FC Bayern – Miasanrot-Adventskalender, Nummer 14: Claudio Pizarro
Ein Gastbeitrag von Alex Feuerherdt.
Im März 2016 veröffentlichte der Sportjournalist Thomas Nowag einen Tweet mit einem Foto, das Claudio Pizarro und Papst Franziskus zeigt, aufgenommen im Oktober 2014 im Vatikan. Zum Foto hatte Nowag einen fiktiven Dialog zwischen den beiden formuliert: „Ich bewundere Sie. Ihre Würde und Ausstrahlung ist für Milliarden Menschen inspirierend.“ – „Danke, Heiliger Vater.“ Eine so amüsante wie selbstverständlich völlig angemessene Würdigung des Stürmers, die mit rund 1.400 Likes und etwas über 400 Retweets von der Netzgemeinde sogar noch viel zu gering honoriert wurde.
Als Claudio Miguel Pizarro Bosio, wie er mit vollständigem Namen heißt, nach der Saison 2019/20 mit fast 42 Jahren seine Karriere als Profifußballer beendete und rund zwei Jahre später – als Corona nicht mehr dafür sorgte, dass die Tribünen leer bleiben müssen – sein Abschiedsspiel vor 42.000 Zuschauern im Bremer Weserstadion bestritt, dürften die Fans von gleich zwei Klubs die eine oder andere Träne verdrückt haben: jene des FC Bayern, bei dem Pizarro zweimal unter Vertrag stand, und die des SV Werder, zu dem er nicht weniger als viermal wechselte.
Bei beiden Klubs stand er in annähernd gleich vielen Pflichtspielen auf dem Feld: 327-mal lief „Piza“ für den FC Bayern auf, 320-mal für Bremen. 125 Tore erzielte er für die Münchner, gar deren 152 für Werder. Mit den Norddeutschen gewann Pizarro allerdings nur einen Titel, nämlich den DFB-Pokal im Jahr 2009. Mit den Bayern wurde er dagegen sechsmal Meister und fünfmal Pokalsieger, außerdem einmal Champions-League-Sieger. Überdies hält er mehrere Rekorde: Claudio Pizarro ist der ausländische Spieler mit den meisten Bundesliga-Einsätzen, der älteste Bundesliga-Torschütze, der erste Spieler in der Geschichte der deutschen Eliteklasse, der in 21 Kalenderjahren in Folge mindestens einen Treffer erzielt hat, und Rekordtorschütze des SV Werder.
Eher zufällig entdeckt
Aber diese nackten Zahlen erzählen, so beeindruckend sie sind, nur einen Teil der Geschichte. Schon wie Pizarro in die Bundesliga kam, war etwas Besonderes, denn entdeckt wurde er eher zufällig – das Scoutingsystem war Ende der 1990er Jahre längst nicht so professionell und engmaschig wie heute. Werders damaliger Geschäftsführer Jürgen L. Born hatte im Jahr 1999 noch einen Auftrag für die Deutsche Entwicklungsgesellschaft, seinen vormaligen Arbeitgeber, in Peru zu erledigen und erinnerte sich daran, dass ihm bei der Übertragung eines Spiels des peruanischen Nationalteams ein junger Angreifer von Alianza Lima besonders aufgefallen war.
Also besuchte er auf eigene Faust ein Training des Klubs, das an jenem Tag allerdings unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. Born zwängte sich deshalb durch ein Loch im Zaun und versteckte sich anschließend hinter einer Säule, um Pizarro zu beobachten. „Lange brauchte ich aber nicht zu gucken, denn dieser geschmeidige Bewegungsablauf, die Schnelligkeit und die Kaltschnäuzigkeit vor dem Tor waren sofort erkennbar. Ich war mir sicher: Das ist einer für Werder“, erinnerte er sich später. Born flog mit dem seinerzeitigen Bremer Sportdirektor Klaus Allofs noch einmal nach Lima, um sich den damals 20-Jährigen anzusehen. Danach erhielt Pizarro einen Vertrag beim SV Werder.
Gegen namhafte Konkurrenten durchgesetzt
An der Weser schlug er sofort ein und erzielte in seinen ersten beiden Bundesligajahren insgesamt 29 Tore, auch im UEFA-Pokal traf er regelmäßig. Klar, dass er damit auch für den FC Bayern interessant wurde, der ihn zur Saison 2001/02 für die Ablösesumme von 15 Millionen D-Mark verpflichtete – nach einer turbulenten und nervenaufreibenden Spielzeit, in der die Münchner in buchstäblich letzter Sekunde die Meisterschaft gewannen und wenige Tage später auch die Champions League nach Elfmeterschießen. Pizarros Konkurrenten hießen fortan Giovane Élber, Carsten Jancker, Paulo Sérgio, Alexander Zickler und Roque Santa Cruz.
Doch Pizarro setzte sich auch in München durch, traf in seiner ersten Saison an der Isar 15-mal in der Bundesliga und wurde in allen Champions-League-Partien des Titelverteidigers bis zu dessen Ausscheiden im Viertelfinale eingesetzt. Bis 2007 blieb er beim FC Bayern, dann schlug er das Angebot zur Vertragsverlängerung aus und wechselte ablösefrei zum FC Chelsea, wo er jedoch so gar nicht zurechtkam. Nach nur einem Jahr und lediglich zwei Ligatoren kehrte Pizarro nach Bremen zurück, zunächst auf Leihbasis und schließlich wieder fest.
Auch im hohen Fußballeralter erstaunlich treffsicher
Zur Saison 2012/13 wechselte er zum zweiten Mal von Bremen nach München, inzwischen fast 34-jährig. Es war klar, dass Pizarro in der Sturmspitze hinter Mario Mandžukić und Mario Gomez nur die Nummer drei sein und in erster Linie Kurzeinsätze bekommen würde. Doch diese Rolle nahm er im Spätherbst seiner Karriere gerne an. „Er ist ein Schlitzohr, aber bei mir immer professionell, leistungswillig und leistungsstark. Dazu ein großartiger Charakter, für eine Mannschaft immer ein positives Element“, erinnerte sich später Jupp Heynckes, der das Team in jener Spielzeit trainierte und zum Triple aus Meisterschaft, Pokalgewinn und Champions-League-Sieg führte.
Claudio Pizarro traf regelmäßig, wenn er zum Zug kam – gleich dreimal im Champions-League-Gruppenspiel gegen den OSC Lille (6:1), gar viermal in der Bundesligapartie gegen den HSV (9:2). Der Lohn dafür: Der Klub verlängerte den Einjahresvertrag um ein weiteres Jahr und nach zehn Bundesligatoren in 17 Einsätzen unter Pep Guardiola in der Spielzeit 2013/14 erneut um eine weitere Saison, in der Pizarro jedoch kaum noch spielte und erstmals ohne Treffer blieb. Mit fast 37 Jahren ging er ein drittes Mal nach Bremen, wo er in der Saison 2015/16 insgesamt 32 Pflichtspiele bestritt, in denen er 16-mal traf. Eine bemerkenswerte Quote in diesem Alter.
Nach einem einjährigen Intermezzo beim 1. FC Köln in der Spielzeit 2017/18 folgte der letzte Wechsel zum SV Werder. 40 Jahre und 227 Tage alt war Pizarro, der 85 Länderspiele für Peru bestritt und viele Jahre lang Kapitän des Nationalteams war, als er am 18. Mai 2019 sein letztes Bundesligator erzielte: den Siegtreffer zum 2:1 gegen RB Leipzig. In der Saison 2019/20 blieb er in der Meisterschaft bei 18 Einsätzen torlos. Mitte September 2020 unterzeichnete Pizarro einen Vertrag als Botschafter des FC Bayern München, und natürlich ist er auch festes Mitglied der FC Bayern Legends.
Schlawiner und totaler Teamplayer
Dass er auch im hohen Fußballeralter noch in der Bundesliga traf, hat Claudio Pizarro nicht nur einer guten Physis zu verdanken, sondern auch und vor allem seinen herausragenden technischen Fertigkeiten und seiner exzellenten Antizipation und Handlungsschnelligkeit. Mehmet Scholl nannte ihn einmal den besten Fußballer, mit dem er jemals zusammen gespielt habe. „Ich gucke viel, und dann weiß ich, was ich machen kann“, antwortete Pizarro selbst einmal auf die Frage nach seinem Erfolgsgeheimnis. Das sollte heißen: Er schaute sich ständig auf dem Spielfeld um, versuchte Spielsituationen zu erahnen, um seinen Gegenspielern gedanklich wie buchstäblich einen Schritt voraus zu sein.
Thomas Schaaf, sein erster Trainer in Deutschland, sagte über Pizarro: „Claudio ist ein totaler Teamplayer und Menschenfänger im positiven Sinne – allein schon durch sein Lächeln und sein optimistisches Auftreten.“ Seine Integration sei von ihm selbst ausgegangen, „nicht nur auf dem Platz“. Uli Hoeneß, der Pizarro bei seinem ersten Wechsel nach Bremen im Jahr 1999 noch als „Santa Cruz für Arme“ verspottet hatte, sollte ihn später einen „Schlawiner“ nennen, was der Angesprochene zu Recht als Kompliment verstand.
Es gibt jedoch nicht wenige, die glauben, dass Pizarro in seiner Karriere noch mehr hätte erreichen können, wenn er sich manche Eskapade abseits des Platzes gespart hätte. In München wurde er innerhalb eines Jahres zweimal mit 1,1 Promille beim Autofahren erwischt, in Peru gab es um ihn und andere Nationalspieler einen veritablen Sexskandal. Claudio Pizarro hat das weggelächelt, dauerhaft gram war ihm deshalb auch niemand, dafür kam er in der Öffentlichkeit zu sympathisch herüber, als einer, der niemandem etwas Böses will. Andere Spieler wurden nach ihrem Wechsel zum FC Bayern ausgepfiffen, in Bremen dagegen verübelte man ihm diesen Schritt nicht und empfing ihn bei seinen Rückkehren mit offenen Armen. Aber „Piza“ war auch wirklich ein ganz besonderer Spieler.