Die vermeintliche wirtschaftliche Verantwortungslosigkeit des Profifußballs

Alexander Trenner 22.04.2020

Als Kernargument führen sie dabei die fehlende allgemeine Verfügbarkeit von Covid-19-Schnellstests ins Feld, bei deren Gewährleistung die Bundesliga keine Sonderrolle einnehmen und in Konkurrenz zu anderen gesellschaftlichen Bereichen treten dürfe, bei denen eine schnelle Durchführung von Tests deutlich wichtiger sei.

Darüber hinaus prangern die Fanszenen den Profifußball als ein krankes System an, das es versäumt habe, in den letzten Jahren trotz immens hoher Umsätze ausreichend hohe Rücklagen für Notsituationen wie die aktuelle zu bilden und in dem es an Solidarität zwischen den großen und kleinen Vereinen mangele.

Ich finde die Stellungnahme der Fans in großen Teilen nachvollziehbar und schlüssig, aber ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich an dieser Stelle einmal ganz explizit gegen den auch in ihrem Beitrag wiederholt bedienten Tenor vom „kranken“ oder „kaputten“ „System Profifußball“ zu äußern.

In einem zweiten Schritt möchte ich mich einmal ganz grundsätzlich gegen den in diesen Tagen so viel proklamierten Gegensatz von „Wirtschaft“ und „Mensch“ wenden  („Menschenleben sind wichtiger als die Wirtschaft“ u. ä.).

Wirtschaftet der Profifußball unverantwortlich?

Um sämtlichen eventuellen Unklarheiten direkt zu begegnen, möchte ich vorab sagen, dass ich mich nicht für eine Sonderrolle des Profifußballs stark mache.

Falls eine baldige Wiederaufnahme des Spielbetriebs in den Bundesligen zwingend regelmäßige präventive SARS-Cov-2-Tests voraussetzt und falls es nicht genügend Test-Kapazitäten gibt und auch weitere notwendige Vorbedingungen nicht ohne in Konkurrenz zu anderen Wirtschaftszweigen treten zu müssen gewährleistet werden können, sehe ich keinen Grund, warum der Fußball eine Vorzugsbehandlung bei der Ermöglichung der Wiederaufnahme seines Geschäftsbetriebs bekommen sollte.

Er hat meines Erachtens genauso viel und genauso wenig Anspruch auf eine faire und gleiche Behandlung wie alle anderen Wirtschaftszweige auch. 

Das Kernproblem, das viele, die über das kaputte System Profifußball sprechen, ausgemacht zu haben scheinen ist, dass es die Vereine trotz milliardenhoher Umsätze (ca. 4 Mrd. Euro in der 1. BL und 0,8 Mrd. in der 2. BL im Geschäftsjahr 2018/19) versäumt hätten, ausreichend hohe Rücklagen zu bilden um auf eine Situation wie die aktuelle, in der wie aus dem Nichts der Spielbetrieb von heute auf morgen eingestellt wird und ein Saisonabbruch nach ⅔ der Spielzeit droht, finanziell vorbereitet zu sein.

Ich halte diesen Vorwurf für vollkommen unberechtigt und er ist für mich nur mit ziemlicher ökonomischer Kenntnislosigkeit zu erklären.

Zur Veranschaulichung dieses Arguments werfe ich im Folgenden einen Blick auf die Einnahmenseite, die Ausgabenseite und den Aspekt der verantwortlichen Geschäftsführung im Profifußball und versuche darzulegen, warum er sich in der Vergangenheit geschäftlich eher rational und verantwortlich als riskant und leichtfertig verhalten hat.

1. Die Einnahmenseite

Spielertransfers außen vor gelassen hat der Profifußball drei relevante Einnahmeklassen: Die Einnahmen aus der medialen Vermarktung, die Einnahmen aus dem Spielbetrieb und die Einnahmen aus Werbung, Sponsoring und Merchandising.

Als direkte Konsequenz der Coronavirus-Pandemie sind die Einnahmen aus den ersten beiden Einnahmeklassen (TV-Vermarktung und Spielbetrieb) von heute auf morgen zu quasi 100% weggebrochen. Nicht zu 10% oder zu 20%, sondern zu 100%. In Worten: Vollständig.

Gleichzeitig liegt auf der Hand, dass die Fußballvereine in dieser Zeit auch bei Werbung und Sponsoringverträgen je nach Vertragsgestaltung Mindereinnahmen werden verzeichnen müssen, weil Promotion-Veranstaltungen nicht mehr stattfinden können und Werbebanner und Bandenwerbung im Stadion nicht mehr zu sehen sind. Unter der jetzt geringeren weltweiten medialen Präsenz der Marken und Logos der Fußballvereine dürfte zudem auch das Merchandising-Geschäft leiden, ebenso wie unter der geringeren Kaufbereitschaft der Fans für Fanartikel in der Krise.

Der Einnahmeverlust liegt in diesem Bereich natürlich nicht bei 100%, aber dürfte je nach Vertragsgestaltung mit den Werbepartnern bzw. Konsumneigung der Kunden nennenswert zurückgehen. Summa summarum lässt sich also festhalten, dass die Fußballvereine in der Corona-Krise als Wirtschaftsunternehmen einen Großteil ihrer gesamten Einnahmebasis verloren haben.

Unter diesen Bedingungen kann kein Wirtschaftsunternehmen langfristig existieren, nicht nur das „kranke System Profifußball“ nicht. Denn aussagekräftig ist hier nicht etwa die Profitabilität eines Unternehmens oder die absolute Höhe seines Umsatzes, sondern seine Liquidität. Ist die Liquidität nicht mehr gegeben, d. h., kann ein Unternehmen seine laufenden Ausgaben nicht mehr aus seinen laufenden Einnahmen und seinen liquiden Reserven stemmen, droht unmittelbar die Insolvenz.

Welches Unternehmen ist in der Lage, seine Liquidität verlässlich zu gewährleisten, wenn ihm plötzlich und unvorhersehbar ein Großteil seiner Einnahmen wegbricht? Die wenigsten. Die Medien quillen über mit Berichten über Unternehmen, die wegen des plötzlichen Wegbrechens ihrer Einnahmen Kurzarbeit beantragt haben oder andere staatliche Hilfen in Anspruch nehmen möchten, vom großen DAX-Konzern bis hinab zum kleinen Solo-Selbständigen. Ich kann nicht erkennen, dass der Fußball in dieser Beziehung besonders „krank“ sein soll.

2. Die Ausgabenseite

Es ist von essentieller Bedeutung für das Funktionierens eines Wirtschaftskreislaufs, dass das von den an ihm beteiligten Akteuren eingenommene Geld auch wieder ausgegeben wird. Im Kern ist Geld nichts anderes als die abstrakte symbolische Repräsentation konservierter wirtschaftlicher Aktivität. Soll ein Wirtschaftssystem funktionieren, können die einzelnen Wirtschaftssubjekte keine Dagobert Ducks sein und ihr Geld in einem großen Geldspeicher horten. Denn wenn ein Wirtschaftssubjekt Geld „auf die hohe Kante“ (in den Geldspeicher) legt, entzieht es damit die durch dieses Geld repräsentierte wirtschaftliche Aktivität unmittelbar dem Wirtschaftskreislauf und sorgt dafür, dass es an anderen Orten zu weniger wirtschaftlicher Tätigkeit in entsprechender Höhe kommt.

Des Einen Ausgaben sind des Anderen Einnahmen und gespartes Kapital steht anderen Wirtschaftssubjekten allerhöchstens über die Aufnahme von Krediten zur Verfügung.

Dieser Zusammenhang von Einnahmen, Ausgaben und wirtschaftlicher Effizienz gilt logischerweise auch für Fußballvereine. Das Geld, was reinkommt, geht wieder raus. Es muss wieder rausgehen, damit das System insgesamt funktionieren kann. In einer idealen Welt gäbe es keine Rücklagen, sondern sämtliches Geld befände sich ständig im Umlauf, d. h. das gesamte wirtschaftliche Potenzial einer Volkswirtschaft wäre ständig mobilisiert. In der realen Welt müssen Unternehmen natürlich gewisse Rücklagen bilden, um plötzliche geschäftliche Risiken abfedern zu können ohne Gefahr zu laufen, insolvent zu werden. Aber es findet eine ständige feine Gratwanderung zwischen zu vielen und zu wenigen Rücklagen statt. Zu viele und das Unternehmen verschenkt wirtschaftliche Aktivität und zieht zudem das Wirtschaftssystem insgesamt in Mitleidenschaft, zu wenige und es droht bei plötzlich eintretenden Geschäftsrisiken in Existenznot zu geraten. 

Natürlich kann man sich grundsätzlich darüber unterhalten, ob die Verteilung der Ausgaben eines Fußballvereins in ihrer aktuellen Form wünschenswert ist, in der ein Großteil des eingenommen Geldes in den Spielerapparat fließt, aber diese Verteilung hat ja kein Diktator oder böser Geist von oben so diktiert, sondern ist als Ergebnis ganz normaler marktwirtschaftlicher Prozesse im Zeitablauf so entstanden.

Rein marktwirtschaftlich betrachtet hat sich die jetzige Allokation der Ressourcen im Sinne der effektiven Zielerreichung der Fußballvereine im Wettbewerb untereinander als der effizientestmögliche Zustand ergeben.

Den Fußballvereinen jetzt vorzuwerfen, sie hätten zu kurzsichtig oder fahrlässig agiert indem sie in einem monströsen Ausmaß zu viel Geld in ihre Spieler (letztendlich die Produktionsmittel ihrer Produkte) und bei weitem nicht genug in ihre wirtschaftliche Sicherheit investiert hätten, verkennt, wie marktwirtschaftliche Abwägungsentscheidungen im Wettbewerb funktionieren. Eigentlich haben die Fußballvereine ihre Zahlungsströme nach vollkommen rationalen Gesichtspunkten optimiert. Wer die im Weltmaßstab besten Produkte herstellen möchte, braucht die besten Produktionsmittel und Ressourcen. Das gilt für ein Industrieunternehmen genauso wie für einen Fußballverein.

Wenn ein weltweiter Konkurrenzkampf um das Produktionsmittel „Profispieler“ herrscht und die Verfügbarkeit begrenzt ist, müssen eben die Mitstreiter um die höchste Qualität des knappen Guts preislich ausgestochen werden (sowohl bei Transfers als auch beim Unterhalt), wenn man das Ziel hat, ein Weltklasseprodukt, sprich den weltbesten Fußball, herzustellen. Unter diesen Vorzeichen wirtschaftlich inaktive Rücklagen in unter Normalbedingungen niemals benötigter Höhe zu bilden, wäre wirtschaftlich vollkommen ineffizient.

Aber halt! Wäre die Bildung von Rücklagen in ausreichender Höhe um einer Ausnahmesituation der Kragenweite einer Virus-Pandemie zu begegnen, tatsächlich falsch bzw. ineffizient gewesen?

3. Die „Good governance“ / „responsible business conduct“-Seite

Natürlich kann man jetzt im Nachhinein schlau sagen, dass die Vereine oder die DFL in deren Auftrag doch Rücklagen hätten bilden müssen und es ein Armutszeugnis sei, dass sie in der jetzigen Situation nicht einmal drei Monate ohne Einnahmen überleben könnten.

Ich widerspreche entschieden. Das Gegenteil ist richtig. Wenn die Fußballvereine jetzt ausreichend Rücklagen hätten, um die aktuelle Situation einfach so ohne weiteres überbrücken zu können, würde ich den Geschäftssinn der verantwortlichen Personen im Management der Vereine und bei der DFL dringend hinterfragen wollen. Das Dilemma von Rücklagen grundsätzlich habe ich gerade beschrieben. Rücklagen sind im Prinzip totes Geld, sprich tote wirtschaftliche Tätigkeit. Es ist also sowohl im Interesse eines einzelnen Unternehmens als auch der Wirtschaft insgesamt, dass Rücklagen in einem vernünftigen Maße gebildet werden und nicht um ihrer selbst Willen. Dagobert Duck ist kein guter Geschäftsmann.

Aber haben es die Fußballvereine bzw. die DFL nicht versäumt, Rücklagen in eben einer solchen „vernünftigen“ Höhe zu bilden? Die Antwort ist ein klares nein. Denn erstens siehe Punkt 1. Den Profifußball als Geschäftstätigkeit trifft gerade auf breiter Front ein nahezu totaler Einnahmenverlust. Zweitens laufen gleichzeitig wesentliche Teile seiner Ausgaben unverändert weiter. Bei Profifußballvereinen gibt es hohe Fixkosten für laufende Gehälter, Mieten, Pachten, Zinsen und Tilgung, Unterhalt der Infrastruktur, Steuerzahlungen usw. Diese können im Gegensatz zu den Einnahmen nicht einfach so von heute auf morgen auf Null heruntergefahren werden.

Drittens – und dieser Punkt ist wesentlich – ist die Covid-19-Pandemie kein absehbares oder im Sinne einer verantwortungsvollen Geschäftsführung vernünftigerweise kalkulierbares Risiko, auf dessen Eintreten man sich im Vorhinein im Zuge einer vorausschauenden Risikoprävention besonders hätte vorbereiten müssen. Noch im Dezember war von einer weltweiten Virus-Pandemie nicht einmal im Ansatz etwas zu erahnen und nur gut drei Monate später steht praktisch die gesamte entwickelte Welt wirtschaftlich still. Ein solcher „Schwarzer Schwan“ taucht in niemandes Risikopräventionsplan auf (oder wenn, dann nur abstrakt als eben solcher, als „Schwarzer Schwan“, auf den man sich nur sehr begrenzt vorbereiten kann).

Gleichzeitig ist es so, dass meines Erachtens die Profifußballvereine im Durchschnitt nicht übermäßig schlecht auf plötzlich eintretende und ihre Liquidität bedrohende Geschäftsrisiken vorbereitet sind. Die durchschnittliche Eigenkapitalquote (= Eigenkapital/Bilanzsumme) der Vereine der 1. Bundesliga beträgt 47,7%, ein im Vergleich mit anderen mittelständischen Unternehmen sehr guter Wert. Auch hinter DAX-Konzernen muss sich der Fußball damit nicht verstecken.

Wohlgemerkt ist das Eigenkapital eines Unternehmens nicht gleichbedeutend mit kurzfristig verfügbaren liquiden Mitteln. Das Eigenkapital ist die Summe, die übrig bleibt, wenn man die Verbindlichkeiten eines Unternehmens von seinem Vermögen abzieht. Ist dieser Wert größer Null, hat ein Unternehmen auf dem Papier mehr Vermögen als Schulden. Natürlich ist nicht jede Vermögensposition liquide oder unmittelbar liquidierbar, könnte also in einer Aunahmesituation wie der aktuellen zur Gewährleistung der Liquidität dienen. Besitze ich irgendwo ein altes Schloss, bin ich möglicherweise unfassbar vermögend, aber kurzfristig zu Geld machen um damit meine laufenden fixen Kosten decken zu können lässt es sich wohl kaum.

Das Vermögen der Fußballvereine der 1. Bundesliga besteht zu größten Teilen aus dem Spielerkader, der Vereinsinfrastruktur (Trainingsgelände, Stadion) und offenen Forderungen. Auch wenn diese Vermögenspositionen nur sehr begrenzt bis gar nicht unmittelbar liquidierbar sind, kann den Vereinen ihre relativ anständige Eigenkapitalquote sehr dabei helfen, kurzfristig liquide Mittel zu akquirieren, beispielsweise über die Aufnahme eines Kredits mit dem Immobilienvermögen als Sicherheit. Bei einer durchschnittlichen Eigenkapitalquote von annähernd 50% wird man es den Vereinen nicht als Kurzsichtigkeit vorwerfen können, wenn sie davon ausgehen auf plötzlich auftretende Geschäftsrisiken schnell reagieren zu können – solange diese in einem normalen Rahmen bleiben.

Selbstverständlich ist mir bewusst, dass ich hier Durchschnittszahlen referiere, die Profifußballvereine in Deutschland aber finanziell bei weitem keine homogene Einheit bilden, sondern höchst unterschiedlich stark aufgestellt sind. Der FC Bayern steht finanziell bestimmt besser da als der FC Schalke 04. Da es zwar für das Gesamtsystem Profifußball kein Problem ist, wenn ein oder zwei Vereine insolvent werden, aber sehr wohl, wenn es 13 der 36 Profivereine trifft, kann ich mich der Forderung der organisierten Fans nach Solidarität zwischen den Vereinen nur anschließen. Kein Verein profitiert davon, wenn es zu großen Verwerfungen in der Vereinslandschaft bis hin zum Einstellen des Bundesligawettbewerbs insgesamt kommt, weil es nicht mehr ausreichend wettbewerbsfähige Teilnehmer gibt.

Sind die Profifußballvereine blauäugig in die Krise geschlittert?

In der Kombination dieser drei Faktoren Einnahmensituation, Ausgabensituation und verantwortliches Geschäftsgebaren gilt, dass kein vernünftig agierendes Unternehmen ohne absehbaren Anlass (!) Geld in solchen Dimensionen zurücklegt, wie es sie im Falle eines dauerhaften, nahezu totalen Einnahmeverlusts bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung wesentlicher Anteile der laufenden Ausgaben für ein mehrmonatiges Überleben benötigen würde. Das wäre vollkommen abenteuerlich und kein Aufsichtsrat würde jemals einen so handelnden Vorstand länger als einen Tag im Amt lassen. Dies gilt für Fußballvereine gleichermaßen. Bei ihnen kommt noch hinzu, dass sie durch ihre im Durchschnitt relativ anständige Eigenkapitalquote jederzeit in der Lage sein sollten, kurzfristig diejenigen liquiden Mittel zu mobilisieren, die es ihnen ermöglichen, beim Eintreten vernünftigerweise planbarer Geschäftsrisiken kurz- bis mittelfristig liquide zu bleiben.

Beim kleinen Blumenhändler um die Ecke, der über Nacht vor dem wirtschaftlichen Aus steht, weil er von heute auf morgen keine Einnahmen mehr hat, aber seine Miete und vielleicht einen Angestellten weiter bezahlen muss und für diesen Fall keine besonderen Rücklagen gebildet hat, finden wir es alle total gerechtfertigt und vernünftig, dass diesem Menschen finanziell geholfen wird wie und wo immer es geht (mich eingeschlossen. Ich will auch, dass diese Leute überleben). Bei der Luftfahrt- und der Autoindustrie sehen wir das genauso. Wer will schon, dass Millionen von Menschen ihren Arbeitsplatz verlieren. Aber bei einem Fußballverein, der letztendlich wirtschaftlich nach keinen anderen Prinzipien kalkuliert hat als der Blumenhändler um die Ecke oder die Lufthansa, finden wir es plötzlich empörend, dass er „nicht mal drei Monate überbrücken“ kann. 

Der falsche Gegensatz von „Mensch“ und „Wirtschaft“

Jenseits des Fußballs möchte ich noch einen grundsätzlicheres Phänomen ansprechen, das mich in den vergangenen Wochen zunehmend irritiert hat. Es geht um das Ausspielen der Wirtschaft gegen den Menschen, was bei uns in Deutschland immer en vogue zu sein scheint, aber gerade jetzt in der Corona-Krise noch einmal deutlich an Konjunktur gewonnenen hat: „Leben retten statt Wirtschaft retten“, „Die bösen Konzerne scheffeln doch nur Geld, das Leben der Menschen ist wichtiger“, und so weiter und so fort. 

Bei allem Respekt, aber wer so etwas sagt hat einfach keine Ahnung, wie Wirtschaft funktioniert. Die Wirtschaft sind wir alle. Jeder einzelne von uns, der arbeitet, sei es als Angestellter, Freiberufler, Selbständiger oder sonstwas, ist „die Wirtschaft“.

Die Wirtschaft als Funktionssystem einer Gesellschaft ist elementar für die materielle Reproduktion der Menschen, sprich uns allen. Nur eine funktionierende Wirtschaft, in der ein Großteil der Bevölkerung produktiv tätig ist, ermöglicht überhaupt unser aller materielle Existenz und unseren Wohlstand. Jeder Arbeitnehmer, Freiberufler oder Selbständiger trägt dazu bei, dass es ihm und anderen Menschen materiell gut geht (über sein Einkommen und seinen Konsum) und dass der Staat die notwendigen Ressourcen hat, seinen öffentlichen Aufgaben nachzugehen, Krankenhäuser und Straßen zu bauen und Schulen zu betreiben (über seine Steuern). Das gilt für den kleinen selbstständigen Blumenhändler um die Ecke ebenso wie für den Angestellten im transnationalen Großkonzern. Es ist ja nicht so, dass bei den „gierigen Konzernen“ irgendwelche zigarrerauchenden Oberbösewichte Hände reibend in ihren holzgetäfelten Chefetagen säßen und sich das ganze Geld, welches die armen kleinen Arbeiter am Band erwirtschaften, in ihre eigenen gierigen Taschen schaufeln würden. Nein, beim kleinen Blumenhändler ebenso wie beim Großkonzern fließt das eingenommene Geld zu allergrößten Teilen in die Gehälter der Angestellten (also von uns allen) und in Vorleistungen oder Ressourcen von anderen Unternehmen (also die Gehälter ander Menschen von uns allen).

Auch wenn es in Anbetracht der absoluten Gehaltshöhen anders wirkt, ist der Anteil dessen, was die „gierigen Bosse“ an persönlichem Gehalt im Vergleich zum gesamten Personalaufwand ihres Unternehmens einstreichen, in aller Regel verschwindend gering. Der Unterschied zwischen dem „bösen Konzern“ oder „der Wirtschaft“ und dem freundlichen Blumenhändler um die Ecke ist nur der, dass dieser Prozess der Schaffung der Lebensbasis für uns alle bei erstgenannten deutlich abstrakter und weniger konkret nachvollziehbar ist als bei dem Blumenhändler um die Ecke. Beide erfüllen aber in unserer Gesellschaft die wesentlichen Bedingungen der materiellen Reproduktion des Menschen gleichermaßen.

Wer auf „die Wirtschaft“ schimpft oder „das Leben nicht dem Interesse der Wirtschaft opfern“ möchte, hat diese Zusammenhänge einfach nicht begriffen oder ignoriert sie. Daher ist es auch zu kurz gesprungen, die unmittelbare Lebensbedrohung durch das Coronavirus gegen die mittelbare Lebensbedrohung durch den Wegfall der wirtschaftlichen Existenz der Menschen auszuspielen. Beide Lebensbedrohungen sind real, die eine ist nur unmittelbarer und konkret greifbar, wohingegen die andere längerfristiger Natur und abstrakt ist.

Am Coronavirus sterben heute konkret bennenbare Menschen, an einem Zusammenbruch der Wirtschaft sterben irgendwann in der Zukunft diffus viele Menschen, weil sie sich dann (im zugespitzten Extrem formuliert) nichts mehr zu essen kaufen können, weil die Landwirtschaft aufgehört hat zu existieren oder weil sie ihre eigentlich harmlose Krankheit nicht mehr behandeln lassen können, weil es in der Apotheke keine Medikamente mehr gibt oder gleich gar keine Pharmaunternehmen mehr, die diese Medikamente herstellen. 

Ich möchte also dafür plädieren, sowohl was den Fußball im speziellen als auch die Wirtschaft als Bedingung der Möglichkeit der materiellen Existenz der Menschen im allgemeinen angeht, bei der Beurteilung der strittigen Sachverhalte eine informiertere und überlegtere Auseinandersetzung mit der Materie ohne fehlgeleitete Ressentiments oder moralische Kurzschlussurteile zu führen, als es in letzter Zeit in der Öffentlichkeit so häufig der Fall zu sein scheint.