Doppelpack: Frauenfußball. Eine Kontroverse. Teil 2/2
Zwei Autoren, zwei Meinungen – vielleicht aber doch ein gemeinsames Fazit? Gestern sprachen Alex und Justin über die Attraktivität und ökonomische Aspekte des Frauenfußballs. Im zweiten Teil heute geht es um die gesellschaftliche Bedeutung des Frauenfußballs, denn Ökonomie ist nicht alles.
Teil 2: Gesellschaftliche Bedeutung des Frauenfußballs
Justin: Lass uns doch mal über weitere Faktoren sprechen, die eine Rolle spielen, wenn es um das Investment in den Frauenfußball geht. Ohne die ökonomisch vielleicht nicht sofort rentablen Investitionen der zugehörigen Männervereine wird der Frauenfußball aus sich selbst heraus nicht in der Lage sein, eine Entwicklung in Richtung mehr Wachstum zu gehen. Die Frage danach, ob das überhaupt gerechtfertigt ist, erübrigt sich aus meiner Sicht aber. Denn es sind explizit Männer, die über viele Jahrzehnte hinweg selbst dafür gesorgt haben, dass sich der Frauenfußball nie aus eigener Kraft entwickeln konnte.
Bis in die Siebziger hinein gab es Verbote und Unterdrückung, es wurden Stereotype gebildet, die bis heute tief in der Gesellschaft verankert sind. Und auch nach den Siebzigern gab es keine große Wertschätzung für den Frauenfußball. Diese hat sich in Deutschland erst in den 2000er Jahren angefangen zu entwickeln. Wir haben das Jahr 2022 und dennoch habe ich nicht das Gefühl, dass ein Großteil der Gesellschaft anerkennt, dass es etwas mit sozialer Verantwortung zu tun hat, Frauen- und Mädchenfußball stärker zu fördern.
Alex: Gut, dass du das so genau erklärst. Denn an dieser Frage entzündete sich unser Streit. In unserer Debatte im Slack-Chat hatte ich anlässlich der ökonomisch dürftigen Zahlen des Frauenfußballs festgestellt, dass er ganz offensichtlich keine ökonomische Basis habe beziehungsweise seine Existenz nicht ökonomisch begründbar sei. Das kam bei dir so an, und das verstehe ich auch, als würde ich seine gesamte Existenz grundsätzlich infrage stellen. Das wollte ich keineswegs.
Nimm beispielsweise die Kulturbranche: Wir, als Gesellschaft, erkennen sie als wertvoll an, obwohl sie in vielen Teilbereichen ohne staatliche Unterstützung ökonomisch nicht überlebensfähig wäre: Museen, Theater, Opernhäuser, kleinere Programmkinos und so weiter. Allerdings leistet die Kulturbranche durch ihre Produkte einen bedeutenden Beitrag zur moralischen und intellektuellen Bildung des Menschen, und zwar in einem ganz eigentlichen, plastischen Sinne von Bildung als „Formung“ der Persönlichkeit. Sie liefert uns Reflektionsebenen, an denen wir unser eigenes Denken und Handeln spiegeln und entwickeln können. Damit erfüllt sie einen hohen gesellschaftlichen Wert, der weit über die Frage ihrer ökonomischen Reproduktionsfähigkeit hinausgeht.
Dieses Argument lässt sich analog auf den Frauenfußball übertragen. Der Frauenfußball ist mehr als nur Umsatz und Gewinn, er ist mehr als das bloße Schielen auf Zuschauerzahlen in den Stadien und an den Empfangsgeräten (so wichtig dies im operativen Tagesgeschäft auch sein mag). Denn ähnlich wie die Kulturbranche hat auch die Frauenfußball-„Branche“ eine gesellschaftliche Dimension. Ihr Aufstieg repräsentiert einen Aufstieg an Teilhabe, Emanzipation und Gleichberechtigung in unserer Gesellschaft.
Insofern sind ein Wachstum in die Breite und ein Aufstieg des Frauenfußballs unter anderem auch deshalb gesellschaftlich so bedeutend, weil er die Chance der Teilhabe auch dem weiblichen Teil der Bevölkerung an seinem mit Abstand beliebtesten und präsentesten Sport bedeutet. Dies beginnt bereits im Kindes- und Jugendalter, wo organisierter Mädchenfußball glücklicherweise schon seit längerem vollkommen normal und weit verbreitet ist, und reicht bis hin zur professionellen, beruflichen Ebene der Ausübung des Sports als primäres Mittel der Sicherung des Lebensunterhalts eines Menschen. Professioneller Frauenfußball ist in Deutschland zwar überhaupt erst seit 1970 erlaubt, aber sein beständiges Wachstum macht es inzwischen möglich, dass immer mehr professionelle Spielerinnen sogar einigermaßen anständig von ihrer Füße Arbeit leben können, was auch einen großen Fortschritt an Gleichberechtigung im Arbeitsmarkt in unserer Gesellschaft bedeutet.
Justin: Nur leider ist ist die Realität für viele Mädchen und Frauen eine andere. Grundsätzlich gebe ich dir in deinen Ausführungen recht, wenn es um die Theorie geht. In der Praxis hängen wir in Deutschland noch weit hinterher – gesellschaftlich, aber auch in der konkreten Umsetzung beim DFB beispielsweise.
Gesellschaftlich, weil Frauen im Alltag immer noch abfällig behandelt werden, wenn es um Fußball geht. Frag einfach mal zehn weibliche Fußball-Fans, wann sie zuletzt danach gefragt wurden, ob sie die Abseitsregel erklären können. Und dann frag zehn männliche. Neulich auf Twitter habe ich lediglich angemerkt, dass ich die Werbung der TSG Hoffenheim für den Doppelspieltag der Frauen und der Männer gegen den FC Bayern als gelungener empfand als bei den Münchnern. Die Reaktionen haben mich regelrecht schockiert. Beleidigungen, Diffamierungen, Homo- und Frauenfeindlichkeit.
Alex: Gut, aber so etwas ist in meinen Augen dann doch eher Ausdruck der intellektuellen Armseligkeit solcher Leute als ein fundiertes Urteil über den Frauenfußball. Wahrscheinlich haben sie generell nicht viel Freude im Leben, können anderen Menschen nichts gönnen, und suchen nur nach Ventilen, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen. Heute ist es Frauenfußball, morgen finden sie etwas anderes. Darauf würde ich nichts geben.
Justin: Vielleicht, aber Fakt ist, dass die meisten Frauen so etwas nach wie vor im Alltag erleben und dieses Problem dürfen wir nicht damit wegwischen, dass es sich dabei nur um einige lebenstraurige Spinner handelt und sich seit den Siebzigern sehr vieles verändert und getan hat, sondern wir müssen weiter darauf aufmerksam machen und weiter dagegen ankämpfen.
Im ersten Teil unseres Gesprächs hast du den DFB angesprochen. Von diesem kam die Förderung des Mädchenfußballs auf sehr vielen Ebenen zu kurz. Das beginnt damit, dass es zu wenig Fachkräfte gibt, die speziell darauf ausgebildet sind, mit jungen Mädchen zu arbeiten. Wie viele Trainer:innen beim DFB sind beispielsweise männlich? Wie viele davon haben in ihrer Ausbildung gelernt, welche Unterschiede es zwischen den Geschlechtern gibt? Anatomisch, in Fragen der Belastung, später dann auch mit Blick auf die Periode und angepasste Trainingseinheiten – das ist jetzt ein sehr konkretes und kleinteiliges Thema, aber eines von vielen.
Oberflächlich lässt sich sagen, dass die Rahmenbedingungen sowohl im Frauen- als auch im Mädchenfußball alles andere als optimal sind. Das Thema muss zwingend vom DFB angegangen werden. Was die Bezahlung angeht, bin ich auch etwas anderer Meinung. Natürlich sind wir da ganz schnell wieder bei der ökonomischen Frage, wo das Geld herkommen soll, aber ein sehr großer Teil an Spielerinnen in der Frauen-Bundesliga ist nicht dazu in der Lage, mit dem Fußball ihren Lebensunterhalt zu finanzieren.
Und dann kommt die Sicherung der Zukunft ins Spiel: Schaffen sie den Einstieg ins Berufsleben nach der Karriere ohne konkrete Berufserfahrung? Wie bereiten sie sich während der Fußballkarriere schon darauf vor? Wie beeinflusst das den sportlichen Alltag? Das sind Themen, die angegangen werden müssen. Natürlich generiert der Männerfußball Geld in Dimensionen, die kaum greifbar sind. Aber ich persönlich sehe es als Teil der gesellschaftlichen Verantwortung, dass die Verbände und Klubs Lösungen finden, um diese Probleme zu lösen.
Alex: Danke für die Erklärung, sehr interessant. Gerade was die Spezifika einer geschlechtergerechten Trainerausbildung angeht, waren mir die Probleme im einzelnen gar nicht bewusst. Aber ich finde diesen Gedanken der Differenz auch unter einem anderen Gesichtspunkt interessant. Meines Wissens, vielleicht korrigierst du mich auch gleich, ist es in ganz jungen Jahren mittlerweile zur Normalität geworden, dass Mädchen und Jungen gemeinsam in einer Mannschaft spielen.
Ich persönlich finde das begrüßenswert. Denn es lehrt die Kinder schon in ganz frühen Jahren, lange bevor sich die geschlechtlichen Unterschiede in der körperlichen Entwicklung manifestieren und Frauensport und Männersport sich trennen, dass das weibliche Geschlecht ebenso lebhaft und ebenso selbstverständlich auf dem Fußballfeld stehen und um den Ball kämpfen kann wie das männliche.
Für den Fußball wäre diese Wahrnehmung von Universalität und Gleichberechtigung der Geschlechter von Kindesbeinen an wichtig, denn wenn Frauen bereits von Anfang an, als junge Mädchen, als schwächer oder weniger fähig wahrgenommen und von den Jungen separiert werden, pflanzt sich diese Trennung quasi als Erbsünde bis in die letzten Stufen fort. Sie werden dann im organisierten Fußball als Spielerinnen und Funktionäre von Grund auf Nachteile aller Art gegenüber Männern erfahren und es wäre dann natürlich auch nicht zu erwarten, dass sie hinterher in nennenswerter Zahl in den Klassen der Hannes-Weisweiler-Akademie oder auf den Chefposten des DFB sitzen (wo es ja immerhin auf dem letzten Bundestag mit der Wahl von Frau Sinning ins Präsidium sichtbare Bewegung in dieser Sache gab).
Justin: Zumindest mal ist es wichtig, dass schon im Kindesalter verankert wird, dass Fußball eben Fußball ist und dieser von allen gespielt werden darf und soll. Diese Grundeinstellung muss die Basis sein. Heute ist sie das noch nicht, aber in der Zukunft muss es das Ziel sein, das zu erreichen.
Alex: Da stimme ich dir natürlich zu. Aber idealerweise wäre das nur der Anfang, denn – und jetzt regt sich vielleicht der Sozialutopist in mir – wenn dieses selbstverständliche Neben- und Miteinander der Geschlechter vom Fußball ausgehend in ein oder zwei Generationen zu einer allgemeinen gesellschaftlichen Norm würde, dann hätte der Frauenfußball unschätzbare Dienste für den gesellschaftlichen Fortschritt in unserem Land geleistet.
Ich könnte mir vorstellen, dass Fußball diese Kraft hat. Denn der Fußball ist ein Sport, der in unserer Gesellschaft in allen Schichten gleichermaßen verankert, beliebt und wichtig für die Wahrnehmung ‚vom Menschen‘ ist. Daher hat die Emanzipation der Frau im Fußballkontext eine große gesellschaftliche Kraft. Hier sieht jeder, vom Kraftfahrer bis zum Professor, was Frauen alles können und dass sie auch die Sachen genauso gut können wie die Männer, die historisch eher mit diesen assoziiert werden.
Justin: Nur lautet auch hier das ernüchternde Fazit, dass wir von einer solchen Situation noch weit entfernt sind. Viele Männer urteilen letztendlich: Es muss doch reichen, wenn mir das alles egal ist und ich sie einfach machen lasse. Das soll keinesfalls eine Wertung demgegenüber sein, dass sie sich schlicht nicht für den Frauenfußball interessieren (wollen). Das steht allen Menschen frei.
Allerdings habe ich dann doch das Gefühl, dass zu viele nicht betroffene Menschen wegschauen, während die Realität eine andere ist, als sie selbst für sich in ihrer Blase wahrnehmen. Es ist ein Privileg, sich von diesen gesellschaftlichen Problemen einfach abzukapseln, weil sie einen selbst nicht betreffen. Betroffene können das nicht. Sie müssen diesen Kampf jeden Tag kämpfen. Und sie brauchen dabei unsere Unterstützung.
Für die Zukunft wünsche ich mir einfach, dass es immer mehr Männern nicht mehr ausreicht, das einfach zu ignorieren und Frauenfußball oder allgemeine Interessen von Frauen als solche einfach sein zu lassen, sondern dass sie sich aktiver dafür einsetzen, dass Frauen in unserer Gesellschaft gleichwertig behandelt werden – und eben nicht nur am internationalen Frauentag, wenn dann mal ein paar Blumen auf dem Tisch stehen.
Frauenfußball ist da nur ein kleines Puzzleteil von sehr vielen.
Alex: Ob ich am Ende unseres schönen Gesprächs deinem Anfall von Kulturpessimismus im Hinblick auf die grundsätzliche Stellung der Frau in unserer Gesellschaft folgen möchte, darüber muss ich erst noch einmal ausführlicher nachdenken. Aber grundsätzlich sind wir uns einig: Im Fußball ist in Sachen Emanzipation und Gleichberechtigung noch sehr viel mehr möglich, nicht nur beim DFB.
Justin: Ich denke, dass wir hier einfach ganz grundsätzlich unterschiedliche Blickwinkel vertreten, weil wir unterschiedlich im Thema verankert sind. Ich sehe das nicht als Kulturpessimismus. Es gibt eine kulturelle und gesellschaftliche Vergangenheit. Der DFB und der Umgang mit dem Frauenfußball insgesamt resultieren zu beachtlichen Teilen nach wie vor aus dieser Vergangenheit heraus. Dagegen anzukämpfen, kann ermüdend sein. Ich als Mann habe in den letzten Jahren während der Berichterstattung nur einen Bruchteil von dem erfahren, was Frauen alltäglich erfahren.
Von außen wird da ganz gern Kulturpessimismus unterstellt, wenn Probleme und Missstände benannt werden. Damit spricht man der Realität ein Stück weit auch ab, dass sie existiert. Wenn mir Frauen erzählen, dass sie all das erleben, kann ich ihnen als Mann nicht sagen, dass das nur eine pessimistische Grundhaltung ist. Probleme anhören, darüber sprechen und auch Skepsis äußern, wenn Skepsis angebracht ist – vor allem aber Frauen zuhören – das finde ich sehr wichtig.
Zugleich sehe ich natürlich auch deinen Punkt: Von außen betrachtet wirkt es in Deutschland so, als hätte der Frauenfußball Quantensprünge gemacht – und das hat er. Aber er könnte noch viel weiter sein. In der gesellschaftlichen Akzeptanz und rein sportlich sowie ökonomisch. Deshalb liegt mir dieses Thema so am Herzen. Das wird noch ein sehr langer Weg, ohne das, was du als “Pessimismus”, ich aber viel mehr als aufrichtige Kritik bezeichnen würde, wird das nicht gehen.
Alex: Hätte ich geahnt, dass ich mit dem Begriff „Kulturpessimismus“ diese Reaktion bei dir auslösen würde, hätte ich eine andere Formulierung gewählt. Ich hatte nur den Eindruck, dass wenn es um die Gleichberechtigung von Mann und Frau in Deutschland geht, der Begriff der „Betroffenheit“ vielleicht etwas stark gewählt ist, so als wäre Frau zu sein hierzulande per se eine Form der Betroffenheit. Ich habe eine andere Auffassung als du davon, wie es um die Gleichberechtigung von Mann und Frau in unserer Gesellschaft bestellt ist, nämlich trotz aller berechtigten Klagen objektiv gar nicht so schlecht, aber ich möchte dir deine Erfahrung natürlich nicht in Abrede stellen.
Selbstverständlich, und das habe ich in diesem Gespräch ja auch versucht deutlich zu machen, ist ein Mehr immer möglich und in diesem Zusammenhang halte ich den Fußball aufgrund seiner hervorgehobenen gesellschaftlichen Stellung auch für einen starken Motor für noch mehr Gleichberechtigung in unserer Gesellschaft. Wenn das bedeutet, dass die Frauenabteilungen vieler großer Fußballvereine dauerhaft Verluste schreiben und aus sich selbst heraus ökonomisch nicht lebensfähig sind, wenn es bedeutet, dass der Stadionbesucher mit seinem Ticket und der Fan mit seinem Trikotkauf nicht nur den nächsten Multimillionen-Transfer ihres Lieblingsvereins finanzieren, sondern auch einem professionellen Team aus 25 Spielerinnen plus Stab ihr auskömmliches Einkommen ermöglichen, dann ist das ein kleiner Preis zu zahlen in Anbetracht des größeren gesellschaftlichen Beitrags des Frauenfußballs, denn er mir ist wichtiger als die Frage seiner materiellen Reproduktion.
Möglicherweise werde ich zwar kein eingefleischter Fan mehr, aber kürzlich habe ich mich immerhin dabei ertappt, wie ich mir nach unserer Diskussion, auf der dieses Gespräch beruht, eine Zusammenfassung eines Spiels der Bayern in der Sportschau angeguckt habe. Und mein Versprechen aus Teil 1 steht ja sowieso.
Justin: Ich denke auch gar nicht, dass wir diese Diskussion an dieser Stelle weiter vertiefen sollten. Wir sind beide Männer und wir können beide nicht abschließend beurteilen, ob “Frau sein“ eine Form der Betroffenheit ist. Das müssen Frauen selbst beurteilen und wir müssen zuhören und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Geht es Frauen besser in unserer Gesellschaft als vor 50 Jahren? Vermutlich. Geht es ihnen deshalb automatisch in allen Belangen gut? Das kommt auf die Person selbst an. Deshalb würde ich es nicht per se ausschließen.
Was dein Versprechen angeht: Sehr gerne gehen wir mal zusammen zu einem Spiel.
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Und damit endet das Gespräch der beiden. Eine kontroverse Debatte mit durchaus unterschiedlichen Ansichten, basierend auch auf unterschiedlichen Lebenserfahrungen, neigt sich dem Ende. Jetzt steht eigentlich nur noch der gemeinsame Stadionbesuch aus. Ob die beiden ihr nächstes persönliches Aufeinandertreffen überleben werden?