Die Lage der Bundesliga – Teil 3

Tobi Trenner 02.03.2016

Frage 4 – Welche taktischen Besonderheiten gab es zuletzt in der Bundesliga?

Ein Symptom einer guten und interessanten Liga ist es, wenn sie neben Vielfalt auch taktische Innovation bietet. Hier sind sich die Experten einig: Die Bundesliga darf im internationalen Vergleich durchaus als innovativ betitelt werden.

Wie in vielleicht keiner anderen Liga gibt es in Deutschland Vertreter der zwei großen Spielphilosophien der laufenden Ära – Ballbesitz und das schnelle Umschaltspiel. Hier dürfte selbst der Branchenprimus, die spanische La Liga, noch das Nachsehen haben. Tobias Escher beschreibt die Situation geradezu perfekt:

„Momentan kämpfen zwei Schulen gegeneinander: die Umschaltschule, auf die Spitze getrieben von der Denkfabrik der Rote­Brause­-Teams: Rangnick, Schmidt und Zorniger gehen diesen Weg. Auf der anderen Seite das spanisch angehauchte Ballbesitzspiel, personifiziert durch Guardiola und seinen Schüler, Thomas Tuchel.“ – Tobias Escher

Der große Außenseiter der Liga ist zur Zeit die Darmstädter Mannschaft. Weder auf Ballbesitz noch auf Pressing aus, spielen die Lilien unter Dirk Schuster ein ultra-direktes Spiel, das dem alten „kick and rush“ ähnelt. Alex Truica nennt sie, aufgrund der Kampfstärke und Fixierung auf Standardsituationen, sogar „das Atletico Madrid des kleinen Mannes“. Auch wenn die Spielkultur eher selten in Darmstadt zu Gast ist, so muss die einmalige Überzeugung und gnadenlose Umsetzung des Systems begrüßt und bewundert, zumindest aber respektiert werden.

Darüber hinaus werden noch weitere Namen wie Favre („positionsorientiertes Deckungsverhalten“), Gisdol (Torverhältnis im ersten Jahr von 72:70), Hjulmand, di Matteo (defensives 5-3-2) und Korkut (spanische Einflüsse) genannt, die in unterschiedlichster Art und zumeist etwas gemäßigter von der Norm abweichen konnten.

Frage 5 – Sind Trainer wegen der Abweichung vom Standard gescheitert?

Es ist nicht nur in der Bundesliga so, dass die meisten Vorstände und Manager die erprobte Variante der risikobehafteten Neuerung vorziehen. Dieses recht konservative Vorgehen wird wohl zurecht häufig kritisiert. Doch kann das Risiko ein echter Grund für Trainerentlassungen sein? Rene Maric glaubt nicht an eine Verschwörung:

„Trainer scheitern normalerweise nicht wegen der Abweichung vom Standard, sondern, weil sie etwas nicht gut machen.“ – Rene Maric

Klingt plausibel. Dennoch fielen einige Namen, deren risikoreiches System durchaus ein Faktor bei der Entlassung war. Das aktuellste Beispiel ist Alexander Zorniger, der sich mit seinem extremen Pressingsystem praktisch vom ersten Spieltag an heftiger Kritik ausgesetzt sah. Die Maric-Weisheit befolgend muss hier aber auch eindeutig betont werden, dass Zorniger wohl auch einige Mängel in Sachen Kommunikation offenbarte, welche die Zweifel mit Sicherheit nicht kleiner machten.

Ein weiterer Trainer mit gewisser Individualität, der diese Saison entlassen wurde, ist Markus Gisdol. Doch auch der ehemalige Coach der Hoffenheimer scheiterte eher an der Umsetzung als an der Idee:

„[Gisdols] Fußball war sehr unterhaltsam und offensiv – aber eben auch naiv im Spiel gegen den Ball – das überlebst du als Trainer in der konservativen Bundesliga nun einmal nicht, sobald du in der Tabelle unten reinrutschst.“ – Alex Truica

An das wohl passendste Beispiel für diese These erinnert uns Spielverlagerung-Autor Maric: der frühere Mainz-Trainer Kasper Hjulmand. Dieser wurde im Sommer 2014 als Nachfolger von Thomas Tuchel verpflichtet –- obwohl oder gerade weil — er als Freund des Ballbesitzspiels eine andere Ideologie verfolgte, als der heutige BVB-Coach es bei Mainz 05 noch tat.

Die Entlassung Hjulmands erfolgte selbstverständlich auch erst nach einer Serie unbefriedigender Resultate. Der fehlende Glaube und die mangelnde Risikobereitschaft des Vereines, an der laufenden Entwicklung des Ballbesitzkonzepts festzuhalten, wurde jedoch insbesondere bei der Vorstellung des Nachfolgers deutlich. So präsentierte man mit Martin Schmidt einen klassischen Bundesligatrainer, der an den von Emotionen geprägten Umschaltfußball glaubt. Manager Christian Heidel ging sogar noch einen Schritt weiter und bezweifelte öffentlich, ob man mit einem Trainer wie Hjulmand im Abstiegskampf bestehen könnte. Tatsächlich meinte er damit wohl, dass man in der unteren Tabellenhälfte weder Zeit für noch Lust auf offensiven Ballbesitzfußball hat. Ähnlich wie Gertjan Verbeek in Nürnberg wurde Hjulmand hier zum Opfer, indem er seine Mannschaft entgegen aller Traditionen spielerisch und kreativ aus der Gefahrenzone bringen wollte.

Frage 6 – Gibt es in der Bundesliga mehr Einheitsbrei als in anderen Topligen?

Bei aller Kritik an der „Pressingliga“ muss man sich durchaus fragen, ob es anderswo überhaupt besser ist. So sagt Tobias Escher, dass es überall Einheitsbrei gibt, es ist nur ein anderer. Jede Liga hat ihr eigenes Gesicht und gewisse Trends, die sie verkörpert. Und diese Gesichter sind nicht unbedingt schöner, wie Rene Maric betont:

„Wer regelmäßig Ligen außerhalb der Top 5 – oder die Niederungen der [Premier League] – ansieht, darf sich über die Bundesliga glücklich schätzen. [Man hat] in der Bundesliga mit Schmidt, Guardiola, Tuchel, bis vor kurzem Favre und Zorniger und eben Darmstadt bestimmte Stile, die europaweit kaum kopiert werden und dennoch durchaus bekannt sind“ – Rene Maric

Als einzige Liga von unseren Experten über die Bundesliga gestellt, wird die erste Liga Spaniens, der Maric ein „höheres Grundniveau“ und Diversität attestiert. Auch wenn Alex Truica betont, dass nicht jede spanische Mannschaft zu loben ist, so nennt er einen Verein als potenzielles Vorbild:

„Was ich jedem empfehlen kann ist, ein Auge auf Rayo Vallecano zu werfen. Kleinstes Budget der Liga und trotzdem eine klare Ideologie, vorgelebt von Trainer Paco Jemez: Pressing und das Spiel mit dem Ball. Egal gegen wen es geht. Keine Angst vor der Pleite und eine klare Spielphilosophie: Das würde ich mir für manches Bundesligateam auch wünschen“ – Alex Truica

Frage 7 – Warum gibt es diesen Einheitsbrei überhaupt?

Nach der Feststellung, dass jede Liga eine gewisse taktische Identität hat und diese gerade in der Bundesliga von vielen Vereinen mit grenzenloser Überzeugung umgesetzt wird, darf man sich wundern, woher diese Entwicklung kommt. Weshalb ist die Bundesliga eine sogenannte Pressingliga, warum gibt es eine gewisse Angst vor Individualismus und der eigenen Identität?

Bei dieser Frage gibt es verschiedene Ansätze, die alle berechtigt sind. Lukas Tank zum Beispiel hat eine relativ simple Erklärung – das System ist zurzeit noch zu effektiv und modern:

„Gegenpressingfußball ist an sich in vielen Kontexten eine gute und immer noch ziemlich moderne Idee. In vielerlei Hinsicht kann man die fußballerische Entwicklung der letzten 2-3 Jahrzehnte als schrittweise Entdeckung der Bedeutung des Umschaltmoments skizzieren. Der Gegenpressingfußball ist da die letzte Evolutionsstufe: aktive (!) Nutzung des offensiven wie defensiven Umschaltmoments.“ – Lukas Tank

Auch Rene Maric sieht das Pressingsystem als verlockend effektiv an und erwähnt eine in Deutschland vielleicht etwas verborgene Anerkennung:

„Die Bundesliga gilt ja teilweise im Ausland, was ich auch in der Arbeit mit ausländischen taktischen und statistischen Analysten merke, für viele als das Nonplusultra an Grundstabilität und Variation darin.“ – Rene Maric

Tobias Escher wählt eher kritische Töne und sieht vor allem die gewählten Trainer in der Verantwortung:

„Ein Großteil der Teams wird von zwei Arten von Trainern betreut: alte Haudegen, die schon seit Jahren dabei sind. Die haben ihre Methoden und ändern sich nicht mehr. Die haben das 4-2-­3-1-Mittelfeldpressing verinnerlicht. Und dann gibt es die Jungspunde, die so sein wollen wie Jürgen Klopp. Dessen Aura und dessen Fußball haben eine ganze Trainergeneration infiziert. Sie gehen den Pressingweg mit – und landen unweigerlich, nach den ersten gescheiterten Engagements, bei der auf Sicherheit bedachten 4-2­-3-­1-­Mittelfeldpressing-Variante des Klopp-Fußballs.“ – Tobias Escher

Einen eher kulturellen Ansatz mit externen Einflüssen wählt der Journalist und Spanienkenner Truica:

„Ich glaube, das ist unter anderem mit der hiesigen Kultur verbunden. Der Deutsche neigt an sich zum (erfolgsfixierten) Konservativismus – und so ist dann auch sein Fußball. In Deutschland, besonders beispielsweise im Ruhrgebiet, herrschen noch andere Tugenden, der Fußball wird anders gesehen, anders verstanden: Fußball muss gearbeitet werden. Wenn du alles auf dem Platz gibst, verzeiht man dir Niederlagen, die Leistung und der Einsatz müssen aber stimmen. Was wird [in vielen Medien] gepredigt, wenn es bei einer Mannschaft nicht läuft? Phrasen aus einer verblichenen Zeit: ‚Ärmel hochkrempeln, dazwischenhauen, enger zusammenrücken und kompakter verteidigen, aggressiver sein‘ und so weiter. Stumpfe Arbeitsmentalität.

Auf der anderen Seite gilt: Offensiver, kreativer Fußball steht im Misserfolgsfall in Deutschland schnell unter Rechtfertigungszwang, das hat auch Oliver Fritsch in der ZEIT treffend beobachtet. Guardiola wird bis heute das fehlende Triple vorgehalten, obwohl die Bayern offensiv, attraktiv und überlegen wie noch nie in ihrer Historie agieren. Doch sobald kurz vor dem Ziel (warum auch immer) kein Titel rausspringt, sind eine offensive Idee und begeisternder Fußball nichts mehr wert. Wer mit offensivem Fußball scheitert, wird als naiv angesehen und von den Medien und vermeintlichen Experten zerrissen.
Mit fliegenden Fahnen untergehen gibt es in der Bundesliga nicht (beziehungsweise überleben das die Trainer nicht), der Zweck heiligt hierzulande die Mittel. Wenn eine Mannschaft Fußball zuallererst verteidigt statt spielt – also nicht agiert, sondern reagiert – dann stört das im Erfolgsfall niemanden, sondern findet überall Anklang. Wenn ein Team erfolgreich ist, wird eine Auswärtstaktik immer gelobt. Dann spricht man oft und gerne von Reife, Abgeklärtheit und ähnlichen Attributen.“ – Alex Truica

Auf Seite drei: Die Einzigartigkeit der Liga statistisch bewiesen und das große Fazit!