Servus Basti!
Als Jupp Heynckes im Sommer 2013 auf dem Rathausbalkon am Marienplatz stand, hatte er ein breites Grinsen im Gesicht. „Ich habe, die Älteren werden sich erinnern, 1990 auf dem Balkon gestanden und ein bisschen großspurig den Europapokal versprochen“, fing er an. „Ich möchte mein Versprechen einlösen: Hier ist der Europapokal der Landesmeister, die Champions League.“
Heynckes hielt den großen Pokal mit den Ohren in den Münchner Himmel. Nur wenig später drehte er sich wieder zu seinen Spielern um. Mit einem Gesichtsausdruck, dem man entnehmen konnte: „Macht immer weiter! Es lohnt sich.“
Die Hoffnung einer Fußballnation
Einer dieser Spieler war Bastian Schweinsteiger, den man dieser Tage so gelassen und glücklich erlebte wie selten zuvor. Seine Karriere war eine Achterbahnfahrt – der wohl größte Unterschied zu Philipp Lahm, dessen schlechte Momente man an einer Hand abzählen kann.
2002 gab Schweinsteiger sein Debüt für den FC Bayern auf der größten aller Bühnen: der UEFA Champions League. 2004 fuhr er spontan mit zur Europameisterschaft. Sein erstes großes Erlebnis war nicht wirklich erfolgreich, doch wenn Deutschland während dieses Turniers nur eine positive Erkenntnis zog, dann die, dass es da Spieler gibt, die in Zukunft den Umschwung bringen können.
Schweinsteiger war früh die Hoffnung einer ganzen Fußballnation. Spätestens mit seinen Leistungen bei der Weltmeisterschaft 2006 im eigenen Land stieg er gemeinsam mit Podolski und Lahm zum Gesicht einer neuen Generation auf. Einer Generation, die Deutschland endlich wieder einen WM-Titel bringen sollte.
Doch der Weg dorthin wurde steinig und kompliziert. Für Schweinsteiger folgte eine Zeit, in der ihm nicht nur die Konstanz in seinen Leistungen fehlte, sondern in der auch seine Persönlichkeit plötzlich in Frage gestellt wurde. Es begann eine Selbstfindungsphase.
Nachts mit der „Cousine“ im Bayern-Pool, ständig neue Frisuren, posend auf verschiedenen Zeitschriften und absoluter Sunnyboy der Nation – man war sich zwischenzeitlich nicht sicher, ob „Schweini“ das Zeug dazu haben würde, seinen Beruf seriös genug auszuüben, um sein ganzes Talent auszuschöpfen.
Doch die Flausen im Kopf, der Meinung war nicht nur Uli Hoeneß, könne und müsse man ihm austreiben. Die Entwicklung vom jungen „Schweini“ zum gestandenen Schweinsteiger brauchte ein bisschen Anlaufzeit. Als Louis van Gaal in München übernahm, wurde für ihn aber endlich eine Rolle gefunden, die seine Zukunft und somit auch die des FC Bayern maßgeblich verändern sollte.
Auf der Sechs wuchs er neben Mark van Bommel zum Strategen und Taktgeber seiner Mannschaft heran. Dort lenkte er das Spiel. Van Bommel hielt ihm den Rücken frei, während Schweinsteiger für van Gaal die Seele und das Herz seiner Philosophie war.
Champions-League-Finale, Double, eine furiose Weltmeisterschaft – Schweinsteiger stand für den Erfolg im Jahr 2010. Er machte in dieser Saison einen großen Schritt in der Hierarchie, zeigte sich auf und neben dem Platz zunehmend als Leader.
„Typen“-Diskussion
Doch das sahen längst nicht alle so. Für Teile der Öffentlichkeit war Schweinsteiger ein Sinnbild für eine Generation, der das Alleinstellungsmerkmal fehlen würde. Das Fehlen von Leitwölfen wie Effenberg, Kahn oder anderen ehemaligen Kapitänen großer Mannschaften wurde bemängelt. Schweinsteiger nahm die bisweilen unsachliche Kritik unkommentiert hin. Bis zum Jahr 2011.
„Arschloch“, „Pisser“ – ihm platzte im April gegenüber einiger Journalisten der Kragen. Seit van Bommels Transfer fehle es der Mannschaft an Typen, hieß es damals. Es war der Start einer anstrengenden Diskussion, die hauptsächlich vom Springer-Verlag geführt wurde. Ein Sündenbock wurde gesucht, um die komplexe Krise des FC Bayern auf eine populistische und simple Ebene zu ziehen.
Die Generation Lahmsteiger lieferte keine Titel. Sie sei einen Nachweis schuldig, dass ihre Art und Weise, eine Mannschaft zu führen, tatsächlich erfolgreich sein könne. Der Terminus „Flache Hierachie“ entwickelte sich zunehmend zum Sinnbild einer vermeintlich farblosen Spielergeneration. Schweinsteiger traf die Wucht dieser Debatte offensichtlich sehr stark, andernfalls hätte er nicht so reagiert. Ohnehin hatte er damals mit vielen Verletzungen zu kämpfen, die ihn ausreichend nervten.
Als er in der Saison 2011/12 endlich wieder vollständig fit war, konnte er seine Mannschaft aber erneut in ein Champions-League-Finale mittragen. Im Mittelfeld hatte er seine Dominanz zurückerlangt, sein Spiel wiedergefunden. Unvergessen bleibt sein Elfmeter im Bernabéu. „Schweinsteiger! Schweinsteiger! Hasta la vista, Bayern finalista“, brüllte Wolff-Christoph Fuss in die Mikrofone. Es war eine Zeit, in der der Fußballgott endgültig zum Helden der Bayern-Fans wurde.
Selbst im „Finale Dahoam“ gab er den Takt vor, machte ein großes Spiel. Doch dann kam das Elfmeterschießen. Schon in Madrid musste Schweinsteiger diesen langen Weg gehen. In München wurden die Beine nochmal schwerer. Würde er verschießen, hätte Drogba die große Chance, Chelsea zum Champions-League-Sieger zu machen.
Schweinsteiger atmete tief durch. Stille. Er lief an. In wenigen Augenblicken würde ein einziger Schuss über die Bewertung seiner gesamten Saison, vielleicht sogar seiner ganzen Karriere entscheiden. Der Ball sprang an den Pfosten, Schweinsteiger vergrub sich in seinem Trikot, Drogba traf und beendete alle Münchner Träume.
An keinem Moment lässt sich meine innere Verbindung zu Bastian Schweinsteiger so gut erklären wie an diesem. Dieser zeitgleiche Zusammenbruch, diese Schmerzen, diese Leere. Als es gerade so schien, als würde Schweinsteigers Achterbahn wieder an die Spitze fahren, krachte sie in einem Höllentempo in den Abgrund. Seine Achterbahnfahrt war auch die der Bayern-Fans. Jeder Misserfolg und jeder Erfolg war unweigerlich mit Bastian Schweinsteiger verknüpft – und das fast mein ganzes Leben lang.
Das Image eines guten Spielers, der aber nie ein großer werden würde, schien sich durch diesen Fehlschuss in der Öffentlichkeit zunehmend zu verbreiten. Aber nicht in München. Dort war er der Fußballgott. Die meisten Fans litten mit ihm, sie feierten mit ihm, sie weinten mit ihm, sie standen zu ihm. Schweinsteiger hatte sich dieses Vertrauen in den Jahren zuvor verdient, entwickelte sich für eine Vielzahl an Bayern-Fans meines Alters zum Vorbild, Idol und zur Identifikationsfigur des gesamten Klubs. Er wurde von den Fans geschützt und verteidigt. Zu Recht!
Ein langer Weg auf den Thron
Und so begann einige Monate nach dieser unfassbaren Niederlage der erneute Weg von ganz unten nach ganz oben. Mit einem Schweinsteiger, der wieder einen Schritt nach vorne machte, an den Rückschlägen wuchs und die negativen Erfahrungen erneut für sich nutzen konnte. Mit Martínez an seiner Seite, der ihm den Rücken wieder so freihalten konnte, wie es einst van Bommel tat.
Schweinsteigers Entwicklung wurde in der Champions League am deutlichsten. Er war der Fixpunkt im Mittelfeld und im Spielaufbau. Gegen Juventus Turin sorgte er mit seiner Dynamik für die Kontrolle im Mittelfeld und für ständige Überzahl im Zentrum. Als Barcelona zu Gast war, war es Schweinsteiger, der die entscheidende Schachfigur in Heynckes’ Plänen war, um das Pressing der besten Mannschaft der Welt auszuhebeln. Schweinsteiger setzte Barças Angriffspressing mit klugen Bewegungen im Sechser-Raum Schachmatt.
Auch im Champions-League-Finale war es der Fußballgott, der das aggressive Pressing des Gegners irgendwann für sein Team unter Kontrolle brachte. Als Quarterback und Libero brachte er den FC Bayern nach rund 25 Minuten überhaupt erst ins Spiel.
In der Schlussphase gegen Borussia Dortmund wurde Schweinsteiger spürbar zum Antreiber. Fast jeder Angriff hatte seinen Ursprung beim Vize-Kapitän. Immer wieder organisierte und motivierte er seine Mitspieler. Als dieses Finale endlich gewonnen wurde, brachen Schweinsteiger und ich wieder zusammen. Wieder weinten wir beide. Diesmal allerdings vor Freude. Die physische Distanz war dabei riesig, aber emotional spürte ich zu jedem Zeitpunkt seiner Karriere eine einzigartige Nähe.
Es war ein unbeschreibliches Gefühl für mich und zugleich eine surreale Genugtuung, als Lahm und Schweinsteiger, mit denen ich über rund ein Jahrzehnt mitgefiebert und mitgelitten habe, endlich diesen Pokal in den Händen hielten. Ein langer Ball, ein Hackenpass und ein reingestochertes Tor machten sie plötzlich zu großen Spielern und Legenden. Für mich waren sie das auch vorher, doch der Pokal war das Element, das mir zur unangreifbaren Argumentation fehlte.
Allein das erklärt alles, was ich an rein ergebnisbezogenen Bewertungen nicht mag. Doch sie hatten es endlich geschafft. Sie hatten Europas Thron erklommen und wenig später auch den der Welt. Wieder mit Bastian Schweinsteiger als Helden. Mit blutverschmiertem Gesicht rang er die Argentinier im Mittelfeld nieder. Er organisierte seine Mannschaft, war trotz einer schweren Saison wieder Antreiber und Taktgeber.
Schweinsteiger und Lahm waren die Anführer einer großen Generation. Viele Menschen zweifelten zwischenzeitlich daran. Welch große Qualität diese Generation an Spielern hatte, dürfte aber jeder wahrgenommen haben, der gerade nicht an einer Kampagne interessiert war. „Lahmsteiger“ prägten diese Generation mehr als ein Jahrzehnt lang und trugen den deutschen Fußball vom Tal auf den Gipfel des Maracanã in Rio. Deshalb ragten sie heraus.
Die Weltmeisterschaft 2018 hat gezeigt, was sportliche Qualität wert ist, wenn es in der Mannschaft nicht stimmt. Schweinsteiger und Lahm waren auf und neben dem Platz entscheidend für Zusammenhalt und eine positive Dynamik. Sie waren gemeinsam das Vorbild eines modernen Führungsstils und sie blieben sich immer treu. Erfolgreich wurden sie mit ihren Überzeugungen – nicht mit denen des Springer-Verlags.
Für mich sind es aber nicht die vielen Titel, die diese Spieler besonders machen. Gerade Bastian Schweinsteiger hatte in seiner Karriere mit vielen Rückschlägen zu kämpfen. Immer wieder ist er aufgestanden. Immer wieder hat er einen neuen Anlauf gewagt, sich selbst hinterfragt und sich weiterentwickelt. Er ist am Gegenwind gewachsen.
2013 und 2014 kletterte er dann auf den Thron. So riesig die Distanz zwischen Fußball-Profis und Fans auch geworden ist, so sehr habe ich mich in der Zeit zwischen 2002 und heute zu Bastian Schweinsteiger verbunden gefühlt. Er hat in mir sämtliche Emotionen geweckt, die den Fußball besonders machen.
Seine Entwicklung, seine Misserfolge, seine daraus resultierenden Erfolge – Schweinsteiger hat mir stets als Vorbild gedient. Nicht, weil er alles in seiner Karriere in Perfektion gemacht hat. Nicht, weil er immer das mit Abstand beste Vorbild war. Das würde nicht der Wahrheit entsprechen.
Die Höhen, aber ganz besonders die vielen Tiefen haben eine einzigartige Verbindung zwischen mir und einem Fußball-Profi erzeugt, die es so – da lehne ich mich weit aus dem Fenster – in meinem Leben nie wieder geben wird. Ich habe mit Bastian Schweinsteiger geweint und gefeiert. Ich habe von ihm gelernt. Ich habe jeden Schritt seiner Karriere verfolgt.
Mit ihm ging 2015 auch ein kleines Stück meiner Liebe, die ich für den FC Bayern empfinde. Der Klub mag immer größer sein als die Spieler, doch Schweinsteiger wird für immer der Spieler sein, mit dem ich die schönsten, eindrucksvollsten, schlimmsten und einzigartigsten Momente teilen konnte.
Jetzt ist er zurück. Für ein Spiel. Für einen Augenblick. Und ich werde nach München fahren, mich verabschieden und seinen letzten Auftritt als Spieler in der Allianz Arena genießen.
Der Fußball und der FC Bayern haben auch nach Schweinsteigers Wechsel existiert. Doch ohne ihn wird immer ein bisschen was fehlen. Vielleicht kann ich in seinen Blicken zu den Fans am Dienstagabend aber etwas ablesen, was er einst von Jupp Heynckes gelernt hat: „Immer weitermachen! Es lohnt sich.“
Servus Basti und Danke für alles!
Morgen feiern wir nicht nur einen Künstler und Poeten, einen Dichter und Denker, sondern einen der Größten seines Bereichs. Eine deutsche Legende, über die noch in Jahrhunderten gesprochen werden sollte.
Und Goethe hat auch Geburtstag. #ServusBasti
— Justin (@LahmsteigerDE) 27. August 2018
Morgen wird Martin einen weiteren Abschieds-Artikel zu Bastian Schweinsteiger bei uns veröffentlichen.