Bayern-Rondo: Inter fordert den FC Bayern im norditalienischen Derby

Justin Trenner 07.09.2022

„Wer hat die beste Verteidigung?“, fragte Louis van Gaal anno 2010 auf dem Rathausbalkon in München. Seine kurze Rede wurde zu einer der legendärsten, die es je dort zu bestaunen gab. Anschließend fragte der Niederländer nach dem besten Angriff. Die Antwort? Na klar: „FC Bayern!“

„Wir sind die Besten“, schob er im Verlauf hinterher: „Von Deutschland – und vielleicht Europas!“ Einige Tage später spielten die Bayern nämlich im Champions-League-Finale gegen Inter Mailand. Jener Gegner, der auch in dieser Saison wieder den Europaweg der Münchner kreuzen wird.

Die Geschichte ist bekannt. Bayern verlor das Finale mit 0:2 und war somit „nur“ zweitbeste Mannschaft Europas. Auch in der Folgesaison scheiterte man an den Italienern aus der Modestadt – diesmal im Achtelfinale.

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FC Bayern: Plötzlich Defensivkünstler?

Seitdem sind mehr als elf Jahre vergangen. Jetzt geht es aber wieder ins Duell mit den Norditalienern – wobei ja München gern mal als nördlichste Stadt Italiens bezeichnet wird. Bei den Bayern erlebte nur Thomas Müller die beiden Achtelfinal-Partien, Inter hat keinen Spieler mehr im Kader, der damals dabei war.

In der Vergangenheit sind beide Teams sehr offensivstark gewesen. Inter steht zugleich seit Jahren für eine sehr kompakte, aggressive und gut organisierte Defensive. Vom FC Bayern kann man das so nicht behaupten. Allerdings deuten sich in dieser Saison bereits Verbesserungen an. Bayern schafft es, seine Defensive durch die eigene Ballzirkulation besser zu kontrollieren.

Der Ballvortrag ist weniger hektisch geworden und es scheint, als würden die Münchner das Risiko sinnvoller ausbalancieren. Gegen Union Berlin erwischten die Bayern keinen guten Tag, doch sie schafften es trotzdem, den umschaltstarken Gegner bei nur 0,3 Expected Goals (StatsBomb) zu halten. Das Team von Julian Nagelsmann steht defensiv besser, weil sie in Ballbesitz klüger, ruhiger und besser positioniert agieren.

Hier geht es zu unserer aktuellen Podcast-Folge, in der wir all diese Themen besprechen.

Marcel Sabitzer und Benjamin Pavard stabilisieren den FC Bayern

Ein gutes Beispiel dafür ist die Rolle von Benjamin Pavard, der nicht mehr ganz so viele Wege ins letzte Drittel macht, sondern in der Konterabsicherung präsenter ist. Er bringt sich im Spiel nach vorn ein, ohne die Lücke hinter sich zu groß werden zu lassen. Dadurch sind die beiden Innenverteidiger seltener auf sich allein gestellt.

Wichtig ist zudem, dass Marcel Sabitzer als Absicherung für Joshua Kimmich, teilweise sogar für Alphonso Davies auf der linken Seite gut funktioniert. Der Österreicher taucht nur sehr selten im letzten Drittel auf. Das gibt Kimmich mehr Freiheiten in der Vorwärtsbewegung. Diese zwei größeren Kniffe und ein insgesamt besser abgestimmtes Positionsspiel scheinen der Schlüssel für eine bessere Defensive zu sein.

Während es für Inter also darauf ankommen wird, die Qualitäten in der Arbeit gegen den Ball und im Anlaufverhalten auf den Platz zu bringen, muss Bayern mit dem Ball klug agieren. Beides unterscheidet sich in der Spielanlage, hat aber jeweils mindestens das Teilziel, das eigene Tor zu beschützen. Welches Konzept wird am Mittwochabend wohl siegen?

Inter ohne Romelu Lukaku – Vorteil FC Bayern?

Bei den Italienern wird zudem Romelu Lukaku ausfallen, der sich von Beginn an gut zu integrieren schien. Ist das ein großer Vorteil für die Bayern? Wohl nicht entscheidend. Inter hat mit Lautaro Martínez und Edin Dzeko zwei Top-Stürmer in den eigenen Reihen, die die Rolle des Belgiers im 3-5-2 auffangen können. Dzeko ist nach wie vor einer der besten Abschlussstürmer Europas und Martínez ist vor allem bei offensiven Umschaltaktionen eine Waffe.

Der Argentinier ist schnell, technisch stark und braucht ebenfalls nicht viele Chancen für ein Tor. Mit Joaquín Correa gibt es eine weitere gute Option. Die größte Qualität des italienischen Vizemeisters liegt aber ohnehin nicht im Sturmzentrum, sondern im Mittelfeld. Nicolò Barella ist ebenso wie Marcelo Brozović einer der unterschätztesten Mittelfeldspieler der Welt.

Beide verfügen über andere Schwerpunkte, wenn es um ihre größten Stärken geht, aber genau deshalb ergänzen sie sich so gut. Brozović ist ein Spielgestalter, der sowohl auf der Sechs als auch auf der Acht eingesetzt werden kann. Im Spielaufbau ist er zwischen den Linien sehr aktiv, fast immer anspielbar und in der Lage, sich aus engen Situationen zu befreien. Er ist der klare Taktgeber in Inters Spiel.

Barella ist deutlich dynamischer und schaltet sich häufiger mit in die Offensive ein. Er lässt sich auch gern mal in die Halbräume fallen, um dort mit präzisen Flanken die Köpfe der Mitspieler zu finden. Er ist ein Komplettpaket im Mittelfeld, kann sehr gut verteidigen, aber auch mit dem Ball umgehen. Im Zusammenspiel mit Brozović sorgt er für ein äußerst stabiles Inter-Mittelfeld.

Inter: Worauf sich der FC Bayern einstellen muss

Spielertypen wie diese beiden machen Inter auch flexibel. Obwohl sie auf dem Papier nahezu immer mit einem 3-5-2 starten, ist die realtaktische Formation nicht selten eine andere. Je nach Spielphase und Bedarf hat das Inzaghi-Team unterschiedliche Abläufe parat.

So arbeitet Inter oft mit asymmetrischen Flügelverteidigern und einer pendelnden Dreierkette. Wenn Denzel Dumfries auf der rechten Seite beispielsweise tiefer agiert, schiebt der linke Halbverteidiger auf den Flügel, um eine Viererkettenformation herzustellen. Das kann verschiedene Vorteile haben – beispielsweise das Absichern der Defensive oder die Unterstützung eines Überzahlangriffs auf dem linken Flügel.

Allgemein greift Inter gern über die Flügel an und positioniert dort dementsprechend auch viele Spieler. Die unterschiedlichen Spielertypen im Angriff erlauben es dem dreimaligen Champions-League-Sieger, variabel zu sein. Wenn es im Mittelfeld mal kein Angebot gibt, werden eben die schnellen Außenbahnspieler geschickt und es folgt eine Flanke auf einen der groß gewachsenen Stürmer oder ein Zuspiel in den Rückraum, wo aus dem Mittelfeld nachgerückt wird.

Gegen den Ball verteidigen die Italiener im Zentrum sehr eng und kompakt. Somit könnte Inter ein weiterer Stresstest für die neu aufgestellte Offensive des FC Bayern werden. Drei Innenverteidiger und mindestens zwei robuste Sechser erwarten die Angreifer des Bundesliga-Rekordmeisters auf engstem Raum.

Inter gegen FC Bayern München: Die Form

Abseits aller Theorie wird die Form eine große Rolle spielen. Inter ist nicht gut in die Saison gestartet. Zuletzt verlor der Vize-Champion der Serie A gegen Lazio Rom (1:3) und auch das Mailand-Derby gegen die AC Milan (2:3). Gerade beim prestigeträchtigen Duell mit dem Stadtrivalen wurde sehr deutlich, wie fragil das Gebilde des kommenden Bayern-Gegners aktuell ist.

In den guten Phasen der Partie konnte Inter seine physischen und technischen Stärken nutzen, um Milan zu kontrollieren und regelmäßig Chancen herauszuspielen. Nur gab es diese Phasen kaum. Nach einer starken Anfangsphase von Inter beherrschten die Schwarz-Roten das Geschehen. Die zwischenzeitliche 3:1-Führung war hochverdient. Die Defensive der Nerazzurri wackelte mehrfach, wenn Milan das Spiel auf Rafael Leāo verlagern konnte. Der Portugiese dribbelte seine Gegenspieler um Kopf und Kragen.

Bayern hat gleich mehrere Leāos, die in der Lage sind, die Statik der Inter-Defensive aufzubrechen. Und die Münchner haben auch die bessere Form. Zwar trüben zwei Unentschieden gegen Borussia Mönchengladbach und Union Berlin derzeit die Stimmung etwas, aber an einen wirklichen Leistungsabsturz ist derzeit nicht zu denken. Trotzdem wird das Duell mit Inter ein richtungsweisendes. Mit einem Sieg starten die Bayern perfekt in eine Gruppenphase, die es in sich hat. Verlieren sie, ist das Rennen um das Achtelfinale in Gruppe C von Beginn an heißer, als es den Münchnern lieb sein könnte.

Bis zum Rathausbalkon ist es noch ein weiter Weg für die Bayern. Doch vielleicht klärt sich ja im Duell trotzdem, wer die beste Defensive und wer den besten Angriff hat – zumindest in Norditalien. Wobei die AC Milan da wohl gern noch ein Wörtchen mitsprechen würde.