FC Bayern, wir müssen reden.

Dennis Trenner 21.09.2022

Unter Nagelsmann hat der FC Bayern im Schnitt die wenigsten Punkte seit 2011 gesammelt und steht aktuell auf Platz 5 der Tabelle, fünf Punkte hier den Erstplatzierten Unionern. Wie lässt sich der Stotterstart in die Bundesliga erklären? 

Alex: Puh, schwierige Frage. Ich weiß es nicht und ich fände es auch anmaßend zu behaupten, die Situation abschließend beurteilen zu können. Es werden ja medial und in der Öffentlichkeit momentan einige monokausale Theorien herumgereicht. Besonders prominent sind gerade die schlechte Kommunikation von Nagelsmann und die Abwesenheit von Lewandowski, die sich im Beliebtheitsranking der Krisentheorien an der Spitze munter abwechseln. 

Welche Rolle diese beiden Faktoren, die ich an sich durchaus für plausibel halte, im Einzelnen spielen, weiß ich nicht, aber eins weiß ich sicher: als monokausale Erklärungen sind sie zu kurz gesprungen und auf jeden Fall falsch. Wie immer bei Phänomenen im sozialen Raum wird es eine ganze Reihe von unterschiedlichen Einflussfaktoren geben, die sich im Zeitablauf in ihrer Wichtigkeit auch verändern können. Als lose Sammlung ohne spezielle Gewichtung und ohne Anspruch auf Vollständigkeit werfe ich mal folgende Aspekte in den Raum: Spannungen zwischen Team und Trainer, möglicherweise aufgrund nicht passender Kommunikation, Lewandowskis Abwesenheit; die in Justins lesenswertem Kommentar von Montag erwähnte taktische Umstellung von einem System mit zwei Stürmern auf eins mit einem Stürmer namens Mané oder Müller, für das beide Spieler alles andere als ideal geeignet sind; die Ersetzung von Sabitzer durch Goretzka, was die eigentlich gut funktionierende Mittelfeldachse der Bayern ins Wanken gebracht hat; eine für mich zu eindimensional wirkende Spielweise, die immer demselben Schema folgt und daher für den Gegner leicht ausrechenbar und konterbar ist; eine sich selbst verstärkende Spirale von schlechten Leistungen, Erschütterung der Selbstwirksamkeitserfahrung, Druck von außen, Unzufriedenheit, schlechter Stimmung, Motivationsverlust, wieder schlechten Leistungen…; und – ja – auch ein großes Quantum Pech und Unwahrscheinlichkeit im Abschluss.

Georg: Liegt es am Kader? An Nagelsmann? Oder ist es Zufall? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es gar kein Stotterstart, sondern das Potential des aktuellen Kader liegt einfach im Bereich von 76 Punkten pro Saison (2,24 Punkte x 34 Spiele), mit dem Lauf unter Flick als Ausnahme. Vielleicht unterschätzen wir, wie gut Ribéry, Robben, Lahm, Lewandowski und Co. waren und wie einzigartig die Dekade mit ihnen. Mindestens bis zur WM-Pause würde ich noch warten, um mir mein Urteil zu bilden.

Maurice: Im Endeffekt sehen wir eine Fortführung des gestolperten Saisonendes im letzten Jahr, denn saisonübergreifend konnte der Rekordmeister sogar nur drei der letzten zehn Ligaspiele gewinnen. Vor der rettenden Sommerpause taten sich die Münchner ebenfalls schwer damit, sich Chancen gegen tiefstehende Gegner zu erarbeiten und diese zu verwerten. Zudem war die Mannschaft auch damals sehr anfällig für Nadelstiche der Gegner. Natürlich sind die spieltaktischen Gründe und die damit einhergehenden Auffälligkeiten jedoch andere. 

Die Bayern der aktuellen Spielzeit haben große Probleme bei der Verteidigung von Standards, wie auch zuletzt wieder in Berlin. Hier scheint es gewisse Abstimmungsschwierigkeiten zu geben, wobei von Außen nicht klar ist, ob dies am Fehlen eines zusätzlichen Kopfballspielers (Lewandowski) oder der neu sortierten Verteidigung liegt. Zudem kreieren sie Chancen, die sie dann aber häufig nicht nutzen können. Gerade im letzten Spiel konnte dabei das Fehlen eines Vollblutstürmers beobachtet werden, da oft der Abschluss hinausgezögert und schließlich verpasst wurde. 

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Das Transferfenster des FC Bayern haben unsere Leser auf Twitter mit einer 1- bewertet. Passt diese Note noch nach 7 Spielen und 19:6 Toren in der Liga? Wiegt der Abgang von Lewandowski doch stärker oder gibt es einen anderen Mannschaftsteil, der bisher hinter den Erwartungen blieb? 

Alex: Also ich habe das Transferfenster sogar mit einer 1+ bewertet, zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht. An dem Urteil sehe ich auch keinen Korrekturbedarf. Mehr noch als überzeugend eingekauft, hat Salihamidžic vor allem hervorragend verkauft. €45m+ für Lewandowski, €16m für Nianzou, €12m+ für C. Richards, €8,5m+ für O. Richards, €8,5m für Zirkzee usw. Das ist ausgezeichnet. 

Bei der Beurteilung des sportlichen Werts des Transferfensters tue ich mich schwerer. Wenn überhaupt ein Mannschaftsteil nicht adäquat behandelt worden ist, dann der Sturm. Die Abschlussschwäche ist auffällig. Die Bayern kreieren zwar nach wie vor viele Chancen und haben viele Schüsse, aber sie verwandeln zu wenige davon in Tore. Kurioserweise ist das Schwerwiegendste, was mit Lewandowski verloren gegangen ist, vielleicht weniger die Zahl seiner Tore als seine Beständigkeit und Verlässlichkeit. Der Mann hat einfach in jedem Spiel bei 100% gespielt und war immer verfügbar. Mit so einem Spieler kann man als Trainer fest planen, auf ihn kann man sein System ausrichten. Gnabry, Coman, Müller (als Torschütze), Sané und offenkundig auch Mané sind „streaky“ players, die in Verfügbarkeit und/oder Leistung stark schwanken. Wie oft lese ich bei uns in der Kurve nach 60 Minuten: „Gnabry ist heute so schlecht, der hätte schon längst ausgewechselt werden müssen“ oder „Mit der Leistung hätte Sané heute gar nicht erst spielen dürfen“ und ähnliche Sätze. Wie oft kommt es vor, dass Coman, Gnabry oder Sané in einem Spiel gut sind und im nächsten schwach? Oder verletzt? Lewandowski hingegen war einfach immer auf hohem Niveau verfügbar und hat immer abgeliefert, was als großer konstanter Faktor die Schwankungsbreite des Angriffs insgesamt reduziert und auf hohem Niveau stabilisiert hat sowie das Systemdesign des Trainers stark vereinfacht hat. Diese Sicherheit fehlt jetzt im Sturm. Und diese Qualität Lewandowskis war womöglich sogar noch wichtiger als die schiere Anzahl seiner Tore, die jetzt in Barcelona fallen. Mit einer Offensivreihe bestehend aus Spielern, die streaky und phasenweise unverfügbar sind, ist es schwierig, zuverlässige zeitkonstante Systeme aufzusetzen und eine zuverlässig hohe durchschnittliche Torquote zu erzielen.

Die Neuaufstellung der Abwehr und die Integration der neuen Spieler im Mittelfeld hingegen haben meiner Meinung nach gut beziehungsweise im Rahmen des Erwartbaren funktioniert, aber im Sturm sind noch deutliche Friktionen und Anpassungsprobleme zu sehen, die – hoffentlich – nur temporärer Natur sind.

Georg: Haben wir das Transferfenster mit 1- bewertet? Ich nicht. Dem Kader des FC Bayern fehlen ein klassischer Mittelstürmer und ein absichernder oder aufbauender Sechser. Stattdessen wurden  unter anderem Sadio Mané und Ryan Gravenberch gekauft. Mané ohne sportliches Konzept, sondern in erster Linie, weil er verfügbar war. Gravenberch ist ein großes Talent, füllte aber keine vakante Planstelle. An in erster Linie offensiv denkenden zentralen Mittelfeldspielern mangelte es dem FC Bayern auch vorher nicht. Das macht das Transferfenster nicht zu einem schlechten, in der Nähe einer Eins sah ich es aber nie. 

Daniel: Die 1- ist jetzt auch nicht so meins. Dass das stürmerlose System ein absolutes Risiko darstellt, war eigentlich bekannt. Weshalb mich die Euphorie und das durchgängige Lob in der Presse auch überraschten. Das kann halt alles klappen. Oder in die Hose gehen.

Mittlerweile haben wir das Problem, dass von der angepriesenen Flexibilität aktuell nicht mehr viel übrig geblieben ist. Jetzt zieht der einsame Mittelstürmer isoliert vorne die Kreise und kriegt kaum einen Ball. Wenn man so ein Spielsystem möchte, braucht man dann eben einen Håland, der aus den 20 Ballkontakten einfach mal 3 Tore herauspresst.

Zudem muss man Nagelsmann mittlerweile ankreiden, dass er bei jungen Neuzugängen in München doch arg vorsichtig agiert. Gravenberch muss mittlerweile komplett frustriert sein, der Trainer wechselt bei Rückstand ja sogar Stanišić vor ihm ein. Und von Mazraoui war in den ersten Wochen derart wenig zu sehen, dass ich ihn innerlich bereits als Flop abgestempelt hatte. Was seine wirklich guten Spiele dann nur überraschender machten. Wieso haben wir bislang so wenig von ihm gesehen?

Wann kommt Tuchel? Im Ernst, was muss in den nächsten Wochen passieren, um die Diskussionen rund um Nagelsmann zu beenden? 

Alex: Das ist einfach: Es braucht sportlichen Erfolg. Der Rest folgt von allein. Wenn ich mir – unabhängig davon – etwas zur Spielweise wünschen dürfte, wäre das ein Abrücken vom raumtheoretisch idealen, aber praktisch nicht immer optimalen Zentrumsfokus, ein System mit hinterlaufenden Außenverteidigern und mehr Flanken von außen. Wenn das nicht geht, dann wenigstens wieder ein System mit zwei Stürmern.

Georg: Der Kalender könnte Nagelsmann helfen. Nach der Länderspielpause bestreitet der FC Bayern bis zur Weltmeisterschaft 13 Spiele in 44 Tagen. Einerseits viele Gelegenheit, um Punkte zu sammeln und die sportliche Bilanz zu verbessern. Andererseits fehlt schlicht die Zeit, um einen neuen Trainer zu installieren. Nach dem letzten Bundesligaspiel 2022 stehen allerdings zwei Monate Pause an. Viel Zeit, um die Leistung zu analysieren und die Zukunft zu planen… 

Daniel: Zwei Siege und die Diskussion ist weg. Zwei fehlende Siege und wir haben ein gewaltiges Problem. Die Person Thomas Tuchel ist hier tatsächlich ein Faktor. Im Gegensatz zum Fall Niko Kovač haben wir aktuell einen allzeit bereiten Kandidaten für den Feuerwehrmann.

Was Julian Nagelsmann konkret verändern muss, habe ich in meiner Analyse zur Augsburg-Niederlage bereits angeschnitten: Die offensive Fluidität wiederherstellen (gegen Frankfurt war das herausragend!) und Mané auf Vordermann bringen. Wahrscheinlich geht beides Hand-in-Hand. Formschwächen anderer Spieler (etwa Gnabry oder bis zum Barcelona-Spiel Davies) wird man den Spielern ankreiden. Aber Mané muss funktionieren.

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