Vorschau: FC Bayern München – Hannover 96
Hannover spielt eine bemerkenswert schlechte Saison. All die Schlachtfelder, die sich der Klub in den letzten Jahren selbst neben dem Fußballplatz geöffnet hat, scheinen jetzt endgültig zu wirken. 4 Siege, 6 Unentschieden, 21 Niederlagen, 66 Gegentore bei nur 26 Treffern – damit sind sie weiterhin im Rennen um eine Top-Ten-Platzierung. Unter den schlechtesten Absteigern der Bundesliga-Geschichte.
18 Punkte und weniger hatten bisher nur der SC Freiburg (2004/2005; 18 Punkte), Hertha BSC (1990/1991; 17 Punkte), der Wuppertaler SV (1974/1975; 14 Punkte) und – na klar – Tasmania Berlin (1965/1966; 10 Punkte). Immerhin hat Hannover noch Zeit, eine solche Schmach und damit auch den vereinsinternen Negativrekord noch abzuwenden: Denn 23 Punkte holten sie jeweils in den Spielzeiten 1985/86 und 1988/89.
Um das zu verhindern, müssten sie aus den letzten 3 Partien in München, gegen Freiburg und in Düsseldorf mindestens 6 Punkte holen. Wie das gehen soll, ist kaum zu erklären. Zumal auch Thomas Doll nicht unbedingt den Eindruck macht, als würde er das wissen.
Hannover 96 im Tiefschlaf
Woche für Woche hangelt sich der Trainer von Situationsbeschreibung zu Situationsbeschreibung, doch er lässt nicht durchblicken, welche Ansätze er für einen positiven Saisonausgang hat. Denn so aussichtslos die Lage auch zu sein scheint, mit 6 Punkten Rückstand auf den VfB Stuttgart (Relegationsplatz) ist zumindest theoretisch noch alles drin.
Der VfB spielt jetzt in Berlin, gegen Wolfsburg und auf Schalke. Es ist nicht völlig abwegig, dass sie den Endspurt mit 0 Punkten beenden. In der aktuellen Situation fällt es aber schwer zu glauben, dass Hannover mindestens die beiden Pflichtsiege gegen Düsseldorf und Freiburg holt. Von der Überraschung in München mal ganz zu schweigen.
Selbst in Hannover scheint der Glaube daran zu fehlen. Zumal der ganze Klub eine Art Baustelle ist. Eine Baustelle, deren Fertigstellung lange nicht in Sicht ist. Seit Monaten, eigentlich schon seit Jahren zerreißen interne Grabenkämpfe den Klub. Gerade Martin Kind hat einen großen Anteil daran, dass das noch lange so bleiben wird.
Doll-Fußball ist nicht doll
Hannover 96 ist durch dieses Chaos lahm geworden. Sie sind träge in ihren Entscheidungen und scheinen überfordert mit der Fülle an kleinen, immer wieder neu aufbrechenden Baustellen, denen sie sich an keiner Stelle zu 100% widmen können. Wenn der Klub ein Haus wäre, so hätte dies einen gewaltigen Dachschaden.
Immer wieder tun sich neue Löcher auf, die das Wasser vom Regen ins Haus lassen. Doch die handelnden Personen haben einerseits nur Eimer, um die Katastrophe zu verzögern und andererseits fehlt ihnen die Zeit, um über langfristige Lösungen nachzudenken. Schließlich bricht gerade in diesem Moment schon wieder das nächste Loch auf.
So kam es auch zu der von Anfang an fragwürdigen Entscheidung, Thomas Doll zu verpflichten. Doll hat bereits vor seiner Zeit in Hannover als Experte oder Trainer schon mehrfach bewiesen, dass er die Entwicklungen des modernen Fußballs nicht mitgehen kann. Taktisch ist er mehr als limitiert und auch seine vermeintlichen Fähigkeiten, die Mannschaft kämpferisch und mental auf den Abstiegskampf vorzubereiten, hat er in Hannover nicht wirklich unter Beweis stellen können. Doll-Fußball ist eben alles, aber nicht doll.
Abstieg mit Ansage
Hinten will Hannover kompakt und aggressiv verteidigen, um dann umzuschalten. Das ist die Strategie. Selbst mit viel Wohlwollen lassen sich aber keine taktischen Automatismen erkennen, die diese Strategie unterstützen. Hannover ist abhängig von eigenen Geistesblitzen und Glück. Der 1:0-Sieg gegen Mainz ist dafür exemplarisch: 8:23 Abschlüsse für die Gäste, 0,88:2,94 Expected Goals (Quelle: understat.com) – Mainz war das klar bessere Team. Das 1:0 setzte in seiner Entstehung dem Ganzen noch die Krone auf.
Doch auch im größeren Kontext lässt sich die Unterlegenheit Hannovers nachweisen: Die Plattform understat listet sie mit 22,1 Expected Points (eine Metrik, die durch die Wertigkeit von Torchancen versucht, sich einer objektiven Aussage darüber zu nähern, wie stark eine Mannschaft über- oder unterperformt). Damit sind sie auch dort deutlich auf dem letzten Platz hinter Stuttgart (28,34 xP) und Freiburg (32,04 xP).
Es bedarf keiner weiteren Argumente, um zu unterstreichen, dass der Abstieg des Chaos-Klubs aus Hannover mit Ansage kommt. Ähnlich wie beim anderen HSV war es nur eine Frage der Zeit, bis das Dach der 96er zusammenbricht. Die Frage wird nun sein, wie schnell sie es wieder aufbauen können.
Pflichtsieg für den FC Bayern
Die Probleme auf der anderen Seite sind dagegen natürlich Meckern auf sehr hohem Niveau: Am vergangenen Wochenende verpasste der FC Bayern die große Chance, auf 4 Punkte in der Tabelle wegzuziehen. Alternativ könnte man auch sagen, dass die Münchner ihren Vorsprung auf 2 Punkte ausbauten und der Ausrutscher in Nürnberg noch für was gut sein könnte.
Das wäre faktisch sogar korrekt, würde aber aufgrund der Positivität fast schon verklären, was da in Nürnberg wirklich passierte. Es war womöglich der letzte Warnschuss für den FC Bayern. Obwohl die Münchner historisch gesehen eine herausragende Rückrunde spielen, kann die Bezeichnung „eine der besten Rückrunden“ nur hinsichtlich der gewonnen Punkte gelten.
Sportlich gab es mit einigen Kantersiegen zwar Höhepunkte, doch letztendlich bleibt es ein Elefantenrennen an der Spitze. Bayern wirkte selbst dann nicht unantastbar, als sie ihre Gegner mit 4, 5 oder 6 Toren nach Hause schickten. Sie sind verwundbar und haben das große Glück (oder Pech; wieder eine Frage der Perspektive), in der Bundesliga dafür nicht allzu sehr bestraft zu werden.
Flankensteins Monster
Genau das macht es auch so schwer, den Höhenflug nach der Krise im Herbst zu bewerten. Einerseits ist das große Lob unausweichlich, dass die Mannschaft nicht zusammenbrach. Kovač und sein Trainerteam haben es geschafft, den Kader wieder hinter den Saisonzielen zu vereinen.
Ohne diese Leistung wäre es unmöglich gewesen, 9 Punkte auf Borussia Dortmund aufzuholen und ins Pokalfinale einzuziehen. Andererseits bleibt die spielerische Tristesse, die der FC Bayern nicht nur deshalb an den Tag legt, weil der Kader zu alt, zu schlecht oder das Wetter zu wechselhaft ist, sondern weil es an einer klaren Idee in Ballbesitz fehlt, die über das Hineinschaufeln des Balls in den Strafraum hinausgeht.
In der gesamten Saison 2013/14 schlugen die Bayern 633 Flanken aus dem Spiel heraus – also ohne Standards (33,8% kamen an), 2014/15 kamen dann 25,31% von 557 Flanken an und ein Jahr später 28% von 570. Danach ging der absolute Wert der Hereingaben stark nach oben: 2016/17 waren es schon 665 Flanken aus dem Spiel (29,77% kamen an), 2017/18 kam dann der vorläufige Höhepunkt mit 893 Hereingaben (26,65%). Aktuell stehen die Münchner schon bei 712 Flanken (26,12% davon fanden einen Abnehmer).
Die Aussagekraft der Statistik
Ganz nüchtern betrachtet, zeigt diese Statistik, dass die Bayern ihre Flanken aus dem Spiel heraus stark erhöht haben. Doch mit welchem Ertrag? Ganz genau lässt sich das statistisch leider nicht überprüfen, weil zu Flanken eben auch flache Hereingaben von außen zählen. Allerdings kann man sich in einem ersten Schritt anschauen, wie viele Abschlüsse die Bayern haben und wie viele davon mit dem Kopf erfolgen, um eine Annäherung zu ermöglichen.
In den drei Guardiola-Jahren lag der Wert konstant bei rund 15% (2013-2016 in dieser Reihenfolge: 101 von 635; 87 von 585; 97 von 627). Seitdem hat er sich um rund 5% erhöht. In der Saison 2016/17 waren es 21% (131 von 622), im Jahr darauf sogar 22,22% (134 von 603). Aktuell liegt er bei 20,31% (117 von 576). Man könnte jetzt argumentieren, dass die Anzahl der Tore in der Liga trotzdem konstant hoch war. Schwankungen lassen sich schließlich auch mit Verletzungen, Chancenverwertung und anderen Faktoren erklären und die Anzahl der Abschlüsse insgesamt war tatsächlich immer auf einem ähnlichen Niveau.
In einem weiteren Schritt lohnt ein Blick auf die Torschussvorlagen. Auch hier werden die Anzahl an direkten Torschussvorlagen per Flanke aus dem Spiel heraus mit der Gesamtanzahl an Torschussvorlagen ins Verhältnis gesetzt. Erneut ist eine klare Tendenz zu erkennen. In den Spielzeiten 2013/14 (21,1% Flanken), 2016/17 (22,43% Flanken), 2017/18 (26,94% Flanken) und 2018/19 (23,61% Flanken) erspielten sich die Bayern teilweise zu fast einem Viertel ihre Möglichkeiten aus Flanken (ohne Standards). 2014/15 (15,5% Flanken) und 2015/16 (17,98% Flanken) war der Wert geringer. Vielleicht wäre er das auch im ersten Guardiola-Jahr gewesen, wenn Mandzukic nicht gewesen wäre – Spekulation.
Weniger gute Abschlüsse mit dem Fuß?
Leider lässt whoscored hier aber nur bedingt eine gegenteilige Analyse zu. Aufgrund der Tatsache, dass meist über 300 Torschussvorlagen nicht kategorisiert werden können, weil nicht klar definierbar ist, wozu sie zählen (außer, dass es keine Standards sind), kann keine genaue Aussage dazu getroffen werden, wie viele Chancen wirklich mit Kurzpassspiel herausgespielt wurden. Diese Bewertung bleibt also teilweise subjektiv. Man kann jedoch die Aussage treffen, dass die Bayern 2013/14 (66,29% – Faktor Mandzukic), 2014/15 (75,45%) und 2015/16 (70,64%) einen höheren Anteil an herausgespielten Chancen ohne Flanken und Standards hatten als 2016/17 (64,17%), 2017/18 (59,67%) und 2018/19 (61,60%).
Eine völlig subjektive und zugegeben etwas überspitzte Interpretation der Statistiken ist, dass die Bayern verlernt haben, sich in den Strafraum zu kombinieren. Eine höhere Anzahl an Kopfballtoren ist zwar die logische Konsequenz aus den oben genannten Statistiken, doch dafür ging eben die eigene Spielkultur zurück.
Ist der Anteil an Kopfbällen bei ungefähr gleichbleibender Anzahl an Abschlüssen höher, bedeutet das im Umkehrschluss, dass die Abschlüsse mit dem Fuß aus guten Positionen automatisch geringer werden. Zumal Kopfbälle schwieriger zu steuern und zu kontrollieren sind als Schüsse mit dem Fuß.
Objektivität gibt es nicht
Eine weitere Interpretation könnte sein, dass die Bayern ja trotzdem viele Tore erzielen und sogar jetzt schon mehr als Guardiolas Mannschaft in zwei von drei Jahren. Es lässt sich an dieser Stelle nicht nachweisen, dass die Liga in irgendeiner Form schlechter verteidigt als vor einigen Jahren oder andere Faktoren diese Werte irgendwie verzerren.
Dementsprechend gibt es auch keine objektive Meinung. Alles führt immer irgendwo darauf hinaus, dass es ein Pro und Contra gibt. Das große Contra der fehlenden Spielkultur in Ballbesitz zeigte sich jedenfalls in den Spielen gegen Ajax, Liverpool, Leverkusen und selbst jetzt gegen Nürnberg. Das Pro der Flanken zeigt sich wiederum in der erhöhten Gefährlichkeit nach Standards (siehe auch das Rückspiel gegen Dortmund) und den bereits jetzt 16 Kopfballtoren in der Liga.
Ein fairer Kompromiss beider Perspektiven könnte sein, dass Kovač einerseits einen Fortschritt erzielen konnte, was die Gefahr nach Flanken betrifft, er andererseits aber eine bessere Balance finden muss. Denn statistisch bleiben Flanken auch bei der besten Strafraumbesetzung ein Mittel, das nicht den größten Erfolg verspricht. Hier muss der Trainer Alternativen finden.
Endspurt und dann?
Es ist aber nicht zu erwarten, dass die Bayern in ihren letzten vier Saisonspielen irgendetwas Grundsätzliches verändern werden. Die taktischen Baustellen werden ebenso bleiben wie die Verwundbarkeit bei Kontern und die vielen Flanken. Umso wichtiger ist jetzt aber der Zusammenhalt. Die Forderung nach der Bündelung aller Kräfte für die letzten Aufgaben der Saison mag etwas mythisch und wenig greifbar wirken. Tatsächlich wird es für den Rekordmeister aber genau das Zünglein an der Waage sein, das über Erfolg und Misserfolg entscheidet.
Es gibt offensichtliche und weniger offensichtliche Gründe dafür, dass die Münchner ihren Fußball in dieser Saison nicht mehr auf ein neues Level heben können. Umso wichtiger ist es, dass die 12-13 Spieler, für die sich Kovač jetzt entschieden hat, vom restlichen Kader Unterstützung erfahren. Gerade die Spiele in Leipzig und gegen Frankfurt werden aus bayerischer Sicht über Willenskraft, Laufbereitschaft und das Quäntchen Glück entschieden.
Das ist der Geist, den Niko Kovač mit seiner Arbeit im ersten Jahr beschworen hat. Er fordert Mentalität, Willen und Kampf – man könnte auch den Begriff der Tugenden stellvertretend dafür nutzen. Das gefällt zurecht nicht jedem und muss spätestens im Sommer kontrovers diskutiert werden. Aber dieser Weg muss nun zumindest noch 4 Spiele gegangen werden, will der FC Bayern alle verbliebenen Titel mitnehmen. Ein Zurück gibt es an dieser Stelle nicht mehr. Erst am Ziel wird entschieden, wie es weitergeht. Und dann sollte das Für und Wider des aktuellen FC-Bayern-Fußballs mit aller Sorgfalt überprüft werden.
Das Thesen-Duell
Die Regeln findet ihr hier.
Ergebnisse der letzten Vorschau: Justin 3,6 – 3,8 Fatbardh
Zwischenstand insgesamt: Justin 117,6 – 108,4 Fatbardh
Justins Tipps
- Torschütze: Robert Lewandowski
- Freie These: Hannover trifft nicht.
- Über/Unter 4,5: Über!
- Aufstellung: Ulreich – Kimmich, Süle, Hummels, Alaba – Thiago, Goretzka – Müller – Gnabry, Lewandowski, Coman
Fatbardhs Tipps
- Torschütze: Robert Lewandowski
- Freie These: Ein Torschütze trifft doppelt.
- Über/Unter 4,5: Unter
- Aufstellung: Ulreich, Kimmich, Süle, Hummels, Alaba, Thiago, Martínez, Müller, Gnabry, Lewandowski, Coman