WM 2022 in Katar: Amnesty fordert Entschädigung der Arbeiter*innen

Maurice Trenner 23.09.2022

Die Weltmeisterschaft als ein Meilenstein

Seit Jahren bereits setzt sich Amnesty International für die Menschenrechte der Arbeiter*innen in Katar im Rahmen der Fußball-WM ein. Welche Aktionen hat man dabei unterstützt und welche Erfolge konnte man dabei feiern?

Ein klassisches Werkzeug von Amnesty International sind die sogenannten „Urgent Actions“: Hier können sich Interessierte für akut bedrohte Menschenrechtsaktivist*innen einsetzen. Viele Menschen können so zeitgleich per E-Mail, Twitternachricht, Facebook-Posting oder Luftpostbrief an die Behörden der Staaten appellieren, in denen ein Mensch akut und massiv bedroht wird. 

Ein solcher Aktivist war der kenianische Arbeitsmigrant Malcolm Bidali, der im Mai 2021 von den katarischen Behörden entführt und einen Monat lang in Isolationshaft gehalten wurde. Im August 2021 durfte er das Land endlich verlassen – gegen eine hohe Geldstrafe. Der 28-Jährige arbeitete als Wachmann und betätigte sich zudem als Blogger und Aktivist. Er sprach offen über die schwierige Situation, der Arbeitsmigrant*innen wie sie in Katar ausgesetzt sind, und hat Artikel für zahlreiche Online-Plattformen verfasst. Von diesen „Eilaktionen“ waren viele erfolgreich.

Dann gibt es natürlich „weichere“ Erfolge: So haben wir es zusammen mit anderen geschafft, das Thema „Menschenrechte und Sport“ auf die Agenda zu setzen – in der Politik, bei den Unternehmen, bei den Sportverbänden und Bürger*innen. Dieser Druck mag dazu beigetragen haben, dass Katar im Arbeitsrecht Reformen eingeführt hat. Er mag auch dazu beigetragen haben, dass sich die FIFA schließlich zu ihrer menschenrechtlichen Verantwortung bekannt hat – das war lange nicht der Fall. Das gleiche gilt für den DFB. 

Auch in der Bevölkerung hat sich das Thema Sport und Menschenrechte immer mehr im Bewusstsein verankert. In einer jüngsten Umfrage von YouGov im Auftrag von Amnesty International nennen die Befragten die Menschenrechte als zweitwichtigstes Kriterium für die Auswahl des Austragungsortes eines sportlichen Großereignisses – gleich nach der Sicherheit von Fans und Athlet*innen.

Natürlich ist das nicht der Erfolg von Amnesty International alleine – viele andere haben geholfen, dieses Thema auf die Agenda zu setzen: Die Internationale Arbeitsorganisation, die Gewerkschaften, die Bau- und Holzarbeiter Internationale, andere Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, Fanorganisationen und -Netzwerke sowie Aktivist*innen vor Ort – und auch die Medienberichterstattung.

Zwei Monate vor dem Auftakt der Fußball-WM wurde nun die Aktion “Arbeitsmigrant*innen entschädigen!” ins Leben gerufen. Worum geht es hier konkret?

Nach jahrelangem internationalem Druck verpflichtete sich die katarische Regierung 2017, gegen die Ausbeutung von Arbeitskräften vorzugehen und das missbräuchliche Kafala-System zu reformieren. Seitdem hat Katar wichtige Fortschritte gemacht. Dazu gehören ein Gesetz, das die Arbeitszeiten und -bedingungen für Hausangestellte regelt, Schiedsstellen, die den Zugang zur Justiz erleichtern, ein Fonds zur Zahlung von unbezahlten Löhnen sowie die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns.

Katar hat Gesetze abgeschafft, die von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten verlangen, ihre Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber um Erlaubnis zu bitten, wenn sie den Arbeitsplatz wechseln oder das Land verlassen wollen. Katar hat zwei wichtige internationale Menschenrechtsabkommen ratifiziert, allerdings dürfen sich ausländische Arbeitskräfte weiterhin nicht gewerkschaftlich organisieren.

Die unzureichende Umsetzung und Durchsetzung dieser Reformen haben jedoch dazu geführt, dass die Auswirkungen auf das Leben vieler Arbeiterinnen und Arbeiter leider begrenzt sind. Und schlimmer noch: Im vergangenen Jahr haben wir eine beträchtliche Gegenreaktion auf die Reformen von Teilen der katarischen Geschäftswelt beobachtet. Besorgniserregend ist, dass der Schura-Rat, ein beratendes Gremium, 2021 eine Reihe von Empfehlungen vorgelegt hat, die einen Großteil der durch die Reformen erzielten Fortschritte wieder rückgängig machen würden.

Diejenigen Arbeiter*innen, die unter die Verantwortung des katarischen Organisationskomitees der WM fallen, profitieren heute von spürbar besseren Arbeits- und Lebensbedingungen durch die 2014 eingeführten und seitdem stetig weiterentwickelten Wohlfahrtsstandards. Allerdings ist das lediglich ein Bruchteil der Arbeitsmigrant*innen – in der Spitze der Bautätigkeit an den Stadien etwa zwei Prozent.

Wir wissen, dass Veränderungen und Fortschritte bei Menschenrechten nur langsam vorangehen und nachhaltige harte Arbeit und Druck benötigen. Die Weltmeisterschaft mag geholfen haben, den Fortschritt zu beschleunigen und die Aufmerksamkeit auf die Situation der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten in Katar zu lenken. Aber wir müssen auch realistisch sein und anerkennen, dass unsere Arbeit nicht endet, wenn die WM im Dezember 2022 vorbei ist.

Auch nach der Fußballweltmeisterschaft wird es die Aufgabe von Amnesty International sein, dafür zu sorgen, dass Katar seine Bemühungen um eine Arbeitsreform weiter vorantreibt. Katar bewirbt sich weiterhin um die Ausrichtung von Sportveranstaltungen. Das Land am Golf wird 2030 die Asienspiele ausrichten und gilt als wichtiger und finanzstarker Player in der Fußballbranche. Wir sehen diese Weltmeisterschaft lediglich als einen Meilenstein unter vielen in unserer Arbeit. 

Um diese Forderungen durchzusetzen, machen wir deutschlandweit öffentlich auf die Situation in Katar aufmerksam. Gemeinsam mit vielen Unterstützer*innen gelingt es so, den Druck auf die Fußballverbände und Katar zu erhöhen. 

“Nach der Weltmeisterschaft wird eine genaue Überprüfung erforderlich sein”

Sind durch die Vergabe der WM in das Emirat und die dadurch hervorgerufene Berichterstattung nachhaltig positive Veränderungen bei den Rechten von Arbeiter*innen in dem Land feststellbar?

Ob die Veränderungen nachhaltig sind, wird sich erst nach Ende der WM zeigen. Amnesty

International und andere fordern zum Beispiel die Einrichtung eines selbstverwalteten Zentrums für Arbeitsmigrant*innen in Katar, in dem sie sich u.a. über ihre Rechte informieren können – das scheitert bisher an dem Willen der katarischen Regierung. Würde es errichtet, wäre es aber ein echtes Vermächtnis dieser Spiele.

Katar hat unbestreitbar eine Reihe von Reformen angestrebt, aber ob dies durch die Vergabe der WM geschehen ist, können wir nicht belegen. Fakt ist, dass sich Katar erst 2017 – also 7 Jahre nach der Vergabe – überhaupt bewegt hat. Dazu mag der Druck der Zivilgesellschaft beigetragen haben.

Die Reformen sind in der Region einmalig und könnten eine echte und dauerhafte Wirkung haben – allerdings nur, wenn sie vollständig umgesetzt und durchgesetzt werden. Danach sieht es leider nicht aus, wie Amnesty Internationals „Realitäts-Check“ Ende vergangenen Jahres bezeugt. Es ist aber enorm wichtig, dass diese Reformen jetzt greifen, damit sie auch nach der Weltmeisterschaft Bestand haben. Nach der Weltmeisterschaft wird eine genaue Überprüfung erforderlich sein, um sicherzustellen, dass es keine Rückschritte gibt.

Neben den Arbeitsmigrant*innen gibt es immer wieder auch Berichte zu der Situation der LGBTI+-Community und den eingeschränkten Frauenrechten. Wie ist hier die Lage vor der Weltmeisterschaft?

Das System der männlichen Vormundschaft ist diskriminierend, weil es Frauen das Recht nimmt, viele wichtige Entscheidungen über ihr Leben selbst zu treffen. Das kann man gut in einem Bericht von Human Rights Watch von 2021 nachlesen. Frauen müssen die Erlaubnis einholen, wenn sie heiraten, im öffentlichen Bereich arbeiten, im Ausland studieren. 

Tatsächlich verweist die Regierung gerne auf „starke Frauen“ sowohl im Sport als auch in der Wissenschaft. Aber auch da muss man genauer hinsehen: Beim Frauenfußball dürfen keine Männer zusehen. Und eine „starke Frau“ im Sport wird in der Gesellschaft eher als unmännlich oder lesbisch abgewertet. Während 70 Prozent der Studierenden weiblich sind, sind dann nur noch 37 Prozent der Frauen erwerbstätig.

Natürlich unterscheidet sich der Alltag immer auch von der Gesetzeslage. Wir hören auch Berichte von Frauen, die Fitness-Center betreiben, aber nicht als Geschäftsführerin eingetragen sind. Auch, wenn es im Alltag Schlupflöcher gibt, erlaubt die Struktur doch Diskriminierung. Und damit gibt es für Frauen keine Rechtssicherheit.

Das gleiche gilt für die Rechte von LGBTI+. Auf Homosexualität steht Freiheitsstrafe – laut Gesetz können bis zu drei Jahren Gefängnis oder Peitschenhiebe verhängt werden. Die Menschenrechte schließen jedoch das Recht auf freie sexuelle Orientierung ein. Dieses Menschenrecht gilt universell und ist keine Frage der „Kultur“, wie gerne von katarischer Seite aus behauptet wird.

“Qatar Airways hat nicht auf unser Angebot reagiert”

Wie sind Sponsorings, wie bspw. Qatar Airways beim FC Bayern München, vor diesem Hintergrund zu bewerten?

Unsere eben schon erwähnte Umfrage zeigt, dass es in der Bevölkerung eine große Unterstützung dafür gibt, dass sich WM-Sponsoren für die Entschädigungen von Arbeitsmigrant*innen aussprechen. 

Amnesty International fordert, dass die Sponsoren gegenüber dem Weltfußballverband FIFA und der katarischen Regierung darauf dringen, den Arbeitsmigrant*innen oder ihren Familien, die während der Vorbereitung der Fußball-WM zu Schaden kommen, Entschädigungen zu zahlen. Zu Schaden kommen heißt nicht nur Verletzung oder Tod, sondern auch Lohndiebstahl oder Verschuldung durch illegale Anwerbegebühren. Dazu sind sie auch verpflichtet: Die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte verdeutlichen die Verantwortung aller Unternehmen, die Menschenrechte zu achten, indem sie unter anderem ihre Einflussmöglichkeiten bei Geschäftspartner*innen nutzen, um negative Auswirkungen auf die Menschenrechte zu verhindern oder abzuschwächen.

Im Juli haben wir zusammen mit Human Rights Watch und FairSquare an die 14 Unternehmenspartner und WM-Sponsoren der FIFA geschrieben und sie aufgefordert, den Fußballverband aufzurufen, Menschenrechtsverletzungen von Arbeitsmigrant*innen im Zusammenhang mit den Vorbereitungen für die Fußball-WM zu beenden. Bisher haben sich vier von ihnen – AB InBev/Budweiser, Adidas, Coca-Cola, und McDonald’s – für einen Entschädigungsmechanismus ausgesprochen. Zehn weitere Sponsoren – unter anderem Qatar Airways – haben keine öffentliche Unterstützung angeboten und auch nicht auf unser Angebot reagiert, mit einem der drei Menschenrechtsorganisationen über die Menschenrechtsverstöße im Zusammenhang mit der Fußball-WM zu sprechen.

Unternehmenssponsoren haben der FIFA weit über eine Milliarde US-Dollar gezahlt, um mit der Weltmeisterschaft 2022 in Verbindung gebracht zu werden. Wir gehen davon aus, dass es nicht in ihrem Interesse sein kann, ihren Ruf durch Menschenrechtsverletzungen zu schädigen.

Gibt es von Seiten Amnesty International konkrete Forderungen hinsichtlich eines Vergabekatalogs für sportliche Großveranstaltungen?

Wenn sich beispielsweise Saudi-Arabien morgen um die WM bewerben würde und das Land keinen Plan vorlegt oder keine Bereitschaft zeigt, sein Arbeitssystem zu reformieren und ernsthaft ein System zum Schutz der Arbeitnehmer*innenrechte an den mit der Veranstaltung verbundenen Standorten zu installieren, sollte das sogar nach den Richtlinien der FIFA heutzutage nicht mehr möglich sein.

Auch wenn Sportler*innen in Belarus aktiv verfolgt werden und die Regierung keine Zusagen macht, diese Verfolgung zu beenden, ist dies der Fall. Meine Beispiele sollen zeigen: Entscheidend ist nicht, ob es überhaupt Menschenrechtsverletzungen in einem Austragungsland gibt, sondern ob der Gastgeber einen glaubwürdigen Plan vorlegt und bereit ist, diese anzugehen.

Jedes Ausrichterland sollte vor der Bewerbung eine menschenrechtliche Risikobewertung durchführen müssen und einen Plan haben, wie diese Risiken verhindert oder gemindert werden können. Dies erfordert die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht. Bei einigen Themen wie der Meinungsfreiheit sind diese Risiken in einigen Ländern wahrscheinlich höher als in anderen, aber kein Land verfügt über eine perfekte Bilanz, die nicht einer gewissen Prüfung bedarf.

Ebenfalls omnipräsent sind die Forderungen nach einem politischen Boykott. In den letzten Wochen haben auch einzelne Fußballkneipen einen Übertragungsboykott angekündigt. Einzelne Umfragen sprechen sogar von einer Mehrheit der Deutschen, die einen Boykott durch die Nationalmannschaft für angemessen halten würde. Wie steht Amnesty einem Boykott der Weltmeisterschaft auf allen Ebenen – persönlich, sportlich und politisch – gegenüber?

Der Druck – und auch die Boykottforderungen – von Fangruppen haben dazu beigetragen, die Probleme in Katar sichtbar zu machen – die Proteste der Bayern-Fans inklusive. Das hat auch sicher dazu beigetragen, den DFB dazu zu bewegen, sich zu äußern, und das wiederum wurde sicherlich von der FIFA und Katar gehört, die wissen, dass dieser Druck nur zunehmen wird. Das hat uns sehr gefreut.

Amnesty International ruft nicht zum Boykott auf – wir sind aber auch nicht dagegen, dass andere es tun. Boykottaufrufe gehören schlicht nicht in unseren politischen Werkzeugkasten. Als Menschenrechtsorganisation geben wir uns selbst Regeln, wie wir politisch agieren wollen. Und eine dieser Regeln lautet, dass wir einen Boykott nur unterstützen, wenn wir alle zumutbaren Anstrengungen gegenüber einem Unternehmen oder einem Land unternommen haben, aber keine Änderung des Verhaltens erfolgt ist.

Das ist hier nicht der Fall: Katar hat Reformen eingeleitet, und es gibt einen Plan, um die Arbeitnehmer*innen besser zu schützen. Die Frage ist eher, ob die Reformen durchgesetzt werden, ob sie gestärkt werden können und ob sie nach der WM aufrechterhalten werden.

# Ende Interview #
Wer Amnesty International bei der Aktion “Arbeiter*innen entschädigen!” unterstützen will, der kann dies hier tun. Dort finden sich auch weitere Informationen und Links zum Thema Weltmeisterschaft 2022 in Katar.