EM-Blog: Ein würdiger Europameister

Justin Trenner 13.07.2021

„It’s coming to Rome“, schrie Leonardo Bonucci kurz nach Abpfiff in die Kameras im Wembley-Stadion. Seine Anspielung ist eindeutig: Der Titel bleibt nicht daheim, im Mutterland des Fußballs, wo er noch nie so richtig war, sondern er geht nach Rom und das von den englischen Fans rauf und runter geschmetterte Lied „It’s coming home“ muss zumindest bis zur WM 2022 wieder in die Schublade.

Das Finale, es ist ein bitterer Abend für die Engländer. Gerade weil der Auftakt in die Partie so vielversprechend war. England begann gut. Der Begriff mutig wäre angesichts der insgesamt zurückhaltenden Spielweise ein bisschen zu viel des Lobes, aber sie schienen gut vorbereitet zu sein auf das, was sie erwarten würde.

Die erste Halbzeit: England übernimmt die Kontrolle

In den ersten 20 Minuten stellten die Engländer vor allem Italiens Zentrum clever zu. Viele Mannorientierungen halfen dabei, Zugriff auf das Positionsspiel der „Squadra Azzurra“ zu bekommen. Italien verlor in der Anfangsphase viele Bälle, kam nicht in das eigentlich so kontrollierte und dominante Passspiel, das sie zuvor so stark gemacht hatte.

Viel schlimmer war es aber für die Italiener, das auch ihr hohes Pressing nicht griff. Schon gegen Spanien mussten sie die Erfahrung machen, dass hinter ihrer ersten und zweiten Pressinglinie oftmals ein Raum entsteht, der für Gegner gut zu bespielen ist – wenn er denn die Qualität hat, dort hinzukommen.

England schien diese Qualität zu haben. Southgates Dreierkette war gegen Italiens Dreierpressing in vorderster Linie die richtige Wahl und im Mittelfeld liefen sich Phillips und Rice in gewohnt tiefer Position immer wieder klug frei. Vor allem auf der eigenen linken Seite überlud man jedoch sehr clever. Mount und Shaw wurden im Halbraum von Kane, Rice und Maguire, teilweise auch von Phillips gut unterstützt. Hinten hatten die „Three Lions“ mit Walker, Stones und Maguire wiederum eine ordentliche, in Phasen sogar herausragende Ballsicherheit. Es half den drei Verteidigern aber sehr, dass sie den Ball nicht nur quer laufen lassen konnten wie in vielen Partien zuvor, sondern auch vertikal die angesprochenen Lösungen vorfanden.

England verpasst es, dem Spiel seinen Stempel aufzudrücken

Italien lief dadurch häufig ins Leere und sah sich hinten dann mit Situationen konfrontiert, die ihre gesamte Organisation durcheinander gebracht haben. Der 1:0-Führungstreffer, auch wenn er nach einer Ecke fiel, war ein Paradebeispiel dafür. Italien kann einen direkten Konter durch gute Absicherung noch verhindern, schafft es dann aber nicht, mit dem gewohnten Pressing den Ball zurückzuerobern, weil England in Ballnähe Überzahl durch den tief positionierten Kane herstellt. Kane nutzt anschließend das riesige Loch hinter der italienischen Pressinglinie, um zu verlagern. Er nimmt aber das Tempo nicht raus, sondern läuft im Sprint in den Strafraum ein, wo er zwei Spieler bindet: Barella und Emerson. Im Rücken von Emerson steht der einlaufende Shaw frei und erzielt die Führung.

Auch in den folgenden Minuten gibt es immer wieder Szenen, in denen die Italiener vorn keinen Zugriff bekommen und anschließend schwimmen, weil England über den zu groß gewordenen Zwischenraum auf die Außenbahnen spielen kann. Die wiederum werden von den guten Laufwegen der Angreifer nach innen geöffnet, weil sich die italienischen Außenverteidiger zu stark nach innen orientieren. Das 4-3-3-Pressing der Italiener funktioniert überhaupt nicht. Und so wirken sie so unorganisiert wie schon lange nicht mehr.

England aber verpasst es spätestens ab der 20. Minute, diese Phase der fehlenden Organisation zu nutzen. Statt jetzt die Kontrolle zu übernehmen, verwalten sie das 0:1. Eine typische Eigenschaft der Southgate-Engländer. Ein ganz markantes Beispiel dafür ist ihr Pressingverhalten. Nach der starken Anfangsphase ziehen sie sich immer weiter zurück, statt Italien aktiv dort zu stören, wo sie stark sind. Aus tiefen Verteidigungsformationen gelingt es den Engländern nicht mehr, herauszuschieben – weil sie es wahrscheinlich nicht wollen. Die defensive Passivität ist ein wiederkehrendes Muster in Englands Spiel. In diesem Finale führt es dazu, dass die Italiener zunehmend Ballkontrolle und somit später auch Spielkontrolle bekommen werden.

Zweite Halbzeit: Italien übernimmt die Kontrolle

Schon zum Ende des ersten Durchgangs bekamen die Italiener von ihrem Gegner längere Ballbesitzphasen geschenkt als zu Beginn. Die Sicherheit im Passspiel kehrte dadurch langsam zurück. Im zweiten Durchgang passt Roberto Mancini zudem ein paar Details an. Statt wie zuvor im 4-3-3 zu pressen, stärkt er die Halbräume und die Flügel mit einem 4-4-2-Pressing. Die Raumaufteilung ist damit besser auf das englische Mittelfeld abgestimmt. Es gibt zwar weniger Momente, in denen die drei Aufbauspieler Englands unter Druck geraten, dafür verringern sich aber auch ihre Lösungen in den beiden Folgedritteln.

Das Resultat: England verfällt mit dem Ball in eine behäbige Spielweise und kommt so gut wie gar nicht mehr gefährlich vor das italienische Tor. Als Southgate dann auf eine Viererkette umstellt und Saka bringt, verliert sein Team auch noch die Ballsicherheit gegen Italiens hohes Pressing. Einige hohe Ballgewinne bleiben von den Italienern aber ungenutzt.

Die Mannschaft von Mancini macht jetzt das, was England im ersten Durchgang verpasst hatte: Echte Spielkontrolle durch hohen Druck aufbauen. Mit dem Ball und gegen den Ball. Statt sich nach dem Ausgleich zurückzuziehen, gehen die Italiener auf das zweite Tor – nicht mit dem allergrößten Risiko, aber mit mehr Spielern in der Angriffslinie als noch zu Beginn der Partie.

Verlängerung: England findet nicht mehr zurück

Zu Beginn der Verlängerung scheint es nochmal kurz so, als könnte England an die starke Anfangsphase anknüpfen. Doch der Eindruck entpuppt sich schnell als falsch. Italien bleibt die bessere, weil komplettere Mannschaft. England konzentriert sich fast nur noch auf die Verteidigungsarbeit und gerät dabei – wenn auch auf hohem Niveau – in kleine Schwierigkeiten, die sie so im Turnierverlauf noch nicht gezeigt haben.

Immerhin: Es gelingt ihnen zumindest, wieder etwas häufiger und länger in Ballbesitz zu bleiben und den Defensivstress damit ein wenig abzubauen. In der ersten Halbzeit kam Italien auf 65 %, in der zweiten auf 70 % Ballbesitz. In der Verlängerung sind es erst 61 % und dann 57 %.

Trotzdem bleibt das Spiel nach vorn harmlos. England fehlen die Ideen, Kane bekommt kaum noch Bälle. Southgate wiederum verpasst es, rechtzeitig zu wechseln und sein Team aus der passiven und lethargischen Haltung herauszuholen. Er lässt es aufs Elfmeterschießen ankommen – und bringt dafür Rashford und Sancho kurz vor dem Abpfiff.

Elfmeterschießen: An Tragik kaum zu überbieten

Was dann folgt, ist Geschichte. Ausgerechnet Rashford und Sancho verschießen und auch Saka, der in der 70. Minute als Offensivhoffnung kam, trifft nicht. England verliert das Heimfinale damit auf die tragischste Art und Weise.

Gareth Southgate, der 1996 gegen Deutschland den entscheidenden Elfmeter gegen Deutschland verschoss, wechselt drei Spieler ein, die allesamt nicht treffen. Eine Geschichte, die englischer kaum sein könnte. Im neunten Elfmeterschießen bei einem großen Turnier verlieren die „Three Lions“ zum siebten Mal.

Dem Trainer wird anschließend vorgeworfen, dass er überhaupt so kurz vor Ende der Partie zwei Spieler nur dafür einwechselt – und dann auch noch zwei, die nicht das allergrößte Selbstvertrauen haben dürften und zu den jüngeren des Kaders zählen. Hätte England gewonnen, wäre die Entscheidung wohl als „Mut“ gefeiert worden, so aber wird er wohl zurecht stark hinterfragt.

Weitere Erkenntnisse

  • Italien ist zweifellos ein verdienter Europameister. Spanien war in der Spielanlage konstanter, vor dem Tor aber nicht clever genug. Die „Squadra Azzurra“ spielte zugegebenermaßen eine K.-o.-Runde mit vielen Höhen und Tiefen, zeigte insbesondere gegen England aber nochmal ihre ganz große Qualität: Auch nach Rückschlägen und in schwierigen Spielverläufen können sie sich an die Gegebenheiten eines Spiels taktisch anpassen. Andere Teams hätten gegen England nach 65 Minuten vielleicht die Ruhe verloren und wären ins zweite Gegentor gelaufen. Italien aber vertraute auf seine Stärken, blieb sich treu und wurde belohnt.
  • England muss sich nach diesem Endspiel hinterfragen. Schon 2018 ging der pragmatische Ansatz in der entscheidenden Phase schief. Damals wurde das Halbfinale zurecht noch als großer Erfolg gesehen. Diesmal aber wurde eine einmalige Gelegenheit vertan. Individuell stehen die Engländer den Italienern in nichts nach. Im Gegenteil noch: Sie haben sogar den breiteren Kader. Southgate aber limitierte sein Team mit seinem Defensivansatz in der Offensive zu sehr. Gerade Italien hat eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass sich Offensive und Defensive miteinander verbinden lassen. Das schaffte England zu selten. Der vermeintliche Ergebnisfußball hat eben nur dann seine Argumente, wenn die Ergebnisse auch stimmen. Dass die Engländer letztendlich bis ins Elfmeterschießen kamen, war mehr Glück als Erfolg. Mit einem anderen Turnierbaum hätten sie womöglich nicht mal das Finale erreicht. Angesichts dessen, was an Potential in diesem Kader steckt, ist das fast schon eine Enttäuschung. So hart das nach all den Erlebnissen klingen mag.
  • Bonucci und Chiellini krönen ihre großen Karrieren. Man mag es kaum glauben, aber beide hatten bis zu diesem Finale noch keinen großen internationalen Titel gewonnen. In Deutschland wären wohl große „Chef’chen“-Debatten ausgebrochen, wie das in Italien war, kann ich nicht verlässlich beurteilen. Hier zu Lande würde jedoch kaum einer in Frage stellen, dass die beiden zu den besten Innenverteidigern der letzten Dekade zählen. Und jetzt können sie mit diesem Pokal noch ein weiteres Argument vorweisen.
  • Der Rassismus, mit dem sich die englischen Spieler nach der Niederlage konfrontiert sahen, war zugleich erschütternd wie erwartbar. Oft wurde im Anschluss der moralische Zeigefinger erhoben, als sei England das Problem. Als sei es gut, dass Italien dieses Finale gewonnen hat. Die “Squadra Azzurra” als Ritter im Kampf gegen den Rassismus? Menschlich und psychologisch sind diese Reaktionen nachvollziehbar. Aber sie blenden aus, dass nicht England dieses Problem exklusiv für sich hat, sondern die Gesellschaft insgesamt. Italien, England, Deutschland, Frankreich, Europa, die ganze Welt muss nach wie vor einen weiten Weg gehen. Wer Rassismus verstehen möchte, muss sich unweigerlich mit der Geschichte des Kolonialismus auseinandersetzen. Nicht oberflächlich, sondern intensiv. Denn daraus resultieren diese gesellschaftlichen Probleme. Und vielleicht ergeben sich beim Reflektieren über diese lange und vielschichtige Geschichte, die in vielen Schulen nach wie vor unterrepräsentiert ist oder aus einer weißen Perspektive gelehrt wird, auch Lösungsansätze. Hier habe ich mich ausführlich dazu geäußert.
  • Ein weiterer Gedanke, der mir direkt nach dem Spiel kam: Das hätte auch Deutschland sein können. Ja, unter Joachim Löw lief vieles sehr schlecht und auch bei der EM stand die Mannschaft zurecht in der Kritik. Aber was für England gilt, gilt auch für die Deutschen: Es war eine vertane Chance. Gegen die Ukraine und müde Dänen hätte sich Deutschland ebenfalls durchsetzen können. Stattdessen verpasste man es gegen England, wie die Engländer selbst im Finale später, aus einer guten Anfangsphase eine tatsächliche Spielkontrolle zu erzeugen.

Mein Team des Turniers

Ich bin kein großer Fan von Einzelawards, aber bezogen auf die einzelnen Positionen finde ich es wiederum spannend. Daniel wird seine Elf des Turniers im Round-up-Format ebenfalls präsentieren. Meine gibt es jetzt hier im letzten EM-Blog:

System: 3-4-3 – die Dreierkette war bei der EM 2021 schwer in Mode, deshalb kann auch ich nicht auf sie verzichten.

Torwart: Gianluigi Donnarumma – Überzeugt hat mich kein Torwart. Das mal vorab. In der engeren Auswahl stehen für mich Kasper Schmeichel, Yann Sommer und eben Donnarumma. Der Italiener bekommt von mir den Vorzug, weil er mir trotz kleinerer Fehler immer noch am besten in der Ballverarbeitung gefallen hat. Aber nochmal: Wirklich herausragend war kein Torhüter und es ist fast bezeichnend, dass die meisten unter ihnen sich über Elfmeterschießen definieren.

Innenverteidiger links: Giorgio Chiellini – Zweikampfstark, ballsicher, humorlos (mit Ausnahme seiner Späße mit Jordi Alba) und eine echte Bank im Defensivspiel der Italiener.

Innenverteidiger zentral: Simon Kjaer – Hat nicht nur bei der Eriksen-Geschichte gezeigt, was für ein klasse Kapitän er ist, sondern auch auf dem Platz mit tollen Leistungen geglänzt.

Innenverteidiger rechts: Leonardo Bonucci – auch der zweite Routinier der Italiener schafft es in meine Elf des Turniers. Sein Aufbauspiel war hinter Jorginho eines der wichtigsten Erfolgsrezepte der italienischen Mannschaft.

Flügelverteidiger links: Joakim Mæhle – die Konkurrenz ist groß. Auch Alba und Spinazzola hätten eine Nominierung verdient. Mæhle hat mich im dänischen Team aber deshalb mehr überzeugt, weil er für mich nochmal die komplettere Leistung aus Defensiv- und Offensivarbeit gezeigt hat.

Flügelverteidiger rechts: Kyle Walker – die einzige Position, auf der ich etwas schummle. Walker war eigentlich rechter Halbverteidiger oder Rechtsverteidiger. Dennoch hat er ein überragendes Turnier gespielt. Ballsicher, starkes Aufbauspiel, herausragende Defensivzweikämpfe – der gehört in dieses Team.

Sechser links: Jorginho – für mich der Spieler des Turniers. Taktgeber, Stabilisator, Antreiber und Herz dieser italienischen Mannschaft.

Sechser rechts: Pierre-Emile Højbjerg – Pedri hätte es ebenso verdient, aber auch hier entscheide ich mich für den Dänen, weil Højbjerg etwas kompletter war und insbesondere im Defensivverhalten wichtige Arbeit verrichtet hat. Mit dem Ball konnte er zudem den Rhythmus der dänischen Mannschaft entscheidend prägen. Ein starkes Turnier des Ex-Münchners.

Halbraumzehner links: Lorenzo Insigne – Seine spezielle Rolle in Italiens System hat viele Gegner überfordert. Im linken Halbraum war er der stärkste Spieler des Turniers.

Halbraumzehner rechts: Raheem Sterling – Sterling hatte für mich auch Potential zum Spieler des Turniers. Gerade weil er eine Offensive geprägt hat, die deutlich weniger mutig organisiert war als die Italiener, hätte er es verdient. Meine Vorliebe für tolle Sechser hat das Duell aber entschieden. In meiner Elf darf er dennoch nicht fehlen.

Stürmer: Patrik Schick – Fünf Tore hat sonst nur Cristiano Ronaldo erzielt und der hat sogar ein paar Minuten weniger gebraucht. Wer nur ins Achtelfinale kommt, hat in meiner Elf des Turniers aber aus Gründen nichts verloren. Schick kam nicht wesentlich weiter, hat in einer mich sehr begeisternden tschechischen Mannschaft aber starke Leistungen gezeigt. Nicht nur im Abschluss, sondern auch im Pressing und in Kombinationen.

Trainer des Turniers: Kasper Hjulmand – rein sportlich bin ich stark dazu geneigt, Roberto Mancini zu nehmen. Aber die zwischenmenschliche Herausforderung und auch die psychologische Herausforderung, die Hjulmand gemeistert hat, beeindruckt mich zutiefst. Taktisch waren auch die Dänen sehr flexibel und begeisternd. Chapeau!

Zum Schluss: Weiterhin gute Besserung, Christian Eriksen. Auch dieser Vorfall hat das Turnier geprägt und ich werde diese Momente niemals vergessen. Ich bin so glücklich, dass er lebt und dass die Geschichte für ihn und die Nationalmannschaft dann noch einen positiven Spin bekommen hat. Zumindest so positiv, wie es eben in einer solchen Situation möglich ist.



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