Vorschau: Hannover 96 – FC Bayern München

Justin Trenner 13.12.2018

Wenn man sich die Situation des FC Bayern vergegenwärtigen möchte, so reicht ein Blick auf die Aussagen der Verantwortlichen nach dem Spiel gegen Ajax. Während Salihamidžić sich erneut sichtlich dabei abmühte, die passenden Worte zu finden, war Niko Kovač fast schon euphorisch. Ein „großes Kompliment“ machte der Trainer seinen Spielern. „Wir haben heute ein sensationell gutes Spiel gesehen. (…) Das war Werbung für den Fußball“, fuhr der gebürtige Berliner fort.

Salihamidžić hingegen sah keinen Grund für Freude. „Wir haben heute kein gutes Spiel gemacht. Wir sind Erster in der Gruppe. Das ist aber das einzig Positive an dem Spiel“, so der Sportdirektor. Es ist ein Widerspruch, der bezeichnend ist. Die beiden Personen, die den Übergang in eine neue Zeitrechnung aktiv mitgestalten sollen, scheinen mit ihren Rollen überfordert zu sein.

Immerhin strahlt Kovač eine Grundsouveränität aus, die Salihamidžić gänzlich fehlt. Doch es ist auch nicht die Art und Weise, wie der Trainer etwas sagt. Es ist viel mehr das, was er sagt. Hört man ihm dieser Tage genau zu, so gibt es Anlass zur Sorge.

Bayern als sehr bemühter Außenseiter

Denn so verständlich es auch ist, dass der Trainer sich vor die Mannschaft stellt und das Weiterkommen als Gruppensieger verteidigt, so absurd ist es auch, mit welcher Deutlichkeit er seine Zufriedenheit zur Schau stellt. Ist das wirklich der Anspruch des FC Bayern?

Gegen Ajax ließ Kovač seine Mannschaft bewusst tiefer auflaufen. Die Niederländer sollten den Ball haben, Bayern wollte kontern. Das ging zunächst ganz gut auf. Fast nie verfielen die Münchner in Passivität. Sie liefen zwar tief, aber sehr aggressiv an und schoben in den richtigen Augenblicken auch mal heraus. Insofern war die Anfangsphase durchaus etwas beeindruckend.

Doch Ajax stellte sich zunehmend darauf ein, passte Kleinigkeiten an und wurde im eigenen Spiel sicherer. Spätestens in der zweiten Halbzeit übernahmen sie das Ruder komplett und gingen verdient in Führung. Bayern schaffte es nicht, die Aktivität und Aggressivität im Pressing aufrechtzuerhalten. Im Gegenteil. Sie ließen sich mit zunehmender Spieldauer hinten reindrücken und verloren somit auch die Kontrolle an den Gegner. Kovačs Bayern wirkte wie ein sehr bemühter Außenseiter, der auf das nötige Glück angewiesen war.

Der Fortschritt bleibt aus

Dabei war die Mannschaft durchaus gewillt, dieses Spiel zu gewinnen. Nur war auch während der Ergebniskrise zu erkennen, dass die Spieler wollen. Die Einstellung passt. Was fehlt, ist eine Struktur, die dem Team nicht nur Halt, sondern auch eine Ordnung gibt. Kovač präsentierte im Laufe der Saison viele gute Ansätze. Das direkte Spiel ins letzte Drittel und anschließendes Gegenpressing vom Anfang der Spielzeit, aber auch die tiefere und lauernde Staffelung vom Mittwochabend – er variierte durchaus in einigen Details und probierte einiges aus.

Und doch fehlt die richtige Balance. In längeren Phasen ohne Ball verfallen seine Bayern in Passivität, in längeren Phasen mit Ball fehlt oftmals die entscheidende Idee, um sich in den Strafraum zu kombinieren. Lediglich in den Umschaltmomenten nach Ballgewinnen sind die Bayern im Moment stark. Nur versuchen sie, diese Situationen bewusst zu provozieren, verlieren sie oft die Kontrolle über das Spiel. Auch gegen Ajax konnte man wieder beobachten, dass Phasen, in denen der Fokus auf direktes Spiel bei Ballgewinnen lag, auch schnell zu Chaos führen. Das liegt den Spielern im Kader nicht.

Kovač ist bemüht, findet aber nicht die richtige Balance.
(Foto: Dean Mouhtaropoulos/Getty Images)

Spielerisch fehlt es den Kovač-Bayern vor allem an Genauigkeit. Pässe kommen zu ungenau oder es fehlt an Schärfe. Das 4-2-3-1 gibt den Münchnern zwar eine bessere Grundstruktur, aber gleichzeitig fehlt es dem ballführenden Spieler in zu vielen Momenten an Anspieloptionen. So berechtigt die Kritik an einigen Einzelspielern auch ist, so sehr muss man festhalten, dass es gruppentaktisch keinen Fortschritt zu erkennen gibt.

Individuelle Fehler

Im Fußball werden gern die individuellen Fehler beschworen, wenn es darum geht, einen Punktverlust zu rechtfertigen. Gerade Jérôme Boateng und Franck Ribéry sind derzeit dafür anfällig und werden vielerorts zu Recht kritisiert. Und doch muss man mit Einzelkritik vorsichtig sein. Durch die Instabilität der gesamten Mannschaft wird es sogar Gegnern wie Fortuna Düsseldorf erlaubt, deutlich mehr Angriffe bis zum Schluss auszuspielen.

Das führt wiederum dazu, dass die Belastung vor allem für die Innenverteidiger ungleich höher ist als in den letzten Jahren. Je mehr Angriffe bis zur Viererkette durchkommen, umso höher ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass Fehler gemacht werden. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass Boateng, der im Prinzip gar keine so schlechte Saison spielt, vor allem unter der gruppentaktischen Schwäche seiner Mannschaft leidet.

Ein paar Zahlen unterstützen diese These. Kein Innenverteidiger des FC Bayern hat in der Liga so viele erfolgreiche Tacklings pro 90 Minuten wie Boateng (1,6). Mit 1,5 Interceptions liegt er mit Süle auf Augenhöhe (Hummels kommt auf 2,3). Auch bei den Fouls sind Süle und Boateng gleichauf (0,5 – Hummels mit 0,3). 2,4 Klärungen sind nach Süle (3,3) der Bestwert des gesamten Kaders. In der Bundesliga hat Boateng eine Zweikampfquote von 70% (Süle 71%, Hummels 62%). Und trotz dieser beachtlichen Zahlen sind es teils katastrophale Fehler des ehemaligen Weltmeisters, die zu Gegentoren führen.

Quarterback beim FC Bayern? Undankbar!

In der Champions League hat er mit nur 54% gewonnenen Zweikämpfen einen deutlich schlechteren Wert. 0,7 Mal lässt er sich pro 90 Minuten in der Liga ausdribbeln. Das sind immer noch keine Horrorzahlen und doch fehlt Boateng einiges zur Normalform. Allerdings zeigen diese Zahlen eben auch, dass er es nicht gänzlich verlernt haben kann. So ist das bei vielen Spielern des Kaders.

Prinzipiell ist es einfach, die fehlenden Prozente an Einzelspielern festzumachen. Letztendlich ist der Trainer aber dafür verantwortlich, zu analysieren, woran diese Fehler liegen. Schaut man sich einige Fehler der letzten Spiele nochmal an, so muss man zu dem Schluss kommen, dass den Bayern gegen den Ball zu oft die Disziplin fehlt. Unkontrolliertes Herausrücken, das aus der Gier nach Ballbesitz resultiert und zu große Abstände der Mannschaftsteile sind hier zu nennen. Hinten reinstellen ist eben doch nicht so einfach. Vor allem dann, wenn die eigene Mannschaft der eigentliche Favorit ist.

Mit Ball sind die Passwege in vielen Szenen immer noch zu weit. Auch hier lässt sich die vermeintliche Rückentwicklung von Spielern wie Boateng oder Hummels differenzierter erklären. Ein Pass besteht in der Regel aus zwei wesentlichen Komponenten: Passgeber und Passempfänger. Boateng bezeichnete sich selbst unter Guardiola einst als Quarterback. Wenn die Mitspieler ihn aber nicht schützen, indem sie das Pressing des Gegners stören und es zu lange dauert, bis sich eine Passgelegenheit ergibt, so bleiben auch die genialen Pässe zunehmend aus. Quarterback beim FC Bayern zu sein, ist deshalb die undankbarste aller Rollen.

In die Winterpause retten

Das bedeutet, dass das Spiel der Bayern auch an der Bewegung in letzter Linie krankt. Durch Müller wurde das ein wenig besser. Und doch sind Gegenspieler viel schneller an den Bayern dran als noch in den letzten Jahren. Kommen dann noch vereinzelte Mannorientierungen hinzu, ist das Chaos perfekt.

Im Moment ist die Mannschaft des FC Bayern einfach zu abhängig von Einzelaktionen und Standards. Ohne Comans (Welt-)Klasse und Thiagos Mut im Mittelfeld wäre das Spiel gegen Ajax vermutlich anders ausgegangen. Ajax schwächte sich zudem selbst in einer Phase, in der sie drauf und dran waren, das Spiel komplett zu kippen. Zu allem Überfluss half auch Kovač dabei, indem er seinen schnellsten und effektivsten Offensivspieler hinter Lewandowski herausnahm und dafür Müller auf den Flügel schob.

Es ist eben die Souveränität, die nicht nur Salihamidžić in Interviews, sondern auch Kovač bei seinen Entscheidungen und den Bayern in ihrem Spiel abgeht. Gäbe es eine Grundstruktur, die den Bayern Halt, Sicherheit und mehr Optionen in Ballbesitz sowie mehr Stabilität ohne Ball gibt, so wäre die Lage deutlich weniger angespannt. Man kann Kovač nicht vorwerfen, dass er sie nicht sucht. Einzig scheint er nicht dazu in der Lage zu sein. So entsteht das Gefühl, dass sich der FC Bayern nur noch in die Winterpause retten kann und will. Mit Thiago, Coman, Gnabry und Lewandowski gibt es zumindest einige Spieler, die in der Offensive allein für den Unterschied sorgen können und so Hoffnung machen. Wie gefährlich wären die erst, wenn sie noch strukturierter und gemeinschaftlicher auftreten würden?

Auf der nächsten Seite geht es um das Spiel am Wochenende.

Nun sollte man meinen, dass mit Hannover 96 ein sehr dankbarer Gegner am Wochenende auf den FC Bayern wartet. Auch die Statistiken sprechen da eine klare Sprache. Und doch besteht eine realistische Möglichkeit, dass die Münchner in Hannover patzen könnten. Warum?

Hannover 96 hat die viertwenigsten Abschlüsse pro Spiel (11,8), die sechstwenigsten Tore (16), die drittmeisten Schüsse gegen sich pro Spiel (15,9) und die viertmeisten Gegentore (29). Was spricht also für die Niedersachsen? Im Prinzip nichts. Als Vorletzter mit bisher 10 Punkten können sie kaum klarer in der Außenseiterrolle stehen.

Mannorientiert zur Überraschung?

Gerade Augsburg (14.), Freiburg (12.) und Düsseldorf (18.) dienen den Hannoveranern aber als Vorbild und Mutmacher. Sie alle nahmen aus München einen Punkt mit. Warum sollte das also nicht auch in einem Heimspiel gelingen?

Dafür braucht es aber mehr Mut von Trainer André Breitenreiter. In seinen bisherigen sechs Duellen mit dem FC Bayern konnte er keinen einzigen Punkt holen. Meist agierten seine Mannschaften sehr tief und passiv. Die Hoffnungen auf den einen Lucky Punch waren jeweils umsonst. Vielleicht wird er auch aus dieser Erfahrung heraus etwas mutiger sein.

Die Bayern sind in dieser Saison anfällig, wenn man in einigen Phasen mal herausschiebt und aggressiver ins Pressing geht. Natürlich muss die Mannschaft dann auch darauf achten, dass die Kompaktheit bestehen bleibt. Andernfalls ist die individuelle Klasse der Bayern so hoch, dass sie diese Lücken ausnutzen. Ajax sicherte am Mittwochabend oft nicht gut ab und plötzlich rollten fünf Bayern-Spieler auf drei verbleibende Verteidiger zu. Das wird Breitenreiter verhindern wollen. Und doch steht nach den letzten Wochen die Idee im Raum, mannorientierter zu pressen.

36 Punkte oder nix!

Hannover hat am Wochenende nur wenig zu verlieren. Die Stimmung zwischen Fans und Vorstand ist so angespannt, dass es kaum noch um das sportliche Geschehen geht. Ein Erfolg gegen den FC Bayern könnte somit zumindest für die Mannschaft eine gelungene Abwechslung sein.

Stellt sich Hannover allerdings wieder in einem recht passiven Mittelfeldpressing auf, droht ihnen ein ähnliches Schicksal wie Werder Bremen. Auch Breitenreiter ist also gewissermaßen auf der Suche nach Balance. Für Hannover wird es darauf ankommen, gleichzeitig kompakt und stabil im Zentrum zu stehen und mutig für Entlastung nach vorn zu sorgen.

Denn wie gefährlich der FC Bayern ist, wenn die Quarterbacks nicht gestört werden, zeigte sich in den drei Spielen vor der Partie gegen Ajax. Bayern sollte sich dementsprechend auf zwei Szenarien vorbereiten. Einerseits ein Hannover 96, das tief steht und darauf bedacht ist, den Bayern keine Räume im Angriffsdrittel zu überlassen. Andererseits Hannoveraner, die auch mal herausschieben und den Initialpass im Spielaufbau des FCB verhindern wollen. Letzteres wird vermutlich nicht allzu häufig passieren, aber sind die Münchner darauf nicht vorbereitet, könnte es ein unangenehmer Nachmittag werden.

So oder so dürfen die Bayern dieses Spiel nicht auf die leichte Schulter nehmen. Hannover wird viel Laufarbeit auf den Rasen bringen und darum bemüht sein, die Abstiegsplätze zu verlassen. Lassen die Münchner nur wenige Prozentpunkte nach, weil sie bereits an Leipzig oder Frankfurt denken, wäre das fatal. Es ist das drittletzte Spiel vor Weihnachten für den FC Bayern. „Was zählt, ist unterm Baum“, wirbt der Rekordmeister. Und liegen dort am heiligen Abend keine 36 Bundesliga-Punkte, droht vermutlich auch dem Weihnachtsmann eine Unterlassungserklärung.

Das Thesen-Duell

Die Regeln findet ihr hier. Die Zahl für These 3 wurde diesmal von Fatbardh gewählt. Kurzfristige Änderungen sind bis zum Spieltag noch möglich.

Ergebnis des letzten Spieltags: Justin 2,8 : 2,6 Fatbardh

Zwischenstand insgesamt: Justin 58,2 : 53,8 Fatbardh

Justins Tipps

  1. Torschütze: Robert Lewandowski
  2. Freie These: Bayern erzielt bei Expected Goals (understat.com) einen Unterschied von mindestens 2 zu Hannover.
  3. Über/Unter 3,5: Unter!
  4. Aufstellung: Neuer – Kimmich, Süle, Boateng, Alaba – Thiago, Goretzka – Müller – Gnabry, Lewandowski, Coman

Fatbardhs Tipps

  1. Torschütze: Kingsley Coman
  2. Freie These: Bayern spielt zu Null!
  3. Über/Unter 3,5: Unter
  4. Aufstellung: Neuer, Rafinha, Süle, Boateng, Alaba, Kimmich, Thiago, Gnabry, Müller, Coman, Lewandowski