WM-Blog: Taktik, Träume, Toni Kroos

Justin Trenner 24.06.2018

Es war früh in der Begegnung gegen Schweden. Deutschland stand bereits mit dem Rücken zur Wand – wie Italien 2010, wie Spanien 2014.

Mit dem Wissen um die Vergangenheit hätte es nicht verwundert, wenn die Deutschen von Beginn an gezittert hätten. Doch das taten sie nicht. Nach wenigen Sekunden gab es schon die erste gute Chance für den Weltmeister.

Rund 20 Minuten sah das sogar richtig gut aus, was die Mannschaft von Löw auf den Platz brachte. Zwar leistete sich Rüdiger früh einen katastrophalen Bock, doch Boateng und Neuer retteten ihr Team – wenn auch leicht glücklich, da ein Elfmeter berechtigt gewesen wäre.

Vorher hatten die Deutschen aber große Möglichkeiten ausgelassen. Beispielsweise nachdem Kimmich den Ball herausragend auf Reus in den Strafraum spielte.

Nach den benannten 20 Minuten kam es aber plötzlich zum Bruch. Rudy musste verletzt runter und auch am Ende der starken Anfangsphase merkte man dem Weltmeister an, dass da was im Kopf vor sich ging.

Sie wussten um ihre Verwundbarkeit. Spätestens nach dem Führungstor, das Toni Kroos unglücklich einleitete, waren die Szenarien eines frühen Ausscheidens realistisch wie lange nicht mehr.

Das Team rettete sich in die Pause, stand dort aber vor einer großen Herausforderung. Erstmals in der Geschichte bestand die Möglichkeit, dass eine deutsche Mannschaft in der Vorrunde ausscheidet. Der Druck war enorm.

Vermeintliche Führungsspieler wie Müller und Kroos fanden gegen Ende der ersten Halbzeit nicht mehr ins Spiel, machten sogar fatale Fehler.

Was im zweiten Durchgang passierte, macht allerdings Hoffnung für die nächsten Wochen.

3 Dinge, die auffielen:

1. Führungsspieler? Leader!

Es mag nach diesem Start ins Turnier überzogen klingen, doch diese Mannschaft steckt voll mit Leadern.

Wie Kimmich mit nur 23 Jahren von Beginn an seine Mannschaft nach vorne trieb. Wie Kroos nach seinen zwei fatalen Fehlpässen nicht müde wurde, den Spielaufbau fast alleine zu regeln und in für ihn eher untypische Dribblings zu gehen. Wie er den Ball mit Abpfiff in den Winkel streichelte.

WAS. FÜR. EIN. TOR.
(Foto: Michael Steele / Getty Images)

Wie Müller trotz weitgehend schwacher Leistung ständig im Vollsprint nach hinten ging. Wie Neuer sein Team ständig anfeuerte und in den richtigen Momenten da war. Wie Gomez als Reservist reinkam und Verantwortung übernahm. Wie Özil und Khedira nach und während des Spiels zeigten, dass sie die harte Entscheidung gegen sie hinnahmen.

Wie Boateng jeden Angriff vertikal einleitete und immer mehr zum Sechser und Achter wurde. Wie Reus marschierte und Werner jeden Ball forderte.

Gegen jeden dieser Spieler lässt sich irgendetwas sagen. Sei es Leistungstechnisch oder taktischer Natur. Aber eins kann niemand sagen: dass diese Jungs keine Verantwortung übernehmen.

Der Druck war enorm am gestrigen Abend. Vielleicht so hoch wie noch nie in der Ära Löw. Es gehörte auch viel Glück dazu, dass die Mannschaft diese Probe besteht.

Aber sie hat sie bestanden und sie hat sich dabei nie aufgegeben. Auch nicht nach Boatengs Platzverweis. Diesmal fiel niemand auseinander.

Und wer beim Jubeln genau hinsah, der sah, dass die Führungsspieler-Debatte nicht zielführend ist. An Typen mangelt es dieser Mannschaft nicht. Es mangelt an anderen Stellen.

2. Unpassende Rollen im 4-2-3-1

Löw veränderte seine Elf auf vier Positionen, um Impulse zu geben. Rüdiger, Rudy, Reus und Hector waren für den verletzten Hummels, Khedira, Özil und Plattenhardt reingekommen.

Durchaus eine Entscheidung, die größtenteils nachvollziehbar war. Speziell die Entscheidung für Rudy löste vor dem Spiel Verzweiflung bei einigen Fans aus, sollte sich in der Anfangsphase aber als goldrichtig entpuppen.

Kroos wird bei diesem Turnier vielleicht so sehr attackiert wie bei keinem anderen zuvor. Umso wichtiger ist jemand neben ihm, der den Spielaufbau übernehmen kann.

Nur Boateng war gegen Mexiko zu wenig. Rudy verstand es am Samstagabend sehr gut, Kroos in engen Situationen zu helfen und selbst Verantwortung im Aufbau zu übernehmen. Zugleich sicherte er Kimmich gut ab. Das führte zu mehr Sicherheit und deutlich besserer Ballzirkulation.

Als Rudy verletzt raus musste, sah man deutlich, warum Gündogan derzeit keine Option ist. Der stand konsequent 10-15 Meter zu hoch und war Kroos keine große Hilfe mehr.

Beim Gegentor muss Kroos diesen komplizierten Pass keinesfalls spielen, doch auch Gündogan hatte seinen Anteil. Statt sich anzubieten, drehte er ab und war somit nicht bereit. Die Hauptschuld trägt er nicht, aber die Szene war symptomatisch für sein Spiel.

Gündogan traute sich selbst kaum etwas zu, was auch mit der Diskussion um seine Person zusammenhängen könnte. Umso richtiger war aber Löws Entscheidung für Rudy. Sollte der gegen Südkorea nicht spielen können, bliebe auch Goretzka noch eine Alternative.

Die Entlastung von Toni Kroos muss jedenfalls an erster Stelle stehen. Das zeigten die ersten 20 Minuten ganz deutlich. Zusätzlich war auch die Phase nach dem Platzverweis Boatengs sinnbildlich. Rüdiger war nach seinem Fehler nicht in der Lage, auch nur einen Pass nach vorne zu spielen oder etwas zu wagen.

Ohne Boateng war das äußerst problematisch, weil die Vertikalität verloren ging. Vieles wird in den nächsten Wochen von Boateng und Hummels abhängen.

Vorne ist Müller weiterhin ein Problem. Der Bayern-Angreifer zeigte sich zu Beginn verbessert, dann aber immer schwächer. Trotz großer Laufbereitschaft gelang ihm nicht viel.

Ein Fortschritt zu Mexiko war aber immer dann zu erkennen, wenn er sich frei bewegen konnte und Zonen überlud.

Löw hat dennoch ein Problem: kann er Müller seine Freigeist-Rolle nicht gewähren, muss er überlegen, ob er vielleicht jemand Anderes aufstellt.

Müller ist dann am stärksten, wenn er einen spielstarken und abschlusssicheren Stürmer (bei Bayern Lewandowski) und einen Spielmacher (bei Bayern James) an seiner Seite hat.

Beim DFB könnten das Werner und Özil sein. Letzterer fehlte ihm, weil er so viel zu oft selbst eine spielmachende Rolle einnehmen musste. Auch Reus ist eher der Typ Spieler, der in die Tiefe läuft und nicht selbst Situationen mit Pässen kreiert.

Eine Möglichkeit wäre es, Özil für Draxler zu bringen, Reus auf die linke Seite zu schieben und Müller überall spielen zu lassen.

Ein großes Defizit der Deutschen ist es nämlich, dass sie die Zone 14, also den klassischen Zehner-Raum zu wenig besetzen. Dort fehlt ein technisch starker Passgeber, der Özil sein kann. Gegen Schweden standen die Deutschen zu oft in der letzten Linie, aber noch zu wenig zwischen den Ketten des Gegners.

In der ersten Halbzeit gab es aber immerhin Situationen, in denen Müller, Reus, Draxler und Werner allesamt auf der linken Seite spielten. Diese Überladungen brachten direkt gute Chancen. Sie wichen endlich mal vom Schema F ab und boten Variabilität, die auch Müller gut zu Gesicht stand.

Andererseits funktioniert aber die Zusammenarbeit zwischen dem Weltmeister und Timo Werner noch nicht überragend. Der RB-Stürmer ist technisch bisher zu limitiert und kann mit Müllers Läufen noch zu wenig anfangen, weil er auch selbst gerne mal ausweicht.

Löw wird sich entscheiden müssen: entweder Müllers Stärken oder ihn selbst herausstellen. Außerdem bleibt die Frage, ob das 4-2-3-1 perfekt zu den Spielern passt. Bisher lautet die Antwort eher nein.

3. Initialzündung? Der Traum lebt!

Nichtsdestotrotz hat die Mannschaft die erwartete Reaktion gezeigt. Sie hat sogar mehr geschafft.

Ja, die Phase vor der Halbzeit war unnötig. Ja, die Schlussphase war nicht zielstrebig genug und auch Löw hätte abermals früher reagieren können, vielleicht müssen.

Aber die ganze Dramaturgie und die Tatsache, dass der Druck so groß war, zeigten, dass diese Mannschaft immer noch Großes leisten kann. Körpersprache, Unterstützung, Rückwärtsbewegung, Aggressivität und Laufbereitschaft waren deutlich verbessert.

Selbst der Rückschlag führte nicht dazu, dass das gesamte Spiel kippte. Zwischenzeitlich sah es so aus, als wäre die Psyche des Weltmeisters nicht stabil genug. In der zweiten Halbzeit gingen Boateng (bis zu seinem Platzverweis), Neuer und auch Kroos aber voran. Sie übernahmen Verantwortung, entfachten Druck auf immer nervösere Schweden und gewannen mit dem Quäntchen Glück dieses wichtige Spiel.

Das war keine Meisterleistung, aber ein Zeichen von Stärke. Kroos hat vollkommen recht, wenn er von Eiern spricht, die ihn und sein Team in einer komplizierten zweiten Halbzeit auszeichneten.

Fakt ist aber auch, dass nach der Willensleistung nun die taktischen Defizite angegangen werden müssen. Eventuell mit einem Systemwechsel. Gerade Boateng wird den Deutschen im ersten Finale der WM jedoch fehlen.

Noch lebt er, der Traum von der Titelverteidigung. Und es ist bei aller Kritik wichtig, die nicht selbstverständliche Reaktion und die Willensleistung gegen Schweden hervorzuheben.