Vorschau: Gerd Müller – Robert Lewandowski
Ein Tor noch und Lewandowski ist angekommen im Fußballolymp der Bundesliga-Geschichte. Viele Jahre galt der Rekord von Gerd Müller als unantastbar. 40 Treffer in einer Saison? Das ist unmöglich. Auch die Entwicklung des Fußballs an sich hat dazu beigetragen. Defensivreihen wurden taktisch cleverer und in der Offensive setzten Trainer auf mehr Variabilität. In den 2000er Jahren spielten viele Mannschaften deshalb eine Grundausrichtung mit zwei Sturmspitzen. Damit einher ging eine Verteilung der Tore auf mehrere Schultern, wie sie insbesondere zu Zeiten von Gerd Müller kaum oder zumindest anders stattfand.
Wenn ein Stürmer zwischen 25 und 30 Toren erzielte, war das schon außergewöhnlich. Im Prinzip gilt das auch heute noch. Wer so oft trifft, zählt automatisch zu den besten Spielern des Landes. Selbst im internationalen Vergleich gab es nur wenige Spieler, die in Sphären vorstießen, die mit Gerd Müller vergleichbar sind. Cristiano Ronaldo und Lionel Messi sind zwei von ihnen. In der Bundesliga aber? Unvorstellbar.
Müller und Lewandowski im Vergleich
In der Saison 1971/1972, als Müller seinen Rekord aufstellte, hat er 40 von 101 Treffern erzielt, also knapp 40 Prozent aller Bayern-Tore in der Liga. In den 2000er Jahren gab es nur wenige Ausnahmen wie Marek Mintal (der fast die Hälfte aller Nürnberg-Tore in der Saison 2004/2005 erzielte) oder Aílton, der immerhin 2003/2004 auf 28 Tore und knapp 35 % aller Werder-Tore kam. Auch Theofanis Gekas (20 von 49 Bochumer Toren in der Saison 2006/2007) ist einer der Ausreißer nach oben. Gerade im Bayern-Kontext aber gibt es keinen Stürmer, der auch nur annähernd an diese Quote herankommt.
Meist spielten die Münchner eben mit zwei Sturmspitzen. Luca Tonis 24 Tore in der Saison 2007/2008 stechen mit einem Anteil von ca. 35 Prozent hervor. Mit der Anstellung von Louis van Gaal wendete sich das Blatt hingegen wieder. Der Niederländer stellte auf eine Sturmspitze um, sorgte aber zugleich dafür, dass die Flügelspieler stärker in den Fokus rücken. Insbesondere Arjen Robben sollte in den Folgejahren viele Tore erzielen und auch Thomas Müller nahm dem Angreifer einiges ab. In der ersten Saison unter van Gaal waren die beiden sogar die Bundesliga-Toptorschützen der Bayern: Robben kam auf 16, Müller auf 13 Tore. Bester Mittelstürmer war Ivica Olić mit 11 Treffern.
Dann aber kam der Fokus auf einen Mittelstürmer zurück. Mit einer Saison Anlauf war Mario Gómez nun der Dreh- und Angelpunkt in der Offensive. 2010/2011 machte er 28 Bundesliga-Tore mit einem Anteil von rund 34,5 % an allen Bayern-Treffern. In dieser Region bewegten sich fortan auch die meisten Angreifer – mit einer großen Ausnahme in der Saison 2012/2013, als sich drei Angreifer die Position vorne aufteilten.
Die Rückkehr zum Zielspieler?
Am nächsten kam der Anteilsquote zuletzt Robert Lewandowski selbst, als er in der Saison 2015/2016 30 Bundesliga-Treffer erzielte und damit auf einen Anteil von 37,5 % kam. Es lässt sich also durchaus die These aufstellen, dass die Bayern in den 2010er Jahren zwar wieder vermehrt auf einen Stürmer setzen, sie zugleich aber mit Robben und Müller zwei Spieler hatten, die ebenfalls viele Tore erzielten.
Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Der andere ist, dass Müller in seiner überragenden Rekordsaison ebenfalls starke Mitstreiter im eigenen Team hatte. Uli Hoeneß erzielte damals 13 Treffer, Franz Roth immerhin 12. Die Bayern waren eine Offensivmaschine, die mit 101 Toren einen Rekord aufstellte, der lange ebenso fern schien wie der Müller-Rekord selbst. In der vergangenen Saison wäre es den Bayern aber fast gelungen. Nur ein Treffer fehlte. Lewandowskis 34 Tore schienen bereits das Maximum aller Möglichkeiten zu sein in einer Fußballwelt, die sich in der Offensive nur noch selten auf einen einzigen Zielspieler fokussiert. In dieser Saison sind die Bayern wieder nah dran an der 100.
Gerade im Gesamtkontext der Bundesliga ist die Entwicklung bemerkenswert. Unter den Top 5 der Bundesliga gibt es vier Mannschaften, die rein statistisch sehr abhängig von einem Angreifer sind. Frankfurts André Silva erzielte bisher 25 von 63 Frankfurter Toren (39,7 %), Wout Weghorst 20 der 57 Wolfsburg-Tore (35 %), Haaland kommt beim BVB auf 25 von insgesamt 69 Treffern (36,23 %), wobei er einige Zeit ausgefallen ist. Und dann gibt es eben noch Robert Lewandowski, der aktuell bei 39 Toren und einer Anteilsquote von 42,4 % steht. Die Rückkehr zum Zielspieler?
Statistisch ist Lewandowski jetzt schon besser als Müller
Eigentlich hat sich bei den Bayern recht wenig verändert. Das Spiel ist immer noch auf offensive Flexibilität ausgelegt und wie sich allein am vergangenen Wochenende zeigte, ist es nicht Lewandowski allein, der die Tore macht. Thomas Müller kommt ebenfalls auf 11 Treffer und Serge Gnabry auf 9. Damit ist auch noch der Rekord des erfolgreichsten Stürmer-Duos auf dem Spiel. Grafite und Edin Dzeko trafen 2008/2009 zusammen 54-mal. Lewandowski und Müller stehen bei 50 Toren. In der letzten Saison, als die Münchner 100 Tore machten, verteilten sich diese auf 15 Schultern, in dieser Spielzeit sind es bisher erneut 15. In der Saison 1971/1972 waren es 12.
Auch die Torquote pro 90 Minuten ist im Vergleich der beiden Ausnahmeangreifer interessant. Zweimal gelang es Gerd Müller, die komplette Bundesliga-Spielzeit über auf dem Platz zu stehen. Einmal, als er die 40 Tore schaffte. Auf 3060 Spielminuten verteilt macht das eine Quote von 76,5 Minuten pro Tor. Demgegenüber steht bei Lewandowski in dieser Saison eine Quote von unglaublichen 58,5 Minuten pro Treffer. Der Pole stand nur 2283 Minuten auf dem Platz bei 27 Einsätzen.
Allerdings traf Lewandowski auch schon siebenmal vom Punkt. Eine Statistik, die gern etwas abschätzig betrachtet wird, weil Elfmeter für einen Stürmer eigentlich keine Herausforderung darstellen sollten. Dass auch diese sich aber nicht mal eben im Vorbeigehen erledigen lassen, zeigte eben jener Gerd Müller in seiner Rekordsaison. Drei Elfmeter hatte der „Bomber“ zu Saisonbeginn verschossen, anschließend trat er zu keinem mehr an. Und selbst ohne Strafstöße kommt Lewandowski aktuell auf eine Quote von einem Tor pro 71,3 Minuten – ebenfalls ein besserer Wert als jener von Müller.
Ist Lewandowskis Leistung weniger wert als jene von Müller?
Die Einsatzzeiten werfen auch eine weitere Frage auf: Ist es heute schwerer für die Athleten, eine komplette Saison durchzuspielen? Dafür sprechen sicher die aufgeblähten Spielpläne, das viel höhere Spieltempo sowie ein nicht von der Hand zu weisendes Verletzungsrisiko wegen einer hohen Belastung. Allerdings kann dem auch entgegengestellt werden, dass die Spielweise der Gegner damals deutlich rustikaler war und es weniger verpönt war, überhart in die Zweikämpfe zu gehen. Legendär ist in diesem Kontext sicher das Finale im Europapokal der Landesmeister 1975 gegen Leeds, über die Franz Beckenbauer nach der Partie schimpfte: „Die schmutzigste Mannschaft, die ich je kennenlernte.“
Außerdem bestritten die Münchner viele Testspiele, auch unter der Woche. Für den Klub war das eine wichtige Einnahmequelle. Zwar sind diese Spiele nicht mit dem Wettbewerbscharakter einer Champions League oder eines DFB-Pokals zu vergleichen, aber die Reisen und das ganze Drumherum sind sicher nicht zu vernachlässigen. Insofern lässt sich die Frage nicht abschließend klären. Dass es heute nur noch wenige Spieler gibt, die über die volle Distanz einer Bundesliga-Saison gehen, dürfte auch mit dem medizinischen Fortschritt zusammenhängen. Das Stichwort ist hier die Belastungssteuerung. Die Kader sind breit aufgestellt und vereinzelt ist es eben doch einfacher, auf den Topspieler zu verzichten.
Vielerorts wird auch das Argument hervorgebracht, dass die Bayern es heute einfacher hätten, in der Bundesliga Tore zu schießen. Richtig ist zwar, dass die Münchner ihrer Konkurrenz national weit enteilt sind, doch ein Blick auf die Saison 1971/1972 zeigt eben auch: Laufkundschaft gab es für die Bayern auch damals schon. Zehnmal schossen die Bayern mindestens vier Tore, einmal sogar elf gegen den BVB. In dieser Saison sind es bisher 12 Partien mit mindestens vier Bayern-Treffern.
Zwei Spiele für den Legendenstatus
Wie bereits angedeutet, sind die Defensivreihen in der heutigen Zeit taktisch besser geschult und organisiert als in den Siebzigern. Das dürfte ein Grund dafür sein, dass die Rekorde der damaligen Zeit so lange Bestand hatten und teilweise noch haben. Klar ist aber auch, dass die weiter auseinandergehende Schere ihren Teil dazu beiträgt, dass sich die Bayern immer mehr in eine Richtung entwickelt haben, in der diese Rekorde greifbarer werden. Die Außergewöhnlichkeit der Lewandowski-Saison sollte dennoch nicht in Frage gestellt werden.
Beide, sowohl Müller als auch Lewandowski, haben unglaubliche Leistungen erbracht, die man kaum ausreichend würdigen kann. Bei Müller muss man sogar noch erwähnen, dass er nicht nur drei Elfmeter liegen ließ, sondern in insgesamt 15 Partien kein Tor erzielen konnte. Seine 40 Treffer verteilen sich somit auf die restlichen 19. Lewandowski hingegen traf nur in vier Partien nicht, in denen er eingesetzt wurde. Hinzu kommen fünf verpasste Spiele durch Verletzung oder Schonung.
Es braucht heute schon eine außergewöhnlich konstante Saison, um in diese Reichweite zu kommen – und selbst dann ist es noch schwer genug. Jetzt aber hat Lewandowski zwei Spiele Zeit für mindestens einen Treffer, um sich endgültig einen Legendenstatus in der Bundesliga zu verschaffen. Zumindest, wenn er sich selbst im Griff hat. Eine große Gefahr lauert nämlich noch: Bekommt er eine gelbe Karte in Freiburg, wird er beim letzten Spiel daheim gegen Augsburg fehlen.
Zwei Lieblingsgegner?
Ansonsten braucht es für ihn aber jetzt „nur“ noch eine durchschnittliche Leistung, um den Rekord zu knacken. Einerseits bezogen auf die bisher gezeigten Leistungen, andererseits bezogen auf die verbliebenen Gegner. Gegen Freiburg trifft der Stürmer im Schnitt alle 78 Minuten. Aber: Im Bayern-Trikot liegt dieser nur bei 106 Minuten. 17 Spiele, 18 Treffer – das dürfte dennoch ein Grund sein, ihm den Rekord schon am kommenden Wochenende zuzutrauen. Zumal Freiburg in den letzten Wochen defensiv nicht fehlerfrei agierte.
Doch selbst wenn es im Breisgau noch nicht klappt, bietet sich – zumindest ohne Gelbsperre – noch eine weitere gute Gelegenheit. Gegen den FC Augsburg hat Lewandowski eine noch bessere Bilanz. Alle 66,55 Minuten trifft er gegen sie, 20 Treffer in 16 Einsätzen sprechen für sich. Im Trikot des FC Bayern gab es überhaupt erst zwei Einsätze Lewandowskis ohne eigenen Treffer, nur einer davon daheim.
Angesichts der beeindruckenden Nummern gibt es also nur noch wenige Szenarien, die den Angreifer daran hindern könnten, den Rekord einzutüten. Es wäre nicht nur die Krönung einer großartigen Saison, sondern auch die einer bisher überragenden Karriere beim FC Bayern. Lewandowski sticht in der Geschichte der Bayern-Stürmer trotz großer Konkurrenz nochmal heraus – gemeinsam mit Gerd Müller. Er hätte sich diesen Erfolg daher zweifellos verdient. Und wer weiß? Bei aktuell 275 Bundesliga-Treffern sind es auch bis zur 365 von Müller nicht mehr viele Tore.