Hans i g’flickt: Bayern zerlegt Stuttgart mit 4:0 in Unterzahl
Nachdem Leipzig am Freitag mit drei Punkten im Gepäck die Heimreise aus Bielefeld antreten konnte, mussten die Bayern die Form der vergangenen Wochen heute zwingend bestätigen. Durch den Sieg konnten sie den Vier-Punkte-Abstand auf den Konkurrenten aber halten und fahren somit entspannter zum direkten Duell nach der Länderspielpause.
Falls ihr es verpasst habt:
Die größte Veränderung in der Aufstellung ergab sich im heutigen Spiel gegen den VfB Stuttgart aufgrund des Ausfalls von Kimmich. Flick musste notgedrungen umstellen und beorderte Alaba neben Goretzka auf die 6er-Position. Neuer scheint von seiner Erkältung genesen zu sein und stand wieder im Tor. Im Vergleich zum letzten Pflichtspiel unter der Woche gegen Lazio standen Süle und Davies wieder in der Startelf.
Stuttgart hingegen agierte gewohnt dynamisch aus einer Art 5-2-3 heraus, musste dabei aber auf zwei wichtige Spieler verzichten: Mangala und Förster wurden durch Ahamada und Coulibaly ersetzt.
1. Halbzeit
Der VfB begann mutig und drängte die Bayern weit in die eigene Hälfte. Stuttgart hatte das Spiel im Griff und zeigte vielversprechende Anlagen im Spielaufbau. Vor allem ein Duell hätte sich im weiteren Verlauf als spannend erweisen können: Davies gegen Wamangituka. Der erste Aufreger der Partie machte dieses Duell jedoch zunichte. In der 12. Minute wurde Alphonso Davies, der zunächst gelb gesehen hatte, nach dem Eingreifen des Video-Assistent von Schiedsrichter Daniel Schlager vom Platz gestellt. Eine denkbar ungünstige Situation für die Bayern, 80 Minuten in Unterzahl zu bestreiten.
Hätte man meinen können. Doch die Bayern wären nicht die Bayern, wenn sie sich von einer solchen Banalität wie einem Platzverweis beeindrucken ließen. Flick passte zwar taktisch an – kein so hohes Angriffspressing mehr wie gewohnt und Umstellung auf 4-4-1 – abgesehen davon war die Reaktion der Mannschaft aber ein unerwartetes Offensivfeuerwerk von historischem Ausmaß. Zum ersten Mal in der Bundesliga-Geschichte führte ein Team in Unterzahl bereits zur Halbzeit mit vier Toren.
Aber der Reihe nach. Dem Spielverlauf bis zu diesem Zeitpunkt absolut nicht entsprechend, zeigten die Bayern ihre jeweiligen individuellen Qualitäten erstmals in der 17. Minute, als Lewandowski von Gnabry bedient wurde und zum 1:0 vollendete. Bitter für Stuttgart, die bis dahin alles im Griff hatten. Doch nun nahmen die Bayern erst richtig Fahrt auf. Was in Gleichzahl in der Anfangsviertelstunde überhaupt nicht gelang, erschien in Unterzahl plötzlich spielerisch leicht. Ein weiterer überragend vorgetragener Angriff über Müller und Sané fand sein Ende auf dem Fuß von Serge Gnabry, der unhaltbar für Kobel einnetzte. Der Glaube des VfB schwand, als Kobel innerhalb von 6 Minuten zum dritten Mal hinter sich greifen musste. Nach einer perfekt gesetzten Flanke von Müller zeigte Lewandowski seine nahezu perfekte Kopfballtechnik. 3:0.
Bereits zu diesem Zeitpunkt war es ein gebrauchter Tag für Stuttgart. Zu allem Überfluss fiel dann auch noch Wamangituka verletzt aus.
Die erste Halbzeit war noch nicht vorbei, als Robert Lewandowski eindrücklich veranschaulichte, warum Haaland ihn jüngst als “verrückt” bezeichnete. Zusätzlich zu seinem Torriecher und seiner Kopfballtechnik demonstrierte Lewandowski in der 38. Minute sein Gespür für gefährliche Situationen, ‘explodierte’ nach einer technischen Unsauberkeit eines Stuttgarters förmlich und erzielte mit dem linken Fuß sein drittes Tor der Partie und damit das 35. in der laufenden Bundesliga-Saison (!) – Gerd Müllers Rekord gerät immer mehr in Reichweite. Rechter Fuß, Kopfball, linker Fuß – bei Robert Lewandowski funktioniert im Moment alles, sogar ein ganz besonderer Hattrick in Unterzahl. 4:0 stand es also zur Pause. Erstmal durchatmen.
2. Halbzeit
In der zweiten Halbzeit ließen die Bayern es zunächst ruhiger angehen. Bei Ballbesitz des VfB ließen sie sich völlig untypisch, in diesem Fall aber absolut situationsangemessen, mit allen Spielern in die eigene Hälfte fallen. Aus einer kompakten Grundordnung agierend stellten sie ihre Offensivbemühungen jedoch auch beim Stand von 4:0 nicht ein, sondern versuchten über Umschaltsituationen Nadelstiche und Entlastung zu schaffen.
Die Statistiken waren in der zweiten Halbzeit sehr ausgeglichen. Stuttgart kam zwar zu Chancen, dennoch schienen die Bayern dem 5:0 näher, als der VfB dem 4:1. Dass es letztlich beim 4:0 blieb, mag auch an der Auswechslung von drei “men of the match” gelegen haben. In der 70. Minute bekam Lewandowski seine wohlverdiente Pause, Choupo-Moting spielte für ihn weiter. Martínez und Musiala ersetzten im weiteren Verlauf Müller und Sané, die ebenfalls großen Anteil am schlussendlichen 4:0-Sieg hatten.
Dinge, die auffielen
1. Selbstwirksamkeitserwartung
Einen Hauptgrund für die wahnsinnige Leistung, aus einer 80-minütigen Unterzahlsituation einen 4:0-Sieg herzustellen, würden viele wohl mit dem Begriff Mentalität umschreiben. Der unbedingte Glaube, trotz schwieriger Ausgangsbedingungen erfolgreich sein zu können und der Wille, alles für diesen Erfolg zu tun, war sogar durch den Bildschirm bei einzelnen Spielern in jeder Faser ihrer Präsenz zu spüren und übertrug sich zugleich auf die gesamte Mannschaft. Häufig ist in solchen Situationen von “Mentalitätsmonstern” die Rede. Ich möchte eine andere Bezeichnung in den Ring werfen, die eine Voraussetzung für genau diese Mentalität ist: die Selbstwirksamkeitserwartung.
Per Definition bezeichnet der Begriff die Erwartung, aufgrund eigener Kompetenzen gewünschte Handlungen erfolgreich ausführen zu können. Die Einzelspieler wie auch das Kollektiv der Bayern verfügen über eine ausgesprochen hohe Selbstwirksamkeitserwartung, die sich wiederum aus dem Selbstbewusstsein und dem Selbstvertrauen speisen. Dem Gefühl nach war jeder einzelne Spieler überzeugt davon, sowohl individual- als auch mannschaftstaktisch bestehen und Einzelaktionen sowie das gesamte Spiel erfolgreich bestreiten zu können. Diese Denk- und Verhaltensmuster hatten am heutigen Tag einen großen Anteil am erfolgreichen Ausgang des Spiels.
Wie so oft fiel in diesem Zusammenhang Thomas Müller in seiner Rolle als Antreiber und Motivator positiv auf. Damit hat er einen großen Einfluss auf seine Mitspieler und die gesamte Mannschaft. Die Gier, Bälle zu erobern, niemals aufzugeben und jede noch so aussichtslose Situation mit voller Überzeugung anzugehen, transportiert er mit seiner gesamten verbalen Kommunikation wie mit seiner Ausstrahlung bis zu den Fernsehzuschauer*innen.
2. Die etwas anderen Bayern
Das heutige Spiel fällt – ausgelöst durch die Unterzahlsituation – aus der Reihe der bisherigen Spielweise der Bayern. Flicks Spiel ist geprägt von sehr hohem Angriffspressing, ausgelöst vornehmlich durch den ballnahen Außenverteidiger sowie Positionsspiel auf der Linie im Angriffsdrittel. Diese Spielweise führte zu einer rekordverdächtigen Anzahl an erzielten Treffern. Durch die sehr hochstehende Kette bot sich in der Vergangenheit jedoch auch immer wieder Raum auf der ballfernen Seite sowie eine einfach auszuhebelnde Restverteidigung durch die gegnerischen Mannschaften. Dass die Bayern heute trotz Unterzahl ohne Gegentor blieben, ist kein Zufall.
Flick verordnete seinem Team nach dem Platzverweis von Davies in einer 4-4-1-Grundordnung ein deutlich tieferes Pressingverhalten. Die Spielkontrolle gelang den Bayern heute nicht (wie sonst üblich) über die Phase des eigenen Ballbesitzes, sondern vielmehr durch die Phasen “Ballbesitz Gegner” und vor allem “Umschalten auf Ballbesitz” (angelehnt an das Vier-Phasen-Modell nach Louis van Gaal). Diese heute von Erfolg gekrönte und in der Gesamtheit deutlich defensivere taktische Ausrichtung mag die Frage “Warum nicht immer so?” aufwerfen. Hierbei gilt es zu bedenken, dass aus dieser Ausrichtung sicher nicht immer vier Tore resultieren. Zur Pause hatten die Bayern ein Expected-Goals-Verhältnis von ungefähr 1,9 zu 0,8 – überlegen, aber nicht entscheidend stabiler in der Defensive als in Vergleichsspielen. Heute lief für den Rekordmeister nach anfänglichen Schwierigkeiten vieles positiv zusammen.
Ob sich eine solche Spielweise im Bundesliga-Alltag bewähren würde, ist auch schon deshalb fraglich, weil nur wenige Teams so mutig, stellenweise fast schon naiv, gegen den FC Bayern agieren, wie der VfB Stuttgart am heutigen Tag.
Für heute gilt jedoch: Im Schwäbischen würde man in Bezug auf die Anpassungen nach der roten Karte sagen: “Hans i g’flickt.”