Jupp Heynckes ist zurück: Das sind seine Aufgaben!

Justin Trenner 06.10.2017

In den letzten Wochen fehlte den Bayern fast alles. Taktische Struktur, aber auch das „Mia san mia“, das gerne beschworen wird. Nun soll also Jupp Heynckes einerseits für einen Flashback sorgen und andererseits die Ära, die unter ihm ihren Höhepunkt fand, selbst beenden.

Seinem Freund Uli Hoeneß tut er damit einen riesen Gefallen, obwohl er theoretisch nur verlieren kann. Zumal seine Aufgaben in den kommenden Monaten sehr komplex sind. Diese lassen sich in zwei Ebenen unterteilen: der taktischen sowie der psychologischen.

Die taktische Ebene

1. Strukturelle Lösungen anbieten

Die Grundstruktur ist auf der taktischen Ebene die Basis für alles. Nur wenn die Mannschaft in der Lage ist, sich so zu positionieren, dass sie gegen den Ball und mit dem Ball Vorteile ziehen kann, gibt es eine realistische Chance darauf, dass der FC Bayern nicht nur erfolgreichen, sondern auch attraktiven Fußball spielt.

Es ist undenkbar, dass ein Großteil des Kaders die Basics des Positionsspiels bereits verlernt haben soll. Zwar macht es derzeit den Eindruck, aber Einzelfälle belegen, dass dies nicht der Fall sein kann. Besonders die klaren, durchgeplanten Laufwege im letzten Drittel sind es aber, die den Münchnern komplett abgehen.

Ein teilweise positives Beispiel aus der Partie in Berlin:

Müller war meist im rechten Halbraum unterwegs, weshalb auch die meisten produktiven Angriffe über diese Seite liefen. Im Laufe der ersten Halbzeit zeigte er auf der anderen Seite, welche Kleinigkeiten dazu führen können, dass Alaba und Ribéry wieder besser im Spiel sind. Mit einem einfachen Laufweg, der entgegengesetzt zu Ribérys Dribbling verlief, öffnete er große Räume und brachte Chaos in die Hintermannschaft der Berliner.

Alaba zog zudem einen weiteren Spieler auf sich, indem er den Franzosen hinterlief. Es sah nach einem einstudierten Spielzug aus. Müller vertändelte danach die große Möglichkeit, einen freien Mann im Zentrum zu finden. Auch, weil dort die Laufwege wiederum nicht passten. So blieb es – wie so oft in den letzten Wochen – nur ein Ansatz, der vielen nicht mehr im Gedächtnis hängen dürfte. Für Heynckes ist das ein klares Signal, dass er dem Team wieder Abläufe und Automatismen an die Hand geben muss.

2. Die Halbräume konsequenter besetzen

Auf die oben erläuterte Szene aufbauend muss man festhalten, dass der FC Bayern nur noch auf der rechten Seite versucht, seine Flügelspieler zu unterstützen. Und auch da eher spontan als zuverlässig. Wie oft haben wir in unseren Analysen darüber geklagt, dass die Münchner zu viele Flanken schlagen? Das Resultat aus der fehlenden Halbraumbesetzung.

Dass es auf der rechten Seite manchmal funktioniert, ist einzig und allein der Intelligenz von Robben, Müller und Kimmich zu verdanken. Gerade wenn Thomas Müller spielt, sieht das manchmal nach Kreativität, guten Laufwegen und Dreiecken aus. Rein in den Strafraum, klatschen lassen, Lücke finden, wieder in den Rückraum, Tor – oft genug gab es dieses Szenario in den letzten drei, vier Jahren zu sehen. In dieser Saison kaum.

Einfach, weil es zu wenige Dreiecke gibt und die Spieler sich das Leben unnötig kompliziert machen. Auch hier gibt es wieder eine passende Szene vom Wochenende:

Müller bewegt sich vorausschauend in den Zwischenlinienraum. Boateng passt den Ball auf die Außenbahn, weil im Zentrum niemand anspielbar ist. Dank Müller hat Robben nun eine Option. Bis dahin eine tolle Szene, da die Münchner nun in einer gefährlichen Zone sind. Ab da treten jedoch Probleme auf. Vorher ging alles ganz schnell, doch nun dauert es ewig, bis Kimmich von hinten nachgerückt ist und Lewandowski sich als Unterstützung anbietet.

Präventiv hätte sich schon ein Mittelfeldspieler in der rot markierten Zone aufhalten können. So dauerte alles viel zu lange. Hummels (1) steht im Niemandsland und auch die Doppelsechs (2 und 3) ist alles, aber nicht präsent. Kimmich wurde im Anschluss zwar auf der Außenbahn freigespielt, doch der gute Ansatz endete in einer weiteren Flanke, die keinen Gewinn erzielte.

3. Die Dominanz im Zentrum zurückgewinnen

Ein weiterer zentraler Punkt auf der taktischen Ebene ist das Mittelfeld. Hier werden Spiele entschieden. Zu oft setzte Ancelotti auf eine Kombination, die nicht spielstark genug war. Das führte entweder dazu, dass alles von Thiago abhing oder das Mittelfeld sogar überbrückt wurde.

Heynckes wird Lösungen finden müssen, um die spielstarken Typen (Rudy, Thiago) mit Spielertypen wie Vidal oder Tolisso zu verbinden. Quasi eine Kopie der Basti-Javi-Sechs. Es braucht wieder eine klare Struktur und viele Dreiecke im Aufbau.

Zu sehr waren die Bayern zuletzt darauf angewiesen, dass Hummels oder Boateng die Zentrale überbrücken und auf direktem Weg die Offensive in Szene setzen. Das ist zu wenig, um Spiele zu kontrollieren und endet in einer einfach zu verteidigen U-Form. Der Kader bietet einige Lösungsansätze für eine bessere Kontrolle. Alles von Thiago abhängig zu machen, ist fahrlässig und funktioniert in den großen Spielen ohnehin nicht.

4. Die Defensive stärken

Auch die Defensive muss wieder stabiler werden. Damit ist nicht die Endverteidigung der bisherigen Viererkette gemeint, sondern die gesamte Mannschaft. Gegenpressing, hohes Anlaufen, aber auch die Staffelungen in tieferen Zonen müssen wieder durchdachter und geplanter sein. Zuletzt wirkte das alles chaotisch und somit nicht kompakt genug.

Im Idealfall kann Heynckes das vorher so einschnürende und erdrückende (Gegen-)Pressing reaktivieren. Dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Bayern wieder weniger zulassen. Wobei dieser Punkt natürlich schon stark von der Struktur mit Ball abhängt. Wie eingangs erwähnt, sollte die größte und wichtigste taktische Aufgabe für den neuen alten Trainer deshalb sein, dieser Mannschaft wieder taktische Fesseln anzulegen. Dabei sind vor allem ein paar Automatismen gemeint. Aus einer guten Grundordnung kann der Rest entstehen.

5. Taktische Flexibilität

Ancelottis Bayern war eintönig, berechenbar und einfach zu durchschauen. Jupps Bayern sollte im Idealfall wieder flexibler sein.

Seine Mannschaft zeichnete sich 2013 zumindest dadurch aus, dass sie selbstständig reagieren konnte. Mal sehen, was diesmal zu erwarten ist. Einen ständigen Wechsel zwischen Systemen wird es auch unter Heynckes nicht geben. Das braucht es aber auch nicht, wenn das Team kreativer wird.

Die psychologische Ebene

1. Individualisten wieder stark machen

Dass Spieler wie Alaba oder Müller derzeit nicht perfekt funktionieren, hat natürlich taktische Gründe. Doch es ist darüber hinaus auch ein psychologisches Problem. Gerade diesen beiden Akteuren sieht man nach schwachen Aktionen an, wie sehr es in ihnen brodelt.

Der Trainer muss sich deshalb als Psychologe beweisen. Selbstzweifel ziehen sich durch die gesamte Mannschaft und einigen ist anzumerken, dass das Selbstverständnis fehlt. Es braucht jemanden, der ihnen zeigt, dass sie nicht schwächer sind als Europas Spitze. Der die Mentalität weckt und Aufholjagden wie in Leipzig vor nicht allzu vielen Monaten wieder möglich macht.

Es war das „Mia san mia“ in Reinform, das den Münchnern zuletzt gänzlich abging. Nachdem zwei Mal in der Liga eine 2:0-Führung verspielt wurde, gab es gegen Ende der Partie keine Steigerung mehr. Man ergab sich der Situation und verlor wichtige Punkte auf den Konkurrenten aus Dortmund. Schlussendlich wird Heynckes sich auch daran messen lassen müssen, ob er das Selbstverständnis zurückgewinnen kann. Hier kann er am ehesten Punkte sammeln.

Alaba und Müller waren oft ein Schatten ihrer Selbst. Wird das unter Heynckes besser?
(Foto: Alex Grimm / Bongarts / Getty Images)

2. Den Teamgeist zurückgewinnen

Eng verbunden mit dem Selbstverständnis der Individualisten ist der Teamgeist. Die Mannschaft trat zuletzt nicht als Einheit auf. Statt sich gegenseitig zu motivieren, sahen sich die meisten Spieler nach Gegentoren vorwurfsvoll an. Nur als Gemeinschaft, wenn auch nur zum Zweck, wird dieser FC Bayern wieder erfolgreich sein.

Eigene Interessen gehören in den Hintergrund und die Ziele des Vereins müssen gemeinsam verfolgt werden. Es wird nicht einfach sein für den neuen Coach, diesen Kader zu bändigen. Aber wer soll das schaffen, wenn nicht Jupp Heynckes?

3. Der Konkurrenz die Hoffnung nehmen

Insgesamt führte die Schwächephase dazu, dass kein Team mehr Angst vor den Bayern haben musste. Die gilt es zu reaktivieren. Ist die Mannschaft wieder erfolgreich, wird der Respekt größer und der Mut der Bundesligisten wieder kleiner.

Diese psychologische Komponente hat in der Vergangenheit häufig dazu geführt, dass man zumindest in den Heimspielen auf sehr eingeschüchterte Gegner traf. Ein bisschen ist dieser Punkt auch das Resultat aus allen anderen. Er wird sich automatisch ergeben, wenn taktisch und psychologisch wieder alles passt.

Kann Heynckes das alles lösen?

Die Entscheidung kam überraschend, aber sie kann durchaus Sinn ergeben. Heynckes ist ein akribischer Arbeiter, der sich viel und intensiv mit seinen Spielern beschäftigt. Taktisch und vor allem menschlich. Gerade seine Detailbesessenheit, wenn es um die eigene Aufstellung und Taktik geht, wird häufig unterschätzt. Zudem ist er sehr flexibel und steht für einen Stil, der zu den Bayern passt.

Er war immerhin in der Lage, van Gaals hinterlassene Basis um eigene taktische Ideen und Einflüsse zu erweitern. Die Frage im Jahr 2017 ist nun: Wie viel von Guardiolas Erbe ist noch vorhanden und kann Heynckes dieses nutzen oder sogar eine eigene Basis legen? Zweifel sind hier erlaubt. Zumal Heynckes seit über 4 Jahren kein Trainer mehr war und nun in kürzester Zeit alles regeln soll. Auch vor 2013 brauchte er viel Anlaufzeit, wenngleich diese viele verschiedene Ursachen hatte.

Der Rheinischen Post sagte er noch vor der Unterschrift: „Schließlich sind viereinhalb Jahre vergangen, seit ich bei Bayern aufgehört habe, und der Fußball hat sich weiter verändert.“ Auch das ist Heynckes, der trotz seines Alters immer wandlungsfähig war und gut reflektieren konnte.

Allein aus psychologischer Perspektive wird es der Mannschaft helfen. Wer soll das Selbstverständnis wieder zurückbringen, wenn nicht er? Er wird von allen akzeptiert sowie respektiert und kennt den Klub.

Spannend werden seine Personalentscheidungen. Spielt Javi Martínez wieder im Mittelfeld? Was ist dann mit Vidal? Wie löst er das große Dominanzproblem im Zentrum? Bekommt er Müller wieder eingebunden? Bleibt er beim 4-2-3-1 und reicht es dennoch für eine bessere Struktur?

Ein wenig passt diese Entscheidung zum Eindruck, dass der FC Bayern in der Vergangenheit lebt. Andererseits ist diese Entscheidung gewissermaßen auch klug. Jetzt kann man sich in Ruhe mit allen Kandidaten auseinandersetzen. Ob Nagelsmann, Tuchel oder gar Jogi Löw. Eine bessere Übergangslösung als Heynckes gab es in diesem Fall nicht.

Dass der Klub sich aber überhaupt dazu genötigt sieht, liegt an Fehlern, die weit vorher gemacht wurden. Die Münchner hatten bisher ein Loch. Wäre es schon ein Umbruch gewesen, hätte man Prozess, Wandel und Veränderung beobachten können. Das gab es nicht und man verschenkte so mehr als ein Jahr mit einer starken Rückentwicklung.

Doch ist Heynckes nun der Mann, der die Basis für den Umbruch legen kann? Einer, der wie kein Zweiter für die Ära davor und somit für das steht, wovon man sich lösen muss? Es wird zumindest eine große Herausforderung für ihn. Bisher profitierte seine Arbeit von vorhandenen Strukturen. Jetzt muss er sie selbst legen.

Geht das schief, wird eine weitere Saison verschenkt und der neue Trainer fängt bei Null an. Falls dies Nagelsmann wird, sind das nicht gerade die besten Voraussetzungen für einen, der sein Talent noch nicht in Extremsituationen zeigen musste. Bayern ginge hier viel Risiko, aber das ist absolut okay und richtig, wenn die Überzeugung beim Hoffenheim-Trainer groß ist.

Im Idealfall kann Heynckes es aber tatsächlich schaffen, das Selbstverständnis der Mannschaft wiederzubeleben und so die nötigen Strukturen zu reaktivieren. Damit sein Nachfolger im Sommer 2018 den längst fälligen Umbruch – wenn auch mit Verspätung – endlich so richtig starten kann. Es ist dem Tripletrainer zuzutrauen.

Die Erwartungssteuerung ist dennoch wichtig. Den 72-Jährigen erwarten große Aufgaben und die Probleme des Klubs gehen weit über die Trainerpersonalie hinaus. Heynckes kann dabei eigentlich nur einen schwächeren Abschied hinlegen als 2013. Umso dankbarer sollten Fans und Klub sein, dass er dem FC Bayern erneut in einer aussichtslosen Situation helfen möchte, in die sich die Münchner selbst gebracht haben.

Wir sagen: Willkommen zurück, Jupp Heynckes und viel Erfolg bei deinen Aufgaben!

Schweinsteiger und Heynckes.
(Foto: JOHANNES EISELE / AFP / Getty Images)