Variabilität total
Vor ein paar Jahren unter Louis van Gaal war das Bild noch ein anderes. Bayerns Formation war hier immer klar und eindeutig zu erkennen.Nach erfolgreichen aber taktisch uninspirierten Jahren unter Magath und Hitzfeld und der darauffolgenden chaotischen Zeit mit Klinsmann war der Niederländer darauf bedacht den Münchenern ein Spielsystem mit hoher Positionstreue zu vermitteln. Bayern spielte ein klares 4-2-3-1. Anpassungen gab es meist nur in Form des Personals und nicht durch Änderungen der Formation oder Ausrichtung. Das Vorziehen von Daniel van Buyten als kopfballstarke zweite Option im Angriff bei einem Rückstand war wohl die spektakulärste Variante in Bayerns Spiel. Auch unter Heynckes veränderte sich das zunächst häufig statische, flügellastige Spiel erst spät indem zunehmend Positionswechsel in der Offensive eingeführt wurden.
Guardiolas Ansatz war von Anfang an ein anderer. Er sprach häufig davon, dass er seine Mannschaft so weiterentwickeln will, dass sie auf unterschiedliche Anforderungen mit unterschiedlichen Formationen beziehungsweise Raumbesetzungen reagieren kann. Durch die Einführung einer Dreierkette als weitere Variante in der laufenden Saison ist er damit ein Stück weitergekommen. Zuletzt zeigte sein Team gegen Hoffenheim nach einer frühen Umstellung von Vierer- auf Dreierkette wie schnell und erfolgreich sie zwischen unterschiedlichen Ausrichtungen wechseln kann. Mario Götze kommentierte vor dem Spiel gegen Manchester City in dieser Woche passend: “Wir müssen in der Öffentlichkeit langsam wegkommen von dem Gedanken, dass es ein festes Spielsystem gibt. Wir wissen einfach, wo die Räume sind. Wenn der Gegner umstellt, stellen wir uns darauf ein und passen uns an. Unsere Flexibilität kann nur ein Vorteil sein.”
Die formative Variabilität wird in dieser Saison zur Methode und ist ein sich verstetigender Trend – wie ein kurzer Blick auf die 16 Pflichtspiele in Bundesliga und Champions League in dieser Saison zeigt. Klar ist dabei, dass die Verkürzung auf Formationen wie 3-4-3, 4-4-2 etc. keine umfassende Beschreibung sein kann. Trotzdem gibt es natürlich auch unter Guardiola Grundformationen, deren Darstellung für das Verständnis der jeweiligen Ausrichtung durchaus hilfreich sein kann.
Zahlenspiele:
1. Spieltag: FC Bayern München – VfL Wolfsburg 2:1 (1:0)
Beginn mit einem 3-3-3-1 mit gependelter Viererkette. Umstellung nach ca. 15 Minuten auf ein 4-2-4 mit beinahe klassischer Viererkette.
2. Spieltag: Schalke 04 – FC Bayern München 1:1 (0:1)
Erstes Spiel von Xabi Alonso. Beginn im 4-4-2 mit Lahm als Rechtsverteidiger. Im Verlauf des Spiels durch stärkere zentrale Positionierung von Lahm immer wieder auch mit Dreierkette.
3. Spieltag: FC Bayern München – VfB Stuttgart 2:0 (1:0)
Lahm und Alaba rücken neben Xabi Alonso ins Mittelfeld. Guardiola lässt ein 4-3-1-2 spielen und hat mit Stuttgart insgesamt wenig Probleme.
1. CL-Spieltag: FC Bayern München – Manchester City 1:0 (0:0)
Debüt von Medhi Benatia. Guardiola zieht Alaba zurück in die Dreierkette und beginnt mit einem 3-4-3. Nach 30 Minuten stellt der Coach um, rückt Alaba wieder ins Mittelfeld vor und agiert fortan in einem 4-3-1-2 beziehungsweise 4-3-3. Bayern erspielt sich so ein deutliches Chancenplus und belohnt sich spät mit dem Siegtreffer.
4. Spieltag: Hamburger SV –FC Bayern München 0:0
Guardiola hält am 4-3-3 fest, das gegen Manchester City den späten Erfolg brachte. Der Versuch Xabi Alonso, Mario Götze und Robert Lewandowski eine Erholungspause zu geben schlug Fehl.
5. Spieltag: FC Bayern München – SC Paderborn 4:0 (2:0)
Stärkere Ausrichtung im 4-2-4 oder 4-2-3-1 wie am ersten Spieltag gegen Wolfsburg. Zur Pause bringt Guardiola Rafinha und lässt ihn als Innenverteidiger spielen.
6. Spieltag: 1. FC Köln – FC Bayern München 0:2 (0:1)
Erneute Interpretation als 4-2-4 mit einem extrem abkippenden Alonso. Mehrfach entsteht in den ersten 50 Minuten eine 1-2-3-4-Staffelung mit Alonso als tiefstem Aufbauspieler. Ab der 60. Minute Umstellung auf ein klareres 4-2-3-1 mit weniger Risiko.
2. CL-Spieltag: ZSKA Moskau – FC Bayern München 0:1 (0:1)
Erneuter Beginn im 4-2-3-1, das gegen extrem defensive Moskauer häufig wie ein 2-3-5 aussah. Guardiola beordert Alaba im Verlauf der Partie aus dem Mittelfeld in eine tiefere Rolle neben Boateng und Benatia während Lahm als nomineller Rechtsverteidger stärker einkippt.
7. Spieltag: FC Bayern München – Hannover 96 4:0 (3:0)
Zum ersten Mal in der Saison setzt Guardiola auf ein klares 3-4-3 und zieht es bis zum Ende durch. Alaba agiert als linker Halbverteidger in der Dreierkette, Lahm dafür im zentralen Mittelfeld. Die Hausherren führen nach 38 Minuten mit 3:0.
8. Spieltag: FC Bayern München – Werder Bremen 6:0 (4:0)
Guardiola stellt erneut um auf ein 4-1-4-1 mit Alonso als alleinigem 6er hinter Hojbjerg und Lahm. Im Bezug auf Bayerns Gegenpressing wohl das beste Saisonspiel der Münchner.
3. CL-Spieltag: AS Rom – FC Bayern München 1:7 (0:5)
Die Explosion. Guardiola spielt mit einer 3-4-2-1 Grundformation mit einem extrem breiten und zurückgelagertem Robben neben Bernat, Alonso und Lahm. Durch die tiefe Positionierung entwischt Robben Cole immer wieder mit Anlauf im Rücken. Alaba spielt als offensiver linker Halbverteidiger in der Dreierkette. Nach 60 Minuten Umstellung auf ein 4-3-3 mit Rafinha und Bernat als Außenverteidiger.
9. Spieltag: Borussia Mönchengladbach – FC Bayern München 0:0
Erneute Umstellung auf ein breites 4-3-3. Die Folge gegen gut sortierte Borussen: Viele eigene Flanken und gefährliche gegnerische Konter. Guardiola scheut die ganz großen Umstellungen während der Partie. Die Hereinnahme von Pizarro als zusätzlichem zentralen Stürmer verpufft.
10. Spieltag: FC Bayern München – Borussia Dortmund 2:1 (0:1)
Beginn im 3-5-2 mit deutlich tiefer positioniertem Götze, der die Pressing-Umspielung durch das Zentrum unterstützen sollte. Dortmund trotz gutem Beginn mit immer mehr Problemen und eigener Umstellung auf 4-4-2 im Laufe der Partie. Bayern nun mit extremer Kontrolle und später Umstellung auf Viererkette mit Alonso als zusätzlicher Konter-Absicherung.
4. CL-Spieltag: FC Bayern München – AS Rom 2:0 (1:0)
Konservativere Ausrichtung der Bayern im 4-3-3 gegen Roms kompaktes 4-4-2. Zähes Spiel ohne große Anpassungen.
11. Spieltag: Eintracht Frankfurt – FC Bayern München 0:4 (0:1)
Sehr konservatives 4-2-3-1 nach der schweren Verletzung von Alaba. Lahm neben Alonso auf der Doppelsechs. Götze, Müller und Ribéry eindeutig hinter Lewandowski als einziger Spitze. Frankfurt wurde geduldig müde gespielt.
12. FC Bayern München – TSG Hoffenheim 4:0 (2:0)
Umstellung nach Lahms Verletzung auf ein 4-1-4-1. Nach 15 Minuten und großen Problemen mit Hoffenheims Pressing erneute Anpassung auf eine Dreierkette mit Bernat als Halbverteidiger und 3-4-3 Formation. Hoffenheims Pressing fortan zahnloser. Am Ende ungefährdeter Sieg für die Guardiola-Elf.
Auffällig ist auch beim Blick ins Detail, dass Guardiola fast in jedem Spiel kleinere oder größere Anpassungen vornimmt. Selbst nach hohen Siegen setzt er in aufeinanderfolgenden Spielen selten zwei Mal in Folge auf die selbe Ausrichtung. Vor allem Lahm und Alaba nutzte er dabei als Schachfiguren, um ihre spezifischen Stärken auf unterschiedlichen Positionen im Abwehrverbund, im Mittelfeld oder einer Kombination aus mehreren Positionen zur Geltung zu bringen. Es wird zu beobachten sein, ob die ständigen Rochaden und Umstellungen auch ohne diese beiden flexiblen Schlüsselspieler in den kommenden Wochen fortgesetzt werden.
Ohnehin wird sich Guardiola bewusst sein, dass er sich auf einem schmalen Grat zwischen sinnvoller individueller Anpassung und kollektiver Überforderung bewegt. Bisher hat sein Team die komplexen Anforderungen mit Bravour gemeistert. Guardiola ist auf dem Weg zur totalen Variabilität ein Stück weiter gekommen. Klar ist aber auch: Die ganz großen Prüfungen in dieser Saison stehen gerade in der Champions League noch bevor.
Interessante Gedanken zu einem spannenden Thema.
In einem Punkt würde ich allerdings gerade das Gegenteil behaupten wollen. Der Grad auf dem sich das Team bewegt ist bemerkenswert breit geworden. Im Gegensatz zu den Anfangszeiten im letzten Jahr bewegt sich die Mannschaft mittlerweile mit einer beeindruckenden Sicherheit durch Guardiolas taktische Gedankenwelt.
Gerade weil das Fundamant so stabil geworden ist, sind so viele kleinräumige Anpassungen möglich.
Der Erfolg in dieser Saison, angesichts einer unfassbaren Verletzungsserie, ist nicht zuletzt dieser Stabilität geschuldet. Einzelschicksale spielen offensichtlich gar nicht mehr so sehr eine Rolle, weil das Kollektiv funktioniert.
Wie das auch anders laufen kann sieht man an Dortmund. Die hatten in jedem Spiel (bis auf unseres), trotz ihrer Verletzungserie, individuell auch die absolute Überlegenheit. Aber u.a. scheint ihre Spielweise viel anfälliger dafür wenn der Gegner mal einfach nicht mitspielt, oder einzelne Spieler nicht die Form haben.
Guardiola ist in dieser Hinsicht einer der wenigen Trainer der sein Team nicht nur verwaltet, sondern einen absoluten Mehrwert bietet.
Zudem hat er, ohne es je auszusprechen, Klinsmanns Versprechen eingelöst, nämlich jeden Spieler auch individuell besser zu machen.
Der Punkt ist für mich: Was passiert wenn es doch mal ein oder zwei Misserfolge gibt. Momentan spielt die Mannschaft auch durch die vielen Erfolge der letzten Wochen mit einem solchen Selbstverständnis, dass es relativ leicht fällt unterschiedliche Formationen etc. einzubauen. Die Frage ist, ob es bei Misserfolgen schwieriger wird so variabel zu bleiben. Vielleicht geht es dann doch eher darum der Mannschaft klare Strukturen zu geben an denen sie sich auch ein Stück festhalten kann. Ich glaube schon, dass der Grat da relativ schmal bleibt – auch wenn Du natürlich recht hast, dass die Mannschaft momentan geölt wirkt und es kaum Anlass gibt von den vielen gegner/situationsorientierten Anpassungen abzurücken.
Auf dieser Grundlage ist das m.M.n. schwer diskutierbar.
Wenn du nach Misserfolgen gehst machst du bei einem Sieg immer alles richtig, bei einer Niederlage alles falsch.
Ich denke auf dieser Höhe auf der die Bayern aktuell sind ist es notwendig so zu agieren. weil die Mannschaften auch extrem auf die Bayern reagieren:
– Siehe das Spiel letzte Saison in Mainz, wo Mainz teilweise mit 5/6er Kette agiert hat (war es das Spiel, ich denke schon ?)
– Siehe die Spiele letzte Saison gegen WOB, diese Saison gegen Frankfurt, wo die Mannschaften versuchen ein abartiges Pressing gegen die Bayern zu spielen.
Letztendlich sind die ganzen taktischen Formationen nur die Reaktion Pep’s auf die Spielweise der Gegener…
Ich habe nicht das Gefühl das er es zum Spaß zu macht, oder weil er irgendjemanden was beweisen will, sondern das ist seine logische Reaktion auf die Anpassungen der Gegner, und auch absolut notwendig.
Und wenn man Interviews anhört z.B.von Robben oder Götze scheinen diese die Thematik nicht als Nachteil zu empfinden.
Apropo “starr” – ich erinnere mich immer wieder mit grauen an die Saison 11/12 – als Bayern nach der Verletzung von Schweinsteiger eingebrochen ist… (Was eventuell auch der damals noch nicht so weitentwickelten Taktik/Spielverständnis der Spieler geschuldet war…)
Ich sage ja auch nicht, dass es falsch ist was er macht. Ich wollte nur den schmalen Grat beschreiben, den ich oben meinte.
Ich glaube das dieser “Grat” so nicht existiert, bzw. diese Variabilität kein Knackpunkt ist für eine erfolgreiche und nicht erfolgreiche Saison… bzw. das der Vorteil größer ist als der Nachteil.
Beispiele: Schalke spielt gegen WOB 5-er Kette und gewinnt. Die haben das bestimmt nicht ewig eingeübt. Siehe Bayern im Pokal gegen BVB, die hatten das bestimmt auch nicht ewig geübt. Siehe auch Deutschland gegen Spanien mit 3-er Kette.
Die Spieler sind heutzutage so geschult und Bayern besitzt ein Kader mit einer so hohen Qualität dass das für mich eine logische Entwicklung ist…
Danke für die Zusammenstellung, durchaus interessanter Überblick.
Dennoch sind die formativen Darstellungen, wie oben erwähnt, eigentlich sinnfrei.
Das was Pep aktuell macht ist meiner Meinung “nur” eine Reaktion auf die Spielweise der gegnerischen Mannschaften und zeigt mehr oder weniger die taktische Entwicklung der Mannschaften in der Bundesliga.
Z.B. war es im 1 LvG Jahr völlig ausreichend 4-2-3-1 zu spielen, weil viele Mannschaften mit dem Positionsspiel, Aufbauspiel, Dominanz über das Mittelfeld und die individuelle Stärke von Robben/Ribery überfordert waren.
Der BVB hat im 2 und 3 Klopp-Jahr dann dieses “Power-Pressing/Gegen-Pressing” forciert und die Bayern oft damit überfordert, die zu dieser Zeit auch wie oben dargestellt sehr fixiert gespielt haben.
Heynckes hat 1 Jahr gebraucht um der Offensive mehr Fexibilität beizubringen und das Zentrum durch Martinez zu stärken.
Letztes Jahr hatte Bayern mit Pep durchaus Probleme gegen den BVB (SuperCup und das Hinspiel gegen den stark ersatzgeschwächten BVB, Rückspiel dann 0:3 verloren).
Das 3-4-3 System, das sich gegen Pressing-starke Mannschaften bewährt hat – u.a. gegen den BVB im Hinspiel und auch im DFB-Pokalfinale – ist aus meiner Sicht schlicht eine Weiterentwicklung auf das starke Pressingspiel einiger Mannschaften:
– so muss z.B. kein 6 mehr abkippen beim Aufbauspiel, ein ZV (Boateng) hat das Spiel gleich vor sich
– Aufbauspiel über die außen wird gestärkt (Halbverteidiger + Flügelspieler), war einige Male schön zu sehen gegen den BVB
“State of the Art” ist halt tatsächlich das Spielsystem im Spiel zu ändern, was aber andere Spitzenmannschaften auch können (z.B. der BVB).
Was Pep tatsächlich auszeichnet ist wohl der Blick für die Fähigkeiten der Spieler und ihnen entsprechende Aufgaben zu geben und zu vermitteln:
– Wer hätte gedacht das Lahm ein 6er ist ?
– Wer hätte gedacht wie geeignet Boateng als ZV ist ?
– Wer hätte gedacht das Alaba/Benatia geeignet sind als HV ?
Aber wie oben geschrieben muss sich das ganze auf höchstem Niveau noch beweisen… und da wirds spannend