Viktoria Schnaderbeck: Plötzlich Abwehrchefin?
Das Stammsystem der Bayern ist ein 3-5-2 mit einer Dreierkette in der Verteidigung, fünf Mittelfeldspielerinnen und zweien im Angriffsverbund. Gegen den Ball gliedern sich die äußersten Mittelfeldspielerinnen in den Abwehrriegel ein und formen so entweder eine Fünferkette oder aber — so wie es am Sonntag der Fall war — lediglich die ballferne Spielerin geht mit zurück, so dass eine Viererkette entsteht, und die ballnahe Spielerin hilft beim Doppeln der ballführenden Gegnerin im Mittelfeld aus, um so mehr Druck auf den Ball bzw. die Gegnerinnen zu erzeugen. Die Stammbesetzung für die Fünferabwehrkette besteht in der aktuellen Saison bei den Bayern aus Nora Holstad in der Mitte, Raffaella Manieri auf der linken und Caroline Abbé auf der rechten Halbverteidigerposition. Diese drei etatmäßigen Innenverteidigerinnen bilden die angestammte Dreierkette. Bei eigenem Ballbesitz können die Flügelverteidigerinnen weit nach vorne aufrücken und die Offensive unterstützen. Auf der linken Seite übernahm diese Rolle Gina Lewandowski ein ums andere Mal, auf der rechten wie gesagt Viktoria Schnaderbeck.
Beide agieren beim FC Bayern extrem vertikal und bespielen die Außenbahnen von einer Grundlinie bis zur anderen — und das meist allein. Lediglich situativ pendeln die Stürmerinnen oder Mittelfeldspielerinnen an den Spielfeldrand. Einkippende Läufe ins Zentrum, wie man sie von den „falschen Außenverteidigern“ David Alaba und Rafinha aus der letzten Spielzeit der Bayern-Männer unter Pep Guardiola kennenlernte, oder wie Rafinha sie auch in dieser Saison häufig zeigt, sieht man bei Lewandowski und Schnaderbeck fast nie. Dafür erfordert ihre Spielweise eine ausgezeichnete Athletik und Ausdauer.
Überangebot an Innenverteidigerinnen
Ohne große Übertreibung lässt sich argumentieren, dass die letzte Fünferlinie der Bayern-Frauen komplett aus Innenverteidigerinnen besteht. Ähnliches konnten wir bei der WM in Brasilien beim deutschen und beim belgischen Team sehen, die mit Viererketten nur aus Innenverteidigern spielten. Bevor Lewandowski für fünf Jahre nach Frankfurt ging, spielte sie im Probetraining als Außenverteidigerin vor, wurde dann aber beim FFC für die Innenverteidigung verpflichtet und weitergebildet. Auch Viktoria Schnaderbeck ist die zentrale Abwehrposition nicht fremd. In der österreichischen Nationalmannschaft wird sie nicht zuletzt aufgrund ihrer Körpergröße von 174 Zentimetern (genau wie Nora Holstad) immer wieder dort eingesetzt. Noch mehr Erfahrung konnte Schnaderbeck allerdings im zentralen Mittelfeld sammeln. Den defensiven Sechserpart hat sie ebenso im Repertoire wie die kreativeren Positionen auf der Acht wie auf der Zehn. Als Rechtsverteidigerin Leonie Maier zum Ende des letzten Jahres aus der Verletzungspause zurückkehrte, schob auch Wörle Schnaderbeck mehrfach auf die Sechs, um Maier Spielpraxis auf ihrer angestammten Position zu ermöglichen.
Man könnte einwenden, dass es bei all der offensiven Mittelfelderfahrung Risiken birgt, Schnaderbeck die Verantwortung der Abwehrchefin aufzutragen — zumal mit Lewandowski ja eine weitere erfahrene Innenverteidigerin bereit gestanden hätte. Doch einerseits ist Lewandowski fünf Zentimeter kleiner als Schnaderbeck, was im Strafraum für Nachteile sorgen kann und andererseits ist der Kader auf der rechten Seite tiefer. Mit Leonie Maier hat der FC Bayern eine absolute Granate für die rechte Seite in seinen Reihen, die trotz langer Verletzungspause von Bundestrainerin Silvia Neid im März beim Algarve Cup die Chance bekommt, sich noch für die Weltmeisterschaft in Kanada im Sommer zu empfehlen.
Die Erfahrung als Mittelfeldspielerin qualifiziert Schnaderbeck wiederum mit allen Gaben, die es für eine gute Spieleröffnung braucht: Übersicht, also den Blick für Mitspielerinnen und Räume, Technik und Passwinkel für die Ballbehandlung und Ballverteilung sowie eine hohe Dynamik, um aufzurücken oder aber in der Rückwärtsbewegung eventuelle Konterläufe der Gegnerinnen ablaufen zu können. Für die kreative Spieleröffnung hat Wolfsburg der bayerischen Abwehrreihe am Sonntag zwar wenig Raum gelassen, doch das Ablaufen von Kontern — man erinnere sich an die Szene gegen Ogimi nach etwas mehr als zwanzig Minuten — funktionierte ausgezeichnet. In der Szene kurz vor Abpfiff lag es zwar auch an der nicht idealen Entscheidungsfindung Schnaderbecks, dass Bernauer fasst noch das entscheidende Gegentor geschossen hätte, mit etwas mehr Praxis ließen sich solche Fehler bei einer vielseitigen Spielerin wie Schnaderbeck aber mit Sicherheit abstellen. Voraussichtlich wird das aber nicht nötig sein. Mit der Rückkehr von Nora Holstad und Carina Wenninger, einer weiteren österreichischen Nationalspielerin von 180 Zentimetern Körpergröße wird Thomas Wörle in der Innenverteidigung eher ein Luxusproblem zu moderieren haben. Nicht immer wird er dafür fünf Innenverteidigerinnen aufstellen müssen.