EM-Blog: So kommt Deutschland ins Viertelfinale

Justin Trenner 29.06.2021

Wenn die Deutschen am frühen Dienstagabend auf England treffen, dann ist das nicht unbedingt das Duell zweier Top-Favoriten. Beide haben zwar gute Kader, aber beide haben auch gezeigt, dass sie klare Schwächen haben. Und die wollen sie nun gegenseitig ausnutzen.

Kommen wir deshalb ausnahmsweise gleich zum Wesentlichen: Kein szenischer Einstieg, kein Blick in die Historie, keine erzählerische Klammer, einfach Fußball. Zeit ist schließlich wertvoll. Worauf kommt es also an? Wie knacken die Deutschen ihren Gegner?

Auch im vierten EM-Spiel werden sie in jedem Fall auf eine Mannschaft treffen, die den Fokus auf eine saubere Defensivarbeit legt. Gegen Kroatien, Schottland und Tschechien haben sie kein einziges Gegentor kassiert. Das funktioniert vor allem auch deshalb, weil sie mit dem Ball so gut wie gar kein Risiko eingehen. Ballbesitzphasen kennzeichnen sich durch ein recht ideenloses Ballgeschiebe, weil das Mittelfeldzentrum stets unterbesetzt ist. Die Sechser schieben lieber zur Unterstützung auf die Flügel oder bleiben vor den Zwischenräumen und somit vor dem Defensivblock des Gegners stehen, sodass sie bei Kontersituationen eingreifen können.

Möglicher Matchplan der Engländer

Doch diese Partien sind nicht stellvertretend für das, was wir im Achtelfinale sehen werden. England kann sich gegen Deutschland nämlich darauf verlassen, dass der Gegner das Spiel machen will. Die Anlagen beider Teams sprechen klar dafür, dass England in vielen Phasen mit einem tiefen Mittelfeldpressing verteidigen und auf offensive Umschaltmomente lauern wird.

Im Umfeld der englischen Nationalmannschaft wird spekuliert, dass Trainer Gareth Southgate dafür sogar auf eine Fünferkette umstellt. Im Gegensatz zu den Franzosen werden sie damit aber weder Gegner noch sich selbst überraschen: England hat das System schon häufiger gespielt und kann somit auf trainierte Abläufe zurückgreifen.

Mit Offensivspielern wie Graellish, Kane, Sterling und einem aus dem Mittelfeld immer mal wieder aufrückenden Phillips sind die Engländer offensiv immer gefährlich – auch dann, wenn es in der eigenen Ballzirkulation so gar nicht läuft. Zumal er noch richtig Qualität von der Bank nachlegen kann – so wird in englischen Medien derzeit spekuliert, dass Saka starten wird und der gegen Tschechien überzeugende Greallish wieder Platz macht. Wie gut muss ein Kader zudem sein, wenn der Trainer freiwillig auf Jadon Sancho verzichtet? (Oder wie verrückt muss der Trainer sein? Aber anderes Thema. Entschuldigt das unnötige Zeitspiel.) Southgates Ansatz orientiert sich dementsprechend eher an den Portugiesen und Franzosen als an offensivfokussierteren Nationen. Schließlich war das bei den letzten Turnieren auch immer recht erfolgreich (leider).

Deutschland außen festmachen

Das Ziel der Fünferkette, sollten sich die Gerüchte bewahrheiten, dürfte recht klar sein: Southgate will ein Portugal 2.0 verhindern und sein Team wie die Ungarn in der Breite verstärken – zumindest in der Abwehr. Durch drei Innenverteidiger und zwei Flügelverteidiger wird es für die deutsche Mannschaft schwerer, die letzte Linie zu überladen und Verlagerungen zu spielen.

England will die Deutschen auf den Flügeln festmachen und stellen, um dann von dort selbst die Konter zu eröffnen. Und das können sie herausragend gut: Wenn sie auf den Außenbahnen Raum haben, sind sie dazu in der Lage, mit wenigen Kontakten ihre schnellen Stürmer hinter die gegnerische Kette zu bringen. Diagonale Chipbälle von außen in den Tiefenlauf eines Angreifers sind bei dieser EM eine Art Trademarkmove der Engländer geworden. Da müssen die Deutschen stark aufpassen.

In einem idealen Szenario aus Southgate-Perspektive werden die Three Lions hinten kompakt stehen und Deutschland nur einen Pass in den Strafraum erlauben: Die Halbfeldflanke von Matthias Ginter. Ein bewusstes Risiko, weil es in etwa mit dem Risiko vergleichbar ist, das man eingeht, wenn man seinen ausgefüllten Lottoschein wegwirft: Es kann theoretisch sein, dass man einen Millionengewinn verliert, aber die Wahrscheinlichkeit spricht doch eher dafür, dass man es nicht bereuen wird. Ist die Brechstange von Ginter bereits das Mittel der Wahl der Deutschen, haben die Engländer ein erstes Indiz dafür, dass sie vieles richtig machen.

So ist England zu knacken

Doch wo ein Verteidiger mehr ist, wird auch ein Spieler davor fehlen. Und das müssen sich die Deutschen im Achtelfinale besser zunutze machen als noch gegen Ungarn. Zumal die Engländer in den Partien vor der EM, in denen sie auf ihre Fünferkette zurückgegriffen haben, immer mal wieder Angebote gemacht haben.

Kommen wir auch hier direkt zum Punkt: Halbraumüberladungen sollten das Mittel der Wahl für die deutsche Mannschaft sein. Wer im Mittelfeld unterbesetzt ist, hat im zweiten Drittel Probleme beim Verschieben – wenn es der Gegner klug anstellt. Ein Musterbeispiel:

Wenn Ginter andribbelt, zieht er womöglich den linken englischen Achter aus der Kette. Ab diesem Zeitpunkt geht es darum, immer zwei Optionen anzubieten. Denn das bedeutet, dass die Engländer sich entscheiden müssen: Wohin verschiebe ich jetzt? Und wie wir oben gelernt haben: Zeit ist viel wert. In diesem Fall können viele Entscheidungen dazu führen, dass Deutschland wertvolle Zeit bekommt – wenn auch nur Bruchteile einer Sekunde. Auch kreuzende Laufwege sind dafür wichtig, wenn sie gut abgestimmt sind.

Im Beispiel lässt sich Kimmich fallen und zieht dabei den Flügelverteidiger mit raus. Gnabry wiederum füllt die Breite auf, während Müller den vorherigen Gegenspieler Gnabrys bindet. Der muss sich jetzt entscheiden: Halte ich die Position? Dann wird Gnabry frei. Oder gehe ich mit? Dann wird Müller frei. Sollte es einen solchen Spielzug geben, dann wird es auch darauf ankommen, adäquat nachzurücken und den Durchbruch im Halbraum und/oder auf dem Flügel auch in eine Torchance umzumünzen, aber grundsätzlich ist das Muster nicht nur eine theoretische Spielerei.

Die Deutschen haben das so schon das eine oder andere Mal gespielt und auch die Engländer haben den dort gekennzeichneten Raum immer wieder mal angeboten. Wenn die deutschen Spieler also mal wieder wie Studenten im ersten Semester durch den Raumplan irren, um den Zugang zur Veranstaltung zu finden, dann sollten sie sich an den Halbraum erinnern. Denn dort könnten sie eine offene Tür finden. Thomas Müller dürfte der Student sein, der schon im 30. Semester dabei ist und gewissermaßen Jubiläum feiert. Er sollte als Fachschaftsrat helfen können.

Auch das Zentrum wird wichtig sein

Allgemein spielen Zwischenräume im Fußball immer eine wichtige Rolle. Ungarn hat diese mit einer disziplinierten und herausragenden Defensivleistung in den meisten Phasen des Spiels so eng gemacht, dass den Deutschen nichts mehr einfiel (siehe Ginter oben). England wird das – so meine These am Dienstag – aus zwei Gründen nicht so diszipliniert umsetzen können:

  1. Sie haben zu viele Spieler in ihren Reihen, die viel stärker an die Offensive denken als die Ungarn. Zwar konnte Southgate sie in der Vergangenheit immer gut in die Defensivaufgaben einbinden, aber es wird Momente geben, in denen sie automatisch Räume öffnen, weil sie eine Konter- oder Angriffsmöglichkeit sehen.
  2. Taktisch sind die Engländer im Defensivbereich gut, aber nicht so stark abgestimmt wie die Ungarn. Zwischen den Linien öffnen sich, wenn Bewegung im Spiel ist, dann doch einige Möglichkeiten, die den Three Lions auf die Füße fallen können.

Gerade beim Herausschieben sind die Engländer nicht immer aufmerksam genug. Deutschlands große Qualität ist trotz eines bisher holprigen Turniers, dass sie mit Hummels und Kroos zwei herausragende Aufbauspieler haben. Die defensivorientierte und bisweilen vorsichtige Ausrichtung der englischen Mannschaft könnte dazu führen, dass beide den Raum erhalten, den sie für ihr Spiel benötigen. Es wäre ein erster wichtiger Schritt zur Spielkontrolle. Denn Zeit ist wertvoll. Und jetzt habe ich zum Abschluss dann doch eine kleine Klammer im Text eingebaut. Ich versuche mich mit einigen weiteren Beobachtungen zu entschuldigen:

Weitere Beobachtungen

  • England ist anfällig im Spielaufbau, wenn sie unter Druck gesetzt werden. Vor allem die Tschechen zeigten das eindrucksvoll. Mit Halbraumüberladungen gelang es ihnen offensiv, zumindest im ersten Durchgang für etwas Gefahr zu sorgen, die Mannorientierungen im Zentrum führten wiederum dazu, dass das Team von Southgate kaum einen Spielzug geordnet und temporeich eröffnen konnte. Deutschland war gegen Ungarn nicht gut im Pressing, zeigte sich – wie beim 1:2 – sogar offen bei langen Bällen. Agieren sie aber druckvoller und vertikal kompakter, wie teilweise gegen Frankreich und Portugal, haben sie gute Karten auf hohe Ballgewinne.
  • Die (halb-)rechte deutsche Seite könnte ein guter Bereich zum aggressiven Anlaufen werden. Einerseits ist Müller dort zuhause, andererseits könnte es sein, dass Harry Maguire dort spielt. The Athletic stellte in einer längeren Analyse heraus, dass der Innenverteidiger den Ball oft nur mit seinem starken rechten Fuß behandelt. Auch schon bei der Ballannahme. Das führt dazu, dass er sich selbst den Weg nach außen immer wieder mal verbaut und sich in seinen Passwinkeln einschränkt. In einer Dreierkette rückt er vielleicht nach innen, wo es nicht ganz so ins Gewicht fällt, aber auf dem Schirm haben sollte es die deutsche Mannschaft. Details. Ich liebe Details.
  • Die Rolle von Havertz könnte ebenso entscheidend sein wie jene von Müller. Wenn die Deutschen im Zentrum keine Angebote machen, werden sie auf den Flügeln am langen englischen Arm verhungern. Havertz ist ein extrem laufintelligenter Spieler, dessen „Drehtür“-Qualitäten häufiger genutzt werden sollten. Anbieten im Zwischenraum, aufdrehen, Tiefenläufe hinter die Kette anbieten und dann genießen, was Havertz mit dem Ball anfängt. Zugegeben: Viel Theorie. Praktisch hatte er bereits viel Licht und Schatten in diesem Turnier. Aber Duelle mit England sind gegebenenfalls ein guter Anlass, um den Durchbruch zu schaffen.
  • Ich bin gespannt, ob Southgate mit Phillips plant. An ihm hatte ich in der Gruppenphase der Engländer zwar meinen größten Spaß, aber er ist Gruppen taktisch auch etwas undisziplinierter. Immer wieder bringt er ein wildes Element ein, besetzt dabei aber klug die Zwischenräume. Nur ist er der Spielertyp, den es gegen Deutschland braucht? England wird oft ohne Ball sein und da ist Phillips in der englischen Grundausrichtung vielleicht einen Tick zu forsch. Vorstellbar, dass Southgate deshalb erstmal auf ihn verzichtet – andererseits kann er mit dem Ball eine echte Waffe im Umschaltspiel sein.
  • Auf der anderen Seite wird es spannend zu sehen, ob Löw weiterhin auf den mit seiner Rolle fremdelnden Gündogan setzt. Goretzka ist wieder fit und hat in kurzer Zeit gegen Ungarn gezeigt, wie wichtig er mit seiner Strafraumbesetzung sein kann. Vielleicht ist er sogar der Lottogewinn für die Deutschen, wenn Ginter wieder versucht, die massive Abwehr des Gegners mit Schaufelflanken aus dem Halbfeld weichzuklopfen. Gerade im Pressing kann er aber sehr wertvoll sein. Löw sollte sich mehrfach überlegen, ob er Goretzka für irgendeinen Spieler opfert.
  • Die Rechnung ist ja ganz einfach: Zwei spektakuläre Spiele am Vortag + eine offensiv eher biedere deutsche Mannschaft + eine defensivfokussierte englische Mannschaft = ein absoluter Grottenkick. Doch stellen wir diese Rechnung noch nicht zu früh aus. Gerade weil beide Teams anfällig für Fehler sind, kann sich das Setting je nach Spielverlauf auch schnell ändern. Ich sehe durchaus das eine oder andere Szenario, in dem der langweilige Klassiker zum Spektakel werden könnte.