Christian Ziege: „Hinten reinstellen hat nichts mit Fußball zu tun“
Im Mai dieses Jahres haben wir Christian Ziege im Rahmen der Fahrt der Volkswagen-Flotte zum DFB-Pokalfinale kennenlernen dürfen. Auf eine Interview-Anfrage für Miasanrot reagierte der ehemalige Bayern-Spieler aufgeschlossen. Nach längerem Mail-Kontakt klappte es schlussendlich im November mit dem Interview.
Karriere von Christian Ziege
Im Sommer 1990 wechselte der damals 18-jährige Christian Ziege aus Berlin nach München an die Isar. Beim FC Bayern reifte er schnell zum Stammspieler als Linksverteidiger heran und bestritt bis 1997 insgesamt 185 Liga-Spiele für die Rot-Weißen. In dieser Zeit wurde er auch Nationalspieler und feierte 1996 mit dem Europameisterschaftstitel im Mutterland des Fußballs seinen persönlich größten Erfolg.
Als der große AC Mailand 1997 anklopfte, packte Ziege die Möglichkeit beim Schopf und wechselte nach Italien. Nur zwei Jahre und 39 Spiele später zog es ihn 1999 auf die Insel, wo er 29 mal für Middlesborough, 16 mal für Liverpool und 47 mal für Tottenham auflief. Nach nur einer Saison beendete er seine Spielerkarriere dann in Deutschland bei Borussia Mönchengladbach im Sommer 2005.
Nach seiner Karriere begleitete Ziege bis 2008 diverse Ämter bei seinem letzten Verein, so war er unter anderem Sportdirektor und Co-Trainer für die Fohlen. Anschließend trainierte der gebürtige Berliner die deutsche U18- und U19-Nationalmannschaft zwischen 2011 uund 2014 sowie Unterhaching in der darauffolgenden Saison. Seine ersten Trainer-Erfahrungen im Ausland sammelte der 72-fache Nationalspieler zwischen 2015 und 2017 bei Atlético Baleares und 2018 in Thailand.
„Überprüfung muss ständig passieren“
Miasanrot: Hallo Christian, fangen wir vorne an: Als 18-Jähriger hast du den Schritt aus der Jugend von Hertha Zehlendorf zum großen FC Bayern gewagt. Wie hat man sich diesen Schritt vorzustellen?
Christian Ziege: Es war natürlich eine gewisse Umstellung. Von einem in Berlin relativ bekannten Spieler mit viel Aufmerksamkeit zu einem absoluten unbekannten jungen Nachwuchsspieler, der sich erst beweisen muss. Man wird getestet in allen möglichen Situationen und das für einen langen Zeitraum. Du hast dich überall unterzuordnen und natürlich erwarten sie Respekt, also alles ganz normal.
Miasanrot: Würdest Du heute jungen Spielern dennoch zu diesem Schritt raten?
Christian Ziege: Auf jeden Fall. Der Schritt zum FC Bayern München ist sicherlich ein sehr großer Schritt, aber wenn man es dort nicht schafft sich durchzusetzen, hat man sicherlich noch die Möglichkeit auf eine weitere Chance bei einem anderen Bundesligisten oder einer guten Adresse in Europa. Umgekehrt geht das nicht: Wenn sich ein Jugendspieler bei einem anderen Bundesligisten nicht durchsetzen kann, kommt er auch nicht zum FC Bayern.
Miasanrot: Berti Vogts bezeichnete dich und deine Generation einmal im Interview als “Wohlstandsjünglinge”. Was könnte er damit gemeint haben?
Christian Ziege: Das fragt ihr besser Berti Vogts … Aber grundsätzlich verändern sich die Generationen immer wieder, so wie das Leben sich verändert. Die Älteren haben vielleicht oft Probleme die neue Generation zu verstehen, aber das gab es schon immer.
Miasanrot: Welchen Lebensstil pflegten du und die anderen jungen Spieler damals?
Christian Ziege: Unser Leben war geprägt von Training. Ansonsten haben wir uns natürlich viel mit den anderen jungen Spielern die Zeit vertrieben, meistens in größeren Gruppen. Wir hatten viel Spaß.
Miasanrot: Seit 2017 beheimatet der FC Bayern Campus die komplette Jugendabteilung. In letzter Zeit ist zudem eine Änderung der Philosophie bei den Münchnern zu erkennen: Viele Talente werden mit Profiverträgen gebunden und junge Spieler aus ganz Deutschland zugekauft. Wie bewertest du aktuell die Jugendarbeit beim FC Bayern?
Christian Ziege: Ich glaube der FC Bayern macht eine gute Jugendarbeit, nur wenige schaffen allerdings den Sprung in die Profimannschaft, dafür benötigt man eben eine besondere Qualität. Dafür schaffen es sicherlich genügend aus der Bayern-Jugend in die Bundesliga.
Miasanrot: Was lief beim DFB nach der EM 2000 in der Jugendarbeit richtig und was kann der FC Bayern davon lernen?
Christian Ziege: Ich glaube grundsätzlich war es richtig alles zu überprüfen und zu verändern, wenn nötig. Ich bin der Meinung das muss aber ständig passieren und nicht nur alle fünf bis zehn Jahre und das gilt für alle Bereiche.
„Früher war alles kleiner und überschaubarer“
Miasanrot: Beim FC Bayern erlebtest du in den turbulenten 90er-Jahren den berüchtigten FC Hollywood. Worin unterschied sich der Verein damals von dem Verein, wie er heute aufgestellt ist?
Christian Ziege: Das ist eine ganz andere Maschinerie geworden, für jedes Detail gibt es einen Mitarbeiter und Aufpasser. Bei uns war alles wesentlich kleiner und überschaubarer. Ich denke alle Bereiche wurden seitdem professionalisiert, ob das alles allerdings immer auch zur Verbesserung beiträgt, weiß ich nicht.
Miasanrot: Der FC Bayern war schon immer ein Verein, der von starken Persönlichkeiten in der Kabine und auch in der Vorstandsriege bekannt ist. Wie war dein Verhältnis als Spieler zu den Vereinsgranden wie Hoeneß oder Beckenbauer?
Christian Ziege: Ich hatte immer ein gutes Verhältnis zu Franz Beckenbauer und Uli Hoeneß. Mit letzterem waren alle Gespräche offen, ehrlich und vertrauensvoll. Man konnte als Spieler mit jedem Thema zu jeder Zeit zu ihm kommen.
Miasanrot: Wie siehst du im Vergleich zu Manager Hoeneß in den 90ern aktuell die Rolle eines Hasan Salihamidžić?
Christian Ziege: Ich glaube das ist eine sehr schwere Rolle mit den Schwergewichten im Hintergrund, die in der Vergangenheit den Club zu dem gemacht haben, was er heute ist. Er wird seine Position finden müssen und das ist sicher nicht so einfach.
Miasanrot: Momentan taumelt der FC Bayern durch die Liga. Die erste große Krise unter Neu-Trainer Kovač ist da. War der FC Bayern für Kovač eine Nummer zu groß?
Christian Ziege: Der FC Bayern ist im Verhältnis immer eine Nummer größer, ob zu groß wird sich zeigen. Genauso wird sich zeigen, ob das Defizit eher beim Trainer oder in der Kaderplanung zu sehen ist. Im Moment läuft es nicht wie gewünscht, aber ich glaube für abschließende Urteile ist es zu früh. Man muss auch bedenken, dass lange Zeit einige wichtige Spieler, allen voran die beiden Franzosen Coman und Tolisso, verletzt waren.
„Ich hätte gerne unter Guardiola gespielt“
Miasanrot: Kommen wir ein bisschen zum Thema Taktik: Als Spieler erlebtest du die Umstellung von Libero auf Viererkette direkt mit. Was änderte sich damals für dich und die gesamte Mannschaft?
Christian Ziege: Das war sicherlich nicht ganz einfach, aber ich hatte das Glück in Italien hervorragende Trainer zu haben, die fast täglich im taktischen Bereich gearbeitet haben, um das Ganze zu festigen.
Miasanrot: Wie unterschiedlich wurde deine Position als Linksverteidiger in Italien im Vergleich zu Deutschland interpretiert?
Christian Ziege: In Deutschland hatten wir mit dem Libero eine zusätzliche Absicherung, also Dreierkette plus zwei Außenbahnspieler. In Italien hingegen eine reine Viererkette. Dementsprechend hatte ich in Deutschland wesentlich mehr Freiheiten für die Offensive.
Miasanrot: Fiel dir diese Umstellung schwer?
Christian Ziege: Die Umstellung an sich fiel mir nicht schwer, nur in Italien ist der Linksverteidiger in erster Linie für die Defensive zuständig, jedenfalls zu meiner Zeit. Dadurch wurde mein Offensivdrang etwas eingeschränkt, aber das war rückblickend auch in Ordnung. Mir persönlich hat es in der Dreierkette besser gefallen. Das war für mein persönliches, wesentlich offensiveres Spiel geeigneter.
Miasanrot: Welche taktische Entwicklung hättest du gerne noch miterlebt?
Christian Ziege: Ich hätte gerne unter Pep Guardiola gespielt, das wäre sicherlich eine großer Entwicklungsschritt gewesen.
Miasanrot: Was bewunderst du an Guardiola?
Christian Ziege: Guardiolas Mannschaften spielen fast immer einen offensiven, sensationellen und erfolgreichen Fußball. Diese Spiele zu verfolgen ist ein Gedicht. Seine Art Fußball hätte mir als Spieler sehr gefallen. Für mich ist nur das der echte Fußball. Alles andere, hinten reinstellen, 90 Minuten dem Ball hinterherlaufen und hoffen kein Tor zu bekommen, hat aus meiner Sicht nichts mit dem Begriff Fußball zu tun. Wir sind ja alle nicht als junge Kerle auf die Straße spielen gegangen oder in Vereinen, um ohne Ball zu spielen, sondern mit dem Ball war und ist die Faszination und der Spaß.
Miasanrot: Die Bundesliga steht seit der Amtszeit von Jürgen Klopp in Dortmund für tiefstehende Mannschaften, die ein starkes Gegenpressing betreiben und schnell Kontern können. Findest du in der Bundesliga wird momentan attraktiver Fußball gespielt?
Christian Ziege: Ja, finde ich schon. Es gibt einige Mannschaften, die tollen Fußball bieten. Ich denke hier an Dortmund unter Favre, Hoffenheim mit Nagelsmann oder die Eintracht unter Hütter. Ich persönlich mag Freiburg, wo Streich mit den dortigen Möglichkeiten Großes leistet. Auf taktischem Niveau muss sich die Bundesliga im internationalen Vergleich jedenfalls nicht verstecken.
Miasanrot: Warum würdest du gerne in der heutigen Zeit spielen?
Christian Ziege: Ich weiß ehrlich gesagt überhaupt nicht, ob ich das wollen würde. Ich war und bin zufrieden und dankbar, in der Bundesliga, Serie A und Premier League gespielt zu haben und natürlich 72-mal für Deutschland.
„In Italien wurde am härtesten und längsten trainiert“
Miasanrot: Dann kommen wir doch einmal auf deine Karriere: Mailand, Liverpool und Tottenham. Deine internationale Karriere liest sich wie ein Stelldichein der europäischen Top-Vereine. Was war der Grund damals für den Wechsel aus München nach Mailand?
Christian Ziege: Ganz einfach, ich wollte drei Dinge in meinem Fußballleben erreichen. Bei Bayern München spielen, für die Nationalmannschaft auflaufen und in die Serie A wechseln und dieses Ziel hatte ich bereits in dieser Form im Alter von 14 oder 15 Jahren.
Miasanrot: Wie blickt man auf so eine internationale Karriere heute zurück?
Christian Ziege: Es war ein großes Erlebnis mit neuen Erfahrungen. Sowohl auf dem Platz, aber auch außerhalb. Mit großen Stars Seite an Seite spielen zu dürfen, in einem anderen Land mit einer anderen Mentalität in fantastischen Stadien mit super tollen Fans.
Miasanrot: Kannst du für uns bitte das Level der Professionalität zwischen England, Italien und Deutschland in den später 90ern und frühen 00ern vergleichen?
Christian Ziege: Die Herangehensweisen waren unterschiedlich. In Italien wurde am härtesten und längsten trainiert, vor allen Dingen im taktischen und im Kraft-Bereich. In England kam es ein bisschen darauf an, ob man einen englischen Trainer hatte, oder einen Ausländer. Die englischen Trainer waren zumindest in meiner Zeit mit weniger Trainingseinheiten zufrieden. Aber was die Professionalität angeht, gab es wenig Unterschiede. Gearbeitet wurde überall sehr professionell.
Miasanrot: Lag dir der Spielstil in England rückblickend am besten?
Christian Ziege: Es war offen und ehrlich, aber eben auch härter und schneller. Ob er mir am besten lag, vermag ich nicht zu sagen. Es hat mir auf jeden Fall sehr viel Spaß gemacht.
Miasanrot: Mit Liverpool standst du im Europapokalfinale 2001, wurdest aber nicht eingesetzt. Wie nimmt man einen solchen Moment als Spieler wahr?
Christian Ziege: Natürlich überwiegen da Frust und pure Enttäuschung. Das tat richtig weh. Aber damit muss man umgehen. Es scheint ja auch nicht immer nur die Sonne, es gibt auch Tage mit Regen.
Miasanrot: Wie kann man sich nach einem solchen Erlebnis wiederaufbauen?
Christian Ziege: Das Wichtigste ist, sich nicht zu lange damit zu beschäftigen. Wir werden im Leben – und zwar wir alle – vor ganz andere Herausforderungen gestellt, manchmal scheinen diese sehr groß und nicht zu schaffen. Je nach Rückschlag braucht man einen Moment, aber dann muss man alles versuchen um wieder aufzustehen und Lösungen und Veränderungen zu schaffen. Das ist nicht immer einfach, aber mit viel Überzeugung und Willen sehr oft zu erreichen.
„Mit der Nationalelf wurde für mich ein Traum wahr“
Miasanrot: Wie du schon gesagt hast, bist du 72-mal für Deutschland aufgelaufen. Du warst bei fünf großen Turnieren dabei und wurdest Europameister. Wie fühlt es sich an, wenn man das erste Mal mit dem Adler auf der Brust aufläuft?
Christian Ziege: Das ist eine ganz besondere Aufregung und dann aber auch eine pure Freude. Für mich wurde da ein großer Traum wahr.
Miasanrot: Wie fühlt es sich an, den Europameistertitel im Mutterland des Fußballs zu gewinnen?
Christian Ziege: Nicht nur die Tatsache, man darf für Deutschland spielen, sondern auch noch in einem EM-Finale zu stehen und zu gewinnen ist unglaublich und man realisiert es erst ein paar Tage oder Wochen später, was man da erreicht hat. Auch in einem WM-Finale zu stehen haben nicht viele erleben dürfen. Dafür bin ich unheimlich dankbar.
Miasanrot: Kann man einen Titel mit der Nationalelf mit einem Vereinstitel vergleichen?
Christian Ziege: Einen Titel zu gewinnen ist immer etwas Besonderes, allerdings einen Titel für dein Land zu gewinnen ist schon etwas Einzigartiges.
Miasanrot: Die Nationalmannschaft steckt nach der Weltmeisterschaft ähnlich wie der FC Bayern in einer mittelschweren Krise. Wo muss Jogi Löw ansetzen, um die Mannschaft wieder in die Erfolgsspur zu führen?
Christian Ziege: Ich denke es ist eine komplett neue Situation für ihn, nach all den erfolgreichen Jahren, aber er wird das hinbekommen. Auch die Özil-Sache sollte kein Thema mehr sein, weil sich das Gesicht der Nationalmannschaft immer verändert hat, besonders nach Turnieren.
Miasanrot: Vielen Dank, Christian!
Christian Ziege: Gerne.