FC Bayern: Der Aufstieg von Aleksandar Pavlović – und das Ende von Joshua Kimmich?
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Was Aleksandar Pavlović derzeit für den FC Bayern München auf den Rasen bringt, ist bemerkenswert gut. Der erst 19-jährige Mittelfeldspieler hat sich mit seinen Leistungen auf Anhieb in die Herzen der Fans gespielt.
Vor allem aber gibt er Thomas Tuchel mit seinen Auftritten in Augsburg und jetzt gegen Gladbach keinerlei Anlass dazu, ihn aus der Startelf zu nehmen. Pavlović hat von den Ausfällen im Mittelfeld des FCB profitieren können. Er hat vor allem die Chance genutzt, dass Joshua Kimmich zuletzt mehrfach passen musste.
Denn der steht bei einem mittlerweile sehr gewachsenen Teil der Fans nicht nur in der Kritik, es gibt sogar nicht wenige Stimmen, die einen Verkauf im Sommer für sinnvoll empfinden. Mit Pavlović gibt es nun einen weiteren Grund dafür, Kimmich gedanklich bereits auszusortieren. Aber geht diese Rechnung so einfach auf?
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Aleksandar Pavlović überragt beim FC Bayern
86 Ballkontakte, 69 von 71 Pässen angekommen, nur fünf Ballverluste – Pavlović hat auch gegen Borussia Mönchengladbach wieder unter Beweis gestellt, dass er dem Team im Moment Stabilität geben kann. Seine Ruhe am Ball und die Fähigkeit, auch in Drucksituationen kluge Entscheidungen zu treffen sowie abzuwägen, wann Progressivität Sinn ergibt und wann nicht, ragen heraus.
Pavlović spielt im Moment abgeklärt. Als wäre er bereits 30 und hätte jede Situation auf Profiniveau schon erlebt. Natürlich sind es im Fußballgeschäft Tore, die Spieler in den Fokus rücken. Doch so wichtig seine Treffer gegen Augsburg und Gladbach auch waren, so sehr sind es andere Qualitäten, die ihn derzeit so entscheidend für den FCB machen.
Beispielsweise seine Anpassungsfähigkeit. Gegen den VfB Stuttgart erwischte der FC Bayern in der Hinrunde einen guten Start, aber keineswegs einen perfekten. Auf den Flügeln gelang es den Schwaben immer wieder, Überzahlsituationen herzustellen und sich so in den bayerischen Strafraum zu kombinieren. Von außen lässt sich nicht beurteilen, inwiefern die Entscheidung von Pavlović selbst kam, doch dass er nach gut zehn Minuten vermehrt mit nach außen schob, um die rechte Seite mit abzusichern, trug dazu bei, dass Bayern mehr Kontrolle bekam.
Spielwitz und neue Ideen: So macht Pavlović die Bayern besser
Es ist auch gar nicht wichtig, von wem diese Entscheidung getroffen wurde. Pavlović führt unaufgeregt und auf hohem Niveau die Aufgaben aus, die ihm zugetragen werden. Dabei entwickelt er zunehmend Selbstbewusstsein. Gut zu sehen bei seinem Ausgleichstreffer am Samstagnachmittag. Diesem ging ein Lauf voraus, der so von keinem anderen Mittelfeldspieler des FCB ausgeführt worden wäre. Ein Lauf, den so vielleicht letztmals Bastian Schweinsteiger im rot-weißen Trikot tätigte.
Tiefenläufe, die dem Spiel des FC Bayern in den letzten Wochen häufig fehlten. Neben Pavlović gebührt das Lob in dieser, aber auch in vielen weiteren Szenen vor allem Thomas Müller. Highlightvideos sind nur selten dazu gut, ein Spiel zu bewerten. Doch was bei den Highlights gegen Borussia Mönchengladbach sofort auffällt: Bei nahezu allen gefährlichen Szenen im Angriff hatte Müller seine Beine im Spiel.
In diesem Fall harmonierte er großartig mit dem durchstartenden Pavlović. Während Kimmich die Offensive in der Vergangenheit eher mit Chipbällen und Halbfeldflanken fütterte, scheint das Talent vom Campus gut darin zu sein, mit kurzen vertikalen Dribblings oder eben solchen Läufen zusätzliche Gefahr einzubringen – und damit eine Lücke zu schließen.
Aleksandar Pavlović: Löst er jetzt Joshua Kimmich ab?
Derzeit ist es interessant zu beobachten, wie unterschiedlich die beiden Spieler im Umfeld des FC Bayern wahrgenommen werden. Kein neues Phänomen. Junge Spieler haben bei Fans einen großen Bonus. Nicht zuletzt, wenn sie aus der eigenen Jugend kommen. Das war in der Vergangenheit bereits bei Spielern wie Chris Richards oder Josip Stanišić zu sehen.
Beides Spieler, die das Potenzial hatten oder haben, die Breite des Kaders zu verstärken, phasenweise aber derart in den Himmel gelobt wurden, dass für gestandene Spieler wie Benjamin Pavard ein Bankplatz gefordert wurde. Nun ist Pavlović mitnichten mit diesen Spielern zu vergleichen. Seine Spielintelligenz und auch seine technischen Fähigkeiten sind auf einem besseren Niveau. Ihm ist im Vergleich tatsächlich zuzutrauen, dass er es perspektivisch dauerhaft in die Startelf schafft.
Er hat die Fähigkeiten, es bei den Bayern zu schaffen. Trotzdem ist Vorsicht geboten. Der 19-Jährige steht erst am Anfang, wird noch durch verschiedene Phasen in seiner Karriere gehen müssen, um das Level zu erreichen, das es beim FCB braucht.
FC Bayern: Droht Toni Kroos 2.0?
Im Schatten des Hypes, der um Pavlović ausgebrochen ist, steht Kimmich. Experte und Journalist Raphael Honigstein schrieb jüngst treffend bei The Athletic: „Wenn die Bayern seinen Einfluss, seinen Ehrgeiz und seine Führungsqualitäten nicht zu schätzen wissen, gibt es keinen Mangel an Spitzenklubs, die das tun, vor allem, wenn er seinen Vertrag im nächsten Jahr auslaufen lässt.“
Honigstein vergleicht Kimmich mit Toni Kroos, der einst wegen mangelnder Wertschätzung zu Real Madrid wechselte. Die Geschichte ist bekannt. Ganz vergleichen lassen sich die beiden Fälle nicht. Schließlich hatte Kroos seine Karriere vor sich, Kimmich hat einen beachtlichen Teil seiner hinter sich. Und doch hat Honigstein einen Punkt, wenn er schreibt: „Ihn zu verlieren, wäre ein Schlag von ähnlich epischem Ausmaß.“
Es ist bemerkenswert, mit welcher Konstanz in Deutschland immer wieder dieselben Spielertypen angegangen werden – und welche Begleiterscheinungen es dabei gibt. Bastian Schweinsteiger, Thiago, Joshua Kimmich – allesamt tiefe Spielmacher des FCB, die eine Führungsrolle im Kader inne hatten oder haben. Allesamt Spieler, die nicht dafür bekannt waren, sich in großen Interviews zu erklären – oder zu einem Zeitpunkt in ihrer Karriere entschieden haben, das vorerst nicht mehr zu tun.
Auch Honigstein stellt diese Gemeinsamkeit fest, sieht den Oktober 2021 als Knackpunkt. Damals veröffentlichte die Bild ohne das Einverständnis von Kimmich dessen Impfstatus. Der Spieler änderte seine Entscheidung später, doch entschied sich gleichzeitig dazu, weniger Interviews zu geben, sich öffentlich etwas zurückzuziehen. „Zufälligerweise wurden die Kritiken über seine Auftritte immer negativer“, schreibt Honigstein.
Joshua Kimmich: Mehr gefühlte Wahrheiten als Fakten
Argumentiert wird seitdem vor allem mit gefühlten Wahrheiten. Im Fußball lässt sich vortrefflich streiten und es ist Teil des Sports, dass es nicht nur verschiedene Ansichten, sondern auch verschiedene Deutungen von Spielweisen gibt. Während es einem Fan nicht vertikal genug sein kann, fordert der andere mehr Ruhe und mehr Querpässe.
Vermutlich würde niemand, nicht mal Kimmich selbst bestreiten, dass er besser spielen kann, als er es in den letzten Monaten getan hat. Und doch ist die Schärfe der Kritik an ihm unverhältnismäßig. Assists (0,22 pro 90 Minuten), expected assisted Goals (0,23), Aktionen, die zu einem Abschluss führen (4,41), Anzahl an Pässen (88,65), Pässe ins Angriffsdrittel (8,88), Torschussvorlagen (2,79) – das sind nur einige wenige Statistiken von FBref, in denen Kimmich in den vergangenen 365 Tagen immer noch auf Weltklasseniveau im Vergleich zu anderen Sechsern und Achtern agiert hat. Er befindet sich in nahezu allen Passstatistiken in den besten fünf bis zehn Prozent, in vielen sogar unter den besten drei oder gar im besten Prozent.
Auch bei den progressiven Pässen ist Kimmich überragend. 9,77 pro 90 Minuten zählen zum besten Prozent unter Europas Top-Spielern – Kroos belegt mit 11,78 den ersten Platz. Eine Statistik, die hier und da auch mal kritisch gesehen wird. Nicht ganz ohne Berechtigung. Sie misst jeden Pass, der einen vertikalen Raumgewinn von rund neun Metern in den vorderen 60 Prozent des Spielfelds erzeugt. Das können auch diagonale Pässe auf den Flügel sein.
Joshua Kimmich zählt (immer noch) zur Weltspitze
Es ist aber kein Zufall, dass mit Kroos, Kimmich oder Rodri (9,58) hier bestimmte Spielertypen besonders gut abschneiden. Natürlich, weil sie oft den Ball haben, aber auch weil sie den Rhythmus ihres Teams bestimmen – und das auch sehr gut machen. Weil sie Spieler vor sich sehen und präzise bedienen können, die andere nicht sehen. Rund jeder neunte Pass ist bei Kimmich ein „progressiver Pass“. Auch damit zählt er zu den Besten.
Bei Kimmich ist es fast noch beeindruckender, dass er in vielen Statistiken ein ähnliches Niveau wie Rodri hat, weil er bei den Bayern oftmals das Problem hat, dass ihn im Zentrum niemand unterstützt – wie eine Szenenanalyse von uns neulich zeigte.
Auch der Bericht von Honigstein stellte fest, dass Kimmich statistisch ähnliche Werte liefert wie in der Triple-Saison 2019/20, als er deutlich unumstrittener war. Überzeugen wird all das vermutlich keinen derjenigen, die die gefühlte Wahrheit dort verortet sehen, dass Kimmich nicht mehr in der Lage sei, das Bayern-Spiel zu diktieren und zu lenken.
Wie der FCB von Pavlović UND Kimmich profitieren kann
Hier kommt Pavlović aber wieder ins Spiel – und zwar nicht als Ersatz oder als derjenige, der den Kimmich-Verkauf ermöglicht. Aber als der Spieler, der vielleicht wieder dafür sorgen könnte, dass die Qualitäten des 28-Jährigen bald wieder stärker zum Vorschein kommen.
Anders als Leon Goretzka, Konrad Laimer oder auch Raphaël Guerreiro ist Pavlović ein Spieler, der viele Bälle tief fordert, sich dort aktiv freiläuft und ein gutes Verständnis für den Raum hat. Damit kann er Kimmich gut ergänzen, dem zwar häufig fehlende Pressingresistenz vorgeworfen wird, der aber vor allem darunter leidet, dass es zu einfach ist, ihn zuzustellen.
Mit Pavlović an seiner Seite wäre das komplizierter. Fokussiert sich ein Gegner auf Kimmich, hat Pavlović womöglich mehr Raum – und andersherum. Bayern braucht auf dieser Position und gerade unter Thomas Tuchel keine Spieler, die vorn ihre Stärken haben. Sie brauchen Spieler, die aktiv sind, Löcher stopfen und den Abstand zwischen Sechserraum und letzter Linie verkürzen oder überbrücken können. Pavlović und Kimmich können das beide.
Pavlović, Kimmich und die Balancefrage
Defensiv gäbe es in dieser Konstellation vielleicht ein Risiko. Bei Pavlović wird derzeit darüber hinweggesehen, dass er in der Arbeit gegen den Ball nicht immer so sauber arbeitet wie mit dem Ball am Fuß. Doch wenn die Alternative lautet, körperlich starke Spieler aufzustellen und damit bei Ballbesitz die Probleme der letzten Wochen zu verstärken, dann ist das vielleicht keine gute Alternative.
Pavlović und Kimmich – es könnte eine große Chance sein. Auch dahingehend, den ursprünglichen Plan mit einer „Holding Six“ zu überdenken. Auf der Pressekonferenz nach dem Gladbach-Spiel sprach Tuchel davon, dass auch Pavlović eher ein „mobiler Sechser“ sei. Wie Laimer, wie Goretzka, wie Kimmich. Es gehe darum, Lösungen zu finden, diese zu integrieren. Defensive Absicherung ist zwar wichtig. Doch für den FC Bayern München geht diese bereits mit dem Ball los. Hier hat man in der Vergangenheit zu viel Qualität verloren.
Und droht mit Kimmich weitere Qualität zu verlieren, die vielen wohl erst dann auffallen würde, wenn sie tatsächlich über einen längeren Zeitraum fehlt. Pavlović ist gut. Sogar sehr gut, wenn man sein Alter in Betracht zieht. Ihm aber den Druck aufzulasten, den Kimmich aktuell schultert, käme zu früh. Stattdessen sollte Tuchel diesen zwischen beiden angemessen aufteilen.