Wie Guardiola den FC Bayern taktisch revolutionierte
Kollege Marco Henseling sprach bei Spox im Sommer 2012 von der Postmoderne; 1986 tat dies in der ZEIT schon Klaus Bartels. 2010 schlug sogar mit Christoph Biermann in der TAZ einer der wichtigsten deutschen Fußballautoren unserer Zeit in die gleiche Kerbe. Grundsätzlich ist die Postmoderne lediglich eine Weltanschauung. In diesem Kontext verweist sie auf eine Nutzung alter Ideen in neuem Gewand im Fußball anstatt einer Innovationsmöglichkeit.
Doch was hat Guardiola damit zu tun? Wie erwähnt, kommen solche Innovationen nur selten. Arrigo Sacchis Raumverknappung – hierzulande von Helmut Groß und dessen Schülern propagiert – in den späten 80ern gilt vermutlich als die letzte Innovation. Doch Guardiola und dessen wichtigster Einfluss – Juanma Lillo – haben mit ihrer Verschmelzung aus Offensive und Defensive, aus der Nutzung eines organisierten Positionsspiels und ihrer spezifischen Nutzung des Ballbesitzes ebenfalls dafür gesorgt.
Seither hat sich der Weltfußball verändert. Sieht man sich heute Spiele von vor zehn Jahren an, wirkt der Unterschied zum aktuellen Stand dramatisch. Spiele von vor zehn Jahren sehen wiederum nur marginal anders aus als von vor dreißig. Das Spiel mit Ball ist strukturierter, das Tempo ist enorm – hier ist die Symbiose aus dem aggressiven Pressing von Guardiolas Barcelona schnell kopiert und von vielen Mannschaften angewandt worden. Besonders in Deutschland, wo sich Klopp nach eigenen Aussagen sehr an Sacchi orientierte, ist dies auffällig.
Was hat Pep aber noch in petto? Die große strategische Innovation fehlt. Viele erwünschten sich eine abermalige Evolution des Fußballs in dieser Komponente, als der Katalane zu Bayern wechselte. Passiert ist es nicht; was nicht weiter verwunderlich ist. Rein taktisch ist aber der künftige Ex-Bayerntrainer nach wie vor einer, wenn nicht der Beste seines Fachs. Dies stellte er in seinen drei Jahren in München eindrucksvoll unter Beweis.
Jahr 1: Die Suche nach der gemeinsamen Identität
Zu Guardiolas Amtsantritt herrschte ein selten gesehener Hype. Seine Pressekonferenz und das erste Training wurden auf eine hierzulande noch nicht dagewesene Art und Weise inszeniert. Gleichzeitig war es ein Anstoß für bisher ebenfalls selten gesehene Überlegungen taktischer Natur. Was würde Guardiola beim Triple-Sieger verändern? Sollte er überhaupt was verändern? Um diese Fragen beantworten zu können, entstand zumindest in der Blogosphäre eine Reflektion darüber, wofür Guardiola denn genau stehe und was ihn damit von Heynckes differenzierte. Die Mainstreammedien unterfütterten dies mit wichtigen Informationen zu Guardiolas Planungen. So wurde schon nach dem ersten Training richtig berichtet, dass der Startrainer Franck Ribéry gerne in der Mitte einsetzen würde.
Guardiola traf aber auf einige Hindernisse. So waren die Gegner in Deutschland mit der weltweit ihresgleichen suchenden Ausrichtung auf Pressing und Umschaltmomente rein strategisch ein unangenehmer Gegner. Zwar mangelte und mangelt es einigen Bundesligamannschaften an der hochklassigen Struktur mit Ball oder im klassischen Defensivspiel, wie es die spanischen Teams aufweisen, Pressing und Konter beherrscht man in der Breite jedoch mindestens genauso gut. Außerdem waren Spieler wie Ribéry nicht vollends von einzelnen Umstellungsideen überzeugt.
In der ersten Saison entstand ein gewisser Zwist. Wie sehr könne man denn vom Heynckes-Fußball abweichen? Die Grundprinzipien des Positionsspiels wurden zwar dank der Qualität Guardiolas auf dem Trainingsplatz schnell etabliert, doch es mangelte an schwer zu trainierenden Feinheiten. Das Freilaufverhalten von Robben und Ribéry variierte zwischen „unsauber im Positionsspiel“ und „zu statisch“. Mandzukic als vorderster Spitze öffnete weiterhin Räume wie in der Heynckes-Ära, war spielerisch jedoch zu schwach und seine raumöffnenden Bewegungen waren wegen Guardiolas System weniger wertvoll. Zentral gab es spielstarke Akteure, doch Kroos und noch viel stärker Schweinsteiger waren in ihrem Passrhythmus und Verhalten mit Ball am Fuß nicht so ideal wie Xavi und Iniesta beim FC Barcelona. Kroos fand sich zwar schnell zurecht, mit Schweinsteiger hatte Guardiola in dessen Zeit beim FC Bayern jedoch fast immer seine Mühen.
Guardiolas Wunschverpflichtung Thiago Alcantara laborierte wie Götze immer wieder an Verletzungen. Gemeinsame Spektakel wie gegen den BVB im ersten Aufeinandertreffen in der Bundesliga blieben leider nur eine Seltenheit. Während der Saison fand Guardiola jedoch Lösungen für die Probleme. Einerseits von Spiel zu Spiel gegnerspezifische Anpassungen, die meist ins Schwarze trafen und für den frühesten Meister in der Geschichte der Bundesliga sorgten, andererseits grundlegende Veränderungen im System. Besonders drei Maßnahmen kristallisierten sich heraus:
- Lahm als Sechser
- In die Mitte rückende Außenverteidiger
- Veränderte Flügelstürmerrollen
Lahm auf die Sechs zu stellen, galt für Guardiola selbst als wichtigster Schachzug in der Saison. Der Kapitän der deutschen Weltmeisterelf überzeugt durch seine enorme Spielintelligenz, sein strategisches Geschick und seine Pressingresistenz. Er brachte mit und ohne Ballbesitz entscheidende Stärken in das Gesamtkonstrukt der Münchner.
Die einrückenden Außenverteidiger wurden vorwiegend genutzt, wenn nicht Lahm in der Mitte agierte. Hiermit schaffte Guardiola, Lahm und Alaba zentral zu nutzen, wodurch die Achter höher agieren und die Flügelstürmer Breite geben konnten. Kroos auf der Sechs war dann die häufigste Ergänzung der Spielfeldmitte.
Damit ging wie erwähnt eine Veränderung der Flügelstürmerrollen einher. Das Spiel der Bayern wurde in den Passrhythmen flügelorientierter, immer wieder suchte man nun Durchbrüche über breite Dribblings, Flanken, Schnittstellenpässe durch die Halbräume und schnelle Kombinationen mit den höheren Achtern. Bayern scheiterte letztlich gegen Real Madrid im Rückspiel des CL-Halbfinales an jenen Problemen, die zu Anfang der Saison sichtbar waren: Mangelnde Balance in der Absicherung, Probleme in der Spielfeldmitte, Unsauberkeit im letzten Drittel.
Diese Anpassung war ein Fingerzeig auf die zukünftige Entwicklung der Bayern
Jahr 2: Detailarbeit im System
2014/15 war jene Identität, welche die Bayern in den nächsten zwei Jahren führen sollten, schon früh erkennbar. Bereits die Transfers zeigten dies. Bernat als neuer Außenverteidiger, Xabi Alonso auf der Sechs, Rode als Alternative im Mittelfeld und Lewandowski ganz vorne waren Indizien für eine neue bzw. klarere Ausrichtung.
Lewandowski war keine „falsche Neun“, kein Stürmertyp wie z.B. Karim Benzema, sondern ähnlich zu Mandzukic, doch mit massiv besserem Spiel mit Ball am Fuß. Er sollte die Verbindung geben aus der Möglichkeit weiterhin lange Bälle zu spielen, Flanken in die Mitte bringen zu können oder für die Flügelstürmer als Ablagestation zu fungieren. Alonso war grundsätzlich ein Ersatz für den abgewanderten Kroos, doch der Spanier bringt einige wichtige Unterschiede zum deutschen Nationalspieler. Alonso kann eher als alleinige Sechs spielen und spielt enorm fokussierte lange Diagonalbälle. Für das neue System eine optimale Ergänzung in dieser Hinsicht. Rode brachte mehr Dynamik, physische Präsenz und Vertikalität ins Mittelfeldzentrum, Bernat wiederum eine Alternative zu Alaba.
Alaba war nämlich ein wichtiger Aspekt in diesem zweiten Jahr. Verstärkt experimentierte Guardiola nach dem DFB-Pokalfinale gegen den BVB, wo die Dreierkette zum ersten Mal in einem Pflichtspiel genutzt wurde, mit drei Verteidigern in der ersten Linie. Immer wieder gab es 2014/15 3-4-3/3-4-2-1-Systeme. Wichtig schien für Guardiola hierbei herauszufinden, wie genau man die Flügel nutzen sollte.
Einige Spiele hatten bspw. einen Flügelstürmer (Robben) und einen Außenverteidiger (Bernat) auf den Seiten. In anderen Partien nutzte man zwei Außenverteidiger seitlich oder kehrte zum 4-3-3 zurück, welches aber häufiger wie ein 4-4-2 interpretiert wurde. Gegen den Ball spielte Müller öfters tiefer, besetzte in Ballbesitz jedoch mit Lewandowski die vorderen zentralen Räume. Ein paar Mal gab es sogar ein 4-3-1-2/4-1-3-2 zu sehen – also eine Mittelfeldraute –, in der Robben, Ribéry und Götze gemeinsam vor Alonso und hinter zwei Stürmern agierten (Hertha, Hoffenheim).
Diese Phase sorgte für einige tolle Partien. Neben dem Kantersieg gegen die Roma mit Robben als Flügelverteidiger fiel immer wieder auch die Nutzung Alabas ins Auge, der als Halbverteidiger nach vorne marschierte und eine Schlüsselrolle in diesem System einnahm. Alonso als Sechser vor drei Verteidigern funktionierte ebenfalls besser, die Kombination mit ihm und Schweinsteiger als zwei Sechser klappte allerdings weiterhin nicht. Der versuchte erhöhte Fokus auf die Flügelstürmer wurde jedoch zum zweischneidigen Schwert: Ribéry und Robben fielen immer wieder aus, in der heißen Phase der Saison im Frühjahr fehlten öfters beide Akteure.
Zwar konnte man es durch die herausragende Qualität gegen den Ball, die individuelle Klasse und andere Gimmicks – inkl. ein paar verstärkt konterorientierten Spielen und Flankenfokus auf Müller und Lewandowski – kompensieren, für die nächste Saison musste jedoch eine Änderung her. Guardiola entschied sich für eine personelle anstatt einer systemischen.
Im letzten Guardiolajahr nahmen die Experimente ab. Zwar gab es natürlich immer wieder die spezifischen Anpassungen an den Gegner, diese variierten jedoch eher im Detail und nicht in der Teamtaktik.
Jahr 3: Ein fast gelungener Abschluss
Dreierkette und Co. wurden gelegentlich wieder genutzt, spätestens im Frühling gab es aber vorrangig das 4-1-4-1/4-3-3 und gewisse Abwandlungen davon zu sehen. Dies war möglich, weil im Sommer mit Coman und Costa zwei neue Flügelstürmer geholt haben. Die Flügelstürmerpositionen waren nun mehrfach besetzt.
Costa und Coman boten grundsätzlich 1-zu-1-Ersatz für Ribéry und Robben, können beide jedoch auch auf der gegenüberliegenden Seite agieren und vermehrt für Flanken zur Grundlinie durchbrechen. Damit wurde die Verbindung zweier Grundkonzepte – dem Fokus auf die Mittelstürmer und dem Fokus auf die Flügelstürmer in der Ausrichtung – geschaffen. Fielen Ribéry und Robben aus, konnte man das System beibehalten und auf Dribblings der Außen in Richtung Mitte setzen, man konnte es verändern oder auch asymmetrisch auslegen, wenn nur einer aus Robben/Ribéry fit war. Bei Bedarf können auch Götze und Müller im Kader über den Flügel kommen, dieser Bedarf war allerdings kaum noch gegeben.
Eine weitere Verpflichtung entpuppte sich ebenfalls als wichtiger Aspekt in diesem variablen 4-1-4-1 mit asymmetrischer Mittelfeldbesetzung. Vidal als weitere Option in der Mitte verdrängte sogar Guardiolas Lieblingsspieler. Thiago pendelte zwischen Stammelf und Bank; sogar dann, wenn er einsatzbereit ist. Anfangs hatte der chilenische Neueinkauf von Juventus Turin allerdings seine Probleme. Im Aufbauspiel brachte er keine neue Komponente ein, im Angriffsspiel war er der Effektivität der Kombinationen abträglich. Erst, als Guardiola Vidal verstärkt als vorstoßenden Akteur mit dementsprechender Absicherung nutzte, wurden dessen spezielle Stärken (Torgefahr, Vertikalität im Spiel ohne Ball, Besetzung der Strafraumrückräume, Gegenpressing) ins System eingebunden.
Für den ganz großen Wurf – ein erneutes Triple – sollte es nicht reichen. Guardiola und seine Spieler scheinen das „Projekt“ dennoch für erfolgreich zu halten, wenn man deren jüngste Aussagen so deuten möchte. Dabei haben sie nicht Unrecht. Im Fußball ist enorm viel Zufall im Spiel. Mal hat man Pech, mal die Anderen Glück.
Abschlussdiskussion: „Mia san Mia“ erfüllt
Natürlich darf Guardiola vor Kritik nicht geschützt werden. Die Trainingssteuerung wirkte in Anbetracht der vielen Verletzten nicht immer optimal, auch wenn dies natürlich nicht isoliert Guardiola alleine zugeschrieben werden kann. Die Einbindung Götzes hätte anders ablaufen können, ebenso wie der Umgang mit Medien und einzelne Ausrichtungen in bestimmten Spielen, wo taktisch nicht durchgehend richtig aufgestellt wurde.
Die Frage ist jedoch, ob es jemand anders besser gemacht hätte. Konstant richtig aufstellen vermag kaum ein Trainer. Das ist schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit. Guardiola ist im Gegensatz zu vielen anderen allerdings mutig genug, auch erfolgreiche Aufstellungen zu verändern, um die Erfolgswahrscheinlichkeit in speziellen Partien zu erhöhen. Das macht ihn angreifbar, obwohl eigentlich nicht der Fehler, sondern der mangelnde Mut Fehler zu begehen, das größere Kritikfeld sein sollte.
Guardiola kann man eher als eine Art Projektmanager sehen. Seine Ziele waren eine neue – seine – Spielweise bei den Bayern zu etablieren und sie gleichzeitig salon-, äh, deutschlandfähig zu machen. Das gelang durchaus. Das „Mia san Mia“ wurde nicht ad acta gelegt, sondern erweitert. Die Dominanz zeigte sich in jedem Spiel, Meistertitel wurden den Bayern schon zu Saisonbeginn bescheinigt und trotz der schwierigen Aufgabe, diese hohen Erwartungen inmitten eines wiedererstarkten BVB und der Doppelbelastung zu erfüllen, schaffte man es mit beispielloser Souveränität.
Den Projektmanager Guardiola könnte man wie folgt definieren: Konzeptphase (vor Amtsantritt), Definitionsphase (Jahr 1), Entwurf- und Entwicklungsphase (Ende Jahr 1 bis Anfang Jahr 3), Betriebs- und Wartungsphase (Jahr 3), Stilllegungsphase (letzten Monate von Jahr 3). Statistische Werte wie Expected Goals, die weniger von Einzelergebnissen abhängig sind als der Spielstand, sprechen übrigens davon, dass Guardiolas Mannschaft sich diesbezüglich auch vor dem Triplesiegerteam 2013 oder der großen Barcelonamannschaft Guardiolas nicht verstecken muss.
Natürlich wird wegen einzelner Fehler und einem mangelnden CL-Titel ein Fleck auf der weißen Weste verbleiben. Doch Guardiola hat es geschafft, dass die Diskussion über Fußball auf ein neues Niveau gehoben wird. Zwar wehren sich manche Mainstreammedien und Stammtischexperten dagegen, die Blogosphäre und einige Journalisten sind allerdings weitgehend mitgegangen. Und es zeigt sich auch in Gesprächen mit Trainern im Profibereich (sh. das Doppelinterview mit Tuchel auf DFB.de) und im Amateur- oder Jugendbereich, wie sehr Guardiola als Vorbild dient. Jogi Löws Nationalmannschaft orientierte sich ebenso an einige Ideen wie junge oder weniger bekannte Trainer aus unteren Niveaus, ob ein Horst Steffen (früher Stuttgarter Kickers, jetzt Preußen Münster) oder Sandro Schwarz (Mainz II). Was Rangnicks und Klopps Fußball Ende der 2000er an Entwicklung lostrat, könnte sich in den nächsten Jahren dank Guardiola vollziehen – oder so möchte man wünschen.