Spiel des Lebens #10: Sowas hatte selbst Oli Kahn noch nicht erlebt

Maurice Trenner 08.01.2020

Die Situation vor dem Spiel

Die Saison 2006/07 hatten die Roten als Vierter so schlecht beendet, wie letztmals in den mittleren 1990er-Jahren. Nachdem dieses Abschneiden schon während der Saison den doppelten Double-Sieger Felix Magath den Job gekostet hatte, investierte man in der Sommerpause die damalige Rekordsumme von 93,2 Millionen Euro um den Kader umzukrempeln.

Ottmar Hitzfeld bekam in seiner zweiten Amtszeit an der Münchner Seitenlinie eine komplett neue Offensive mit Weltmeister Luca Toni und Nationalspieler Miroslav Klose, sowie den als vielversprechend aber schwierig geltenden Franck Ribéry. Außerdem kehrte Zé Roberto nach einem Jahr Abwesenheit an die Säbener Straße zurück. Dafür trennte man sich in Person von Roque Santa Cruz, Roy Makaay, Claudio Pizarro und Hasan Salihamidžić von einigen verdienten Spielern.

Mit dem verstärkten Team dominierte der Rekordmeister in der heimischen Liga den Saisonstart. Ein besonderes Highlight war der 4:0-Erfolg gegen den Rivalen Werder Bremen am zweiten Spieltag, bei dem das Duo Toni und Ribéry brillierte. In dieser Partie demonstrierte besonders der Franzose eine neue Dimension von Technik, Spielfreude und Tempo, die der Liga vorher abging. Erst am 13. Spieltag verlor man das erste Saisonspiel gegen Stuttgart. Dennoch war man zur Winterpause aufgrund von sechs Unentschieden nur punktgleich mit den Norddeutschen. 

Bis zum Spiel gegen Getafe verlor man jedoch nur ein weiteres Spiel – in Cottbus – und hatte dank einer Schwächephase der Bremer einen komfortablen Vorsprung von neun Punkten auf den neuen Zweiten FC Schalke. Prunkstück des Teams war die Defensive rund um Martin Demichelis, die erst sechzehn Gegentore zugelassen hatte. Da bis zum Saisonende nur fünf weitere dazu kommen sollten, stellte man einen neuen Rekord für zugelassene Treffer auf.

Aufgrund der schwachen Vorjahresplatzierung musste man im Cup der Verlierer antreten. Es begann eine Tour durch die Provinzen des europäischen Fußballs. Nachdem man in der ersten Runde Belenenses SAD aus dem Wettbewerb warf, stand eine Gruppenphase an. Durch diese stolperte man mehr schlecht als recht, wobei der FC Bayern nur durch einen 6:0-Heimsieg gegen Aris Saloniki die nächste Runde erreichte. Aberdeen FC und RSC Anderlecht hießen die weiteren Stationen auf der Road to Manchester.

Im Viertelfinale standen die Roten dann eben jenem FC Getafe – einem Vorort von Madrid – gegenüber. Im Hinspiel waren die Spanier in der Arena zu Gast, bevor die Reise in den Süden Madrids anstand. Der Gegner war nur den Experten unter den Fans bekannt und als Toni in der 26. Spielminute des Hinspiels nach einer Ecke den Führungstreffer erzielte, sah es nach einem einfachen Weiterkommen aus. Doch in der Folge stellte sich die spanische Hintermannschaft als unüberwindbar heraus und in der 90. Minute gelang dem Außenseiter der Lucky Punch. Nach einem Getümmel im Münchner Strafraum, lupfte der eingewechselte Cosmin Contra über den verdutzten Oliver Kahn ein. Ein undankbares 1:1 mussten der Kapitän und seine Mannschaft also im Rückspiel drehen.  

Falls ihr es verpasst habt

Aufstellung

Trainer Ottmar Hitzfeld brachte für diese Aufholjagd seine beste Elf auf das Spielfeld. Die in der Bundesliga erprobte Viererkette mit den Eigengewächsen Lahm links und Lell rechts sowie der einschüchternden Innenverteidigung aus Lucío und Demichelis. Davor stellten van Bommel und Zé Roberto eine ausgewogene Doppelsechs, die von Kreativspieler Ribéry und dem damals als Außenspieler eingesetzten Schweinsteiger flankiert wurde. Im Sturm stellte Klose für Podolski im Vergleich zum Hinspiel die einzige Änderung dar. Er lief neben Toni auf, der im UEFA-Cup bis dahin bereits acht Treffer erzielt hatte.

Auf Seiten der Spanier überraschte Coach Michael Laudrup – Bruder des früheren Bayern-Spielers Brian – mit fünf Änderungen zum Hinspiel. Unter anderem durfte Hinspiel-Torschütze Contra von Beginn an auflaufen. Im Tor vertraute er auf Stammkeeper Abbondanzieri, dessen Spitzname passenderweise die Ente lautete, auf was hier später noch eingegangen wird. Der eigentliche Mittelfeldspieler Ruben de la Red rückte in die Innenverteidigung, um im 4-4-2 mit Raute Platz für Contra zu machen. 

Erste Halbzeit

Seine Aufstellung musste der Däne allerdings schon nach wenigen Minuten über den Haufen werfen, da eben jener de la Red bereits nach sechs Minuten mit Rot des Platzes verwiesen wurde. Eine harte Entscheidung gegen den Spanier, der zwar Klose vor dem Sechzehner klar zu Fall brachte, aber auch noch von Mitspieler Cortés begleitet wurde. 

De la Red sieht rot.
(Bild: Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

Doch auch ohne den Platzverweis war es eine schnelle Partie vor gerade einmal 17.000 Zuschauern. Bereits in der ersten Minute verhinderte Toni einen Torerfolg von Ribéry. Nach acht Minuten traf der Franzose nur den Pfosten bei einem Freistoß. Den Nachschuss versenkte Toni zwar im Tor, allerdings hatte Klose vorher den Ball mit der Hand gestoppt. Nachdem Getafe noch den verletzten Uche ersetzen musste, waren die Münchner dominant, aber nicht zwingend genug.

Daher kam es, wie es kommen musste. Erneut war es Contra, der tief in das Münchner Herz traf. Eine Minute vor der Pause setzte er in der eigenen Halbzeit zum Sprint an, lief an Demichelis und van Bommel vorbei und schloss Vollspann unter die Latte ab. Der FC Bayern würde in Überzahl ausscheiden …


Zweite Halbzeit

In der Pause reagierte Ottmar Hitzfeld und brachte Marcell Jansen für Lell, sodass Lahm nun auf die rechte Abwehrseite rückte. Erneut zappelte der Ball nach Abschluss von Toni im Netz der Heimmannschaft, doch erneut pfiff der Schiedsrichter den Treffer zurück. Da der italienische Stürmer seinen Gegenspieler zu Boden gedrückt hatte, war auch diese Entscheidung unumstritten.

Die restliche zweite Hälfte lässt sich einfach zusammenfassen: Der FC Bayern lief kopflos auf eine kompakt stehende und furios verteidigende Abwehrmauer der Spanier an. Zwar hatte man einige Chancen, doch auch Getafe wusste sich über Nadelstiche zu entlasten. Würde der große FC Bayern sang- und klanglos im Madrider Vorort ausscheiden? Würde die internationale Karriere des Titans Oliver Kahn so enden?

Als alles darauf hindeutete, chipte van Bommel  gefühlvoll – ihr habt richtig gelesen – in den Sechzehner, wo Toni das Kopfballduell gewann. Die Ablage fiel Ribéry vor die Füße, der den Ball per Dropkick ins rechte untere Eck beförderte. Bayern war wieder am Leben. 

Verlängerung

Mit einem Spieler mehr auf dem Platz und dem mentalen Vorteil des späten Ausgleichs, würde die Verlängerung doch zum Kinderspiel werden – doch das Gegenteil war der Fall. Nur zwei Minuten nach Anpfiff zog Casquero aus zwanzig Metern ab und der Ball sprang vom Innenpfosten ins Tor. Ein Traumtor bei dem Kahn nur chancenlos am Ball vorbei fliegen konnte. Und es kam noch dicker. Einen Querpass konnte Lució nicht klären und der Stürmer Braulio schoss in bester Gerd-Müller-Impression per Drehschuss ein. “1:3! Das ist das Aus für die Bayern,” tönte der Kommentator an der Mattscheibe. Nur um sich direkt zu korrigieren: “Womöglich das Aus für die Bayern.” Wusste er da etwa schon mehr?

Der Titan, geschlagen.
(Bild: Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)

In der 115. Minute schlug van Bommel einen langen und harmlosen Freistoß vor das Tor. Ausgerechnet „die Ente“ Abbondanzieri ließ diese Rückgabe jedoch ohne Not fallen und Toni bewies seinen Torriecher, war zur Stelle und traf zum Anschlusstreffer. Ein Geschenk für den Rekordmeister. Noch fünf Minuten blieben jetzt für einen weiteren Treffer.

Doch die Minuten verrannen ohne nennenswerte Chance. Da hielt den Welttorhüter nichts mehr zurück. Er verließ sein Tor und rannte als zusätzlicher Zielspieler an den Sechzehner. Ein langer Ball erreichte ihn tatsächlich und während er das Kopfballduell zwar verlor, störte er den spanischen Verteidiger wenigstens so sehr, dass dessen Ball in den Füßen von José Ernesto Sosa landete. Die Einwechslung des Argentiniers war zuvor wirkungslos verpufft, aber nun flankte er noch ein letztes Mal in den Strafraum. Dort verpasste Demichelis, doch am hinteren Fünfereck wuchtete sich Toni in den Ball. In einer Szene, die sich ewig anfühlte, im Livebild aber sekundenschnell vergeht, sprang der Ball auf und anschließend über Abbondanzieri ins Netz. 

Luca Toni, der König der absurden Torjubler.
(Bild: JAVIER SORIANO/AFP/Getty Images)

Nun brachen alle Dämme. Toni rannte mit mahnendem Zeigefinger an den Lippen freudetrunken durch das Stadion. Doch alle Kameras blickten auf Kahn, als der Kapitän von Glücksgefühlen überwältigt und den Tränen nahe seinem Mitspieler van Bommel die Hände ins Gesicht schlug und dabei die Nase brach. Egal, alles vergessen an diesem denkwürdigen Abend.

Wir sind der FC Bayern

„Wunder gibt es, wenn Leidenschaft vorhanden ist,“ stand vor der Partie auf einem Plakat in der Münchner Fankurve und wenn diese Mannschaft eins hatte, dann war es Leidenschaft und schierer Siegeswille. Es war die letzte große Schlacht von dem originalen Mentalitätsmonster Oliver Kahn, der in seiner Karriere schon alles erlebt hatte. Manchester 1999. Bremen 1999. Unterhaching 2000. Schalke 2001. Valencia 2001. Yokohama 2002. Doch dieser Abend sollte dem Welttorhüter mindestens genauso in Erinnerung geblieben sein.

Für mich als junger Bayern-Fan war dies das erste Spiel, in dem ich bewusst das Bayern-Gen wahrnahm. Bei den anderen großen, oben genannten Momenten war ich noch zu jung, um diese Gier in den Augen der Spieler zu sehen. Doch an diesem Donnerstagabend war das Feuer bei den großen Akteuren Kahn, van Bommel und Toni zu spüren. 

Im Bezahlfernsehen beschwor Stefan Effenberg, der selbst viele prägende Erlebnisse beim Rekordmeister erlebt hatte, vor der Partie: “Wir sind der FC Bayern”. Während des Spiels hatte man dieses Gefühl als Zuschauer nur selten, doch nach 120 Minuten wusste jeder im Stadion und vor dem Fernseher, dass diese Mannschaft eben doch der FC Bayern ist.

Für die jungen Spieler Ribéry, Schweinsteiger und Lahm wird dieser Abend in ihrer Entwicklung eine zentrale Rolle gespielt haben. Ein solches Erlebnis schweißt zusammen und lässt einen an große Momente glauben. Niemals aufgeben, dieses Motto gab Kahn mit dieser Partie und seiner Emotionalität so an die nächste Generation weiter.

Das Weiterkommen gegen Manchester 2010, der Last-Minute-Sieg in Wembley 2013 oder der Titel in Rio 2014. Seinen kleinen Anfang hatten all diese Momente damals in einer magischen Nacht in Getafe. 

Die Bedeutung des Spiels

Obwohl das Spiel nur im UEFA-Cup war, hatte es eindeutig den Charakter einer Champions-League-Partie. Für die Spieler, aber auch für die Seele der Bayern-Fans war dies ein Balsam, da beide nach der schwachen Vorsaison eine große Europapokalnacht herbei sehnten. 

Der Traum vom Titel wurde jedoch jäh zerstört, als man in der nächsten Runde sang- und klanglos gegen Zenit St. Petersburg ausschied. Das Hinspiel in der Allianz-Arena endete 1:1 nachdem Lució per Eigentor die Führung durch Ribéry egalisierte. Die folgende 0:4-Pleite im Rückspiel war so peinlich, dass sich für einige Zeiten das Gerücht hielt, die Münchner hätten die Partie gegen Geld verloren.

In den nationalen Wettbewerben lief es hingegen besser. Die Meisterschaft sicherte man sich souverän mit zehn Punkten Vorsprung auf Werder Bremen. Im DFB-Pokal war es erneut Luca Toni, der mit einem Doppelpack den Sieg über Borussia Dortmund herbeiführte. 

Am 34. Spieltag wurde es dann noch einmal emotional. Unter großen Tränen verließ Ottmar Hitzfeld den Verein als fünffacher Meistertrainer und Champions-League-Sieger. Ebenso tränenreich war auch der Abschied von Oliver Kahn, der seinerseits nach acht Bundesliga-Titeln, fünf Pokalsiegen und zwei internationalen Titeln seine glorreiche Karriere beendete. 

Zur neuen Saison zeigte sich der Club experimentierfreudig und holte Jürgen Klinsmann an die Seitenlinie. Wie sich der Ex-Nationalcoach an der Säbener Straße machte und ob das Risiko sich auszahlte, ist jedoch eine andere Geschichte.

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