Dinge gibt, die er gar nicht konnte beim FC Bayern, dann waren es gute Spielerwechsel und Gegneranpassungen, vor allem während des Spiels. Doch ohne diese Komponenten gewinnt man als Nationaltrainer nichts. Gegen kleinere Nationen mag es Siege hageln, doch in K.O.-Phasen gibt es immer diese engen Spiele, wo ein Trainer mit klugen Anpassungen den Sieg bringen kann – oder als Sturkopf ausscheidet. So kompromisslos Flick beim FC Bayern war, kann ich die Boulevardschlagzeilen vom “Dickschädel Flick” bereits riechen.

Das gute ist, dass man dann wenigstens respektabel mit wehenden Fahnen untergehen dürfte, statt sich wie jetzt so aus dem Turnier zu langweilen. Doch Erfolg bringen beide Modelle nicht. Den Mut, der Jogi Löw zuletzt abging, wird Flick haben. Er wird nur aufpassen müssen nicht sogleich in Übermut zu verfallen, was man ihm nämlich durchaus in seinem zweiten Jahr beim FC Bayern vorwerfen konnte.

So wie Löw auf seine alten Tage lieber mehr an Flick angeknüpft hätte, sollte Flick mehr an den frühen Jogi Löw anknüpfen, der immer wieder in entscheidenden Momenten eingriff und seiner Mannschaft direkt weiterhalf. Nur so wird er erfolgreich sein. So erfolgreich wie Joachim Löw.

Nach den Viertelfinals gibt es ein Round-Up zu den anderen Turnierspielen und dem Abschlusszeugnis der Bayern-Spieler