Spiel des Lebens #06: Die Großmutter aller Niederlagen
Nur wenigen titellosen Teams der Fußballhistorie ist es vergönnt, bis heute in lebhafter Erinnerung geblieben zu sein. Abgesehen von Ungarn 1954 oder den Niederlanden 1974 gelten als die größten Teams letztlich doch immer nur die großen Titelträger einer Epoche. Je weiter wir uns zeitlich entfernen, desto mehr wird die Vergangenheit kanonisiert, werden ganze Dekaden der Fußballgeschichte unter ein paar Schlagworten abgeheftet.
Gerade im Fall von Bayern München tritt dieses Phänomen besonders anschaulich zutage: Das Bayern-Team der 70er wird ob der Europokaltriumphe 74-76 geradezu mythisiert, die CL-Sieger von 2001 mit Kahn & Effenberg werden verehrt und die Triple-Sieger von 2013 sind bereits jetzt schon legendär. Alles, was davor oder dazwischen war, verblasst und fällt früher oder später der Vergessenheit anheim. Dabei wissen wir alle nur zu genau, welch Zufälligkeiten mitunter über Sieg oder Niederlage, über Triumph oder Debakel entscheiden. Wie würde unser Blick auf die Bayern-Historie heute wohl aussehen, hätte Schwarzenbeck im Finale 1974 nicht mit seinem Gewaltschuss in allerletzter Sekunde das Wiederholungsspiel erzwungen? Was wäre, wenn nur einer von Zahovic, Carboni oder Pellegrino 2001 im Elfmeterschießen getroffen hätte? Oder wenn Dieter Hoeneß 1982 sein Tor … – ja, was war damals eigentlich los?
Die Situation vor dem Spiel
Der Weg zurück zur Spitze
Am 26.5.1982 stand der FC Bayern zum ersten Mal seit 1976 wieder in einem Europapokalfinale. Bayernfans im Jahre 2019 wissen nur allzu gut, wie nah und fern zugleich einem eine Spanne von sechs Jahren vorkommen kann. Was den damaligen Finaleinzug jedoch von der heutigen Situation unterscheidet, ist der Umstand, dass dieser gewissermaßen den letzten Schritt, die Krönung einer Entwicklung darstellen sollte, die 1978 mit der Rückkehr Breitners und der Amtsübernahme durch Pál Csernai eingeläutet worden war.
Als Bayern München in der Saison 1977/78 zwischenzeitlich auf einem Abstiegsplatz stand, war es keineswegs klar, dass die Erfolge der 70er für diesen Verein nicht nur ein einmaliges Intermezzo, ein nie mehr wiederkehrender Höhenflug bleiben würden. Die goldene Generation hatte den Verein entweder bereits verlassen oder befand sich in ihren letzten Zügen, für neue Stars fehlte das große Geld, aus dem Nachwuchs kam nichts nach, was auch nur annähernd mit der Generation von Beckenbauer, Müller & Maier vergleichbar gewesen wäre. Der FC Bayern war auf dem Weg zu einem ordinären Bundesligisten.
Doch nur zwei Jahre später hatte sich das Blatt komplett gewendet: Mit der als „Pal-System“ apostrophierten Mischung aus Raum- und Manndeckung, die perfekt auf die Qualitäten des Rückkehrers Breitner zugeschnitten war, und der Wandlung eines zwar talentierten, aber nicht übermäßig torgefährlichen Stürmers zu einer unaufhaltsamen Ein-Mann-Armee gelang in kurzer Zeit der Sprung zurück an die Spitze nicht nur der Bundesliga, sondern Europas.
Karl-Heinz Rummenigge war schon 1980 zu Europas Fußballer des Jahres gewählt worden, als 24 von 25 Stimmberechtigten ihn auf Platz 1 gesetzt hatten. Aber besonders die Wahl 1981, als „Breitnigge“ auf Platz 1 & 2 der Rangliste landeten, unterstreicht mit welchem Renommee der FC Bayern Anfang der 80er Jahre bereits wieder gesegnet war: Bayern München galt als das beste Team Europas.
Der Weg ins Finale
In der Saison 1980/81 schied man bei der ersten Teilnahme am Europapokal der Landesmeister seit 1976/77 zwar noch aufgrund der erzielten Auswärtstore unglücklich im Halbfinale gegen den FC Liverpool aus (und läutete damit eine Serie von fünf Jahren hintereinander ein, in denen man an einem britischen Team scheitern sollte); aber als ZSKA Sofia 1981/82 sensationell im Viertelfinale den FC Liverpool ausgeschaltet hatte, schien der Weg für den FC Bayern frei, den Thron Europas zurückzuerobern.
Das war jedoch leichter gesagt als getan:
Zum einen traf man zunächst im Halbfinale auf eben jenen ZSKA Sofia, der unter Trainer Nikodimov damals einen technischen Fußball auf allerhöchstem Niveau spielte. Bereits nach 18 Minuten lag man in Sofia mit 0:3 hinten und erst die Einwechslung von Dieter Hoeneß, mit dessen Urgewalt die Bulgaren enorme Schwierigkeiten hatten, leitete die Wende zum Guten ein. Man verlor letztlich „nur“ 4:3 in Sofia und hatte zuhause beim 4:0 schließlich keine Probleme, ins Finale einzuziehen.
Zum anderen schien die Ära „Breitnigge“ in der Saison 1981/82 fast schon wieder über dem Zenit zu sein. Zwar stellte man im Europapokal mit Hoeneß, Rummenigge und Breitner die drei erfolgreichsten Torschützen, zwar konnte man in einem dramatischen Finale dank „Turban-Dieter“ den DFB-Pokal gewinnen, aber in der Meisterschaft landete man am Ende nur auf einem enttäuschenden Rang 3 mit sage und schreibe 56 Gegentoren. Mit 10:0 Punkten noch perfekt in die Bundesliga gestartet, verlor man im Laufe der Saison jedoch gerade auswärts viel zu viele Spiele (10 Auswärtsniederlagen), um am Ende ganz oben stehen zu können. Die Bayern-Defensive erwies sich als allzu wackelig: Schnell vorgetragene Konter und aggressives Pressing erwiesen sich als passendes Gegenmittel zu stets um Kontrolle bemühten und dabei zu Behäbigkeit neigenden Bayern. Eine Spielweise, die dem Finalgegner Aston Villa quasi auf den Leib geschneidert war.
Der Gegner: Aston Villa
War Bayern München 1981/82 nicht mehr in absoluter Top-Verfassung, so gilt dies erst recht für Aston Villa. In der Vorsaison noch englischer Meister, belegte man 1981/82 am Ende mit ausgeglichenem Punktekonto lediglich den 11. Tabellenplatz, wechselte im Februar sogar den Trainer, ohne dass dadurch eine sonderliche Wirkung erzielt worden wäre. Im Europapokal jedoch sah man ein anderes, wesentlich konzentrierter agierendes Aston Villa: Herzstück war die entschlossen und sehr körperbetont verteidigende Defensive. Nur Dynamo Berlin sollte es gelingen, in dieser Europapokalsaison Tore gegen Aston Villa zu schießen, gegen Reykjavik, Dynamo Kiew und Anderlecht blieb man ohne Gegentor. Im Angriff profitierte Aston Villa hauptsächlich vom damals typisch britischem Vertikalspiel und gleichermaßen dribbelstarken wie schnellen Flügelstürmern. Normalerweise sollten diese den kantigen Mittelstürmer Peter Withe mit Flanken bedienen, gerade im Europapokal und der dort defensiveren Grundausrichtung fungierte dieser jedoch überwiegend als Zielspieler, der lange Bälle „festmachen“ und auf die nachrückenden Spieler verteilen sollte.
Aston Villa stand sicherlich nicht zufällig im Finale, auch wenn der Weg dahin durchaus holprig war. Gegen Dynamo Berlin setzte man sich letztlich nur aufgrund der mehr erzielten Auswärtstore durch, im Viertelfinale gegen Dynamo Kiew hatten sie Glück, dass das Auswärtsspiel witterungsbedingt nicht in Kiew, sondern auf äußerst holprigem Geläuf in Simferopol ausgetragen werden musste, was dem modernen Kombinationsfußball Lobanowskis nicht gerade in die Karten spielte. Die Platzqualität im Rückspiel in Birmingham war sogar noch katastrophaler: Der morastartige Untergrund machte einen „gepflegten“ Spielaufbau quasi unmöglich, was Aston Villa erneut entgegenkam. Mit langen Bällen und hohen Flanken von außen umging man die kaum bespielbare Mitte des Spielfelds und kam so zweimal zum Erfolg. Der Finaleinzug gegen RSC Anderlecht musste sogar erst am grünen Tisch bestätigt werden, da es beim Rückspiel zu schweren Ausschreitungen unter den Zuschauern gekommen war, in deren Zuge ein englischer Fan auf den Platz stürmte und so für eine Spielunterbrechung sorgte. Der Protest Anderlechts war jedoch erfolglos, Aston Villa wurde lediglich dazu verurteilt, ihr nächstes Europapokalheimspiel vor leeren Rängen auszutragen. Und so kam es am 26. Mai zum Duell in Rotterdam zwischen Aston Villa und Bayern München.
Die Stimmung vor dem Finale
Bayern München galt gemeinhin als klarer Favorit. Wenn irgend etwas für die Engländer sprach, dann dass der Europapokal der Landesmeister seit 1977 ununterbrochen nur von englischen Teams gewonnen worden war: 1977 & 1978 FC Liverpool, 1979 & 1980 Nottingham Forest und 1981 erneut der FC Liverpool. Gerade Nottingham Forest galt dabei in den beiden Jahren des Titelgewinns nicht unbedingt als ernsthafter Titelanwärter; ein Umstand, aus dem Aston Villa, das im eigenen Selbstverständnis vor allem „tough to beat“ war, zusätzliches Selbstbewusstsein zog. Paul Breitner hatte zudem im Vorjahr nach dem Spiel in Liverpool den englischen Fußball als naiv bezeichnet, und die britischen Medien verpassten keine Gelegenheit, dieses Zitat wieder aufzuwärmen und den Spielern von Aston Villa unter die Nase zu reiben.
Falls ihr es verpasst habt
Die 1. Halbzeit
Ein wenig von dieser Wut war an jenem 26. Mai in der ersten Halbzeit noch zu spüren: Bayern München war eigentlich wie immer in erster Linie darum bemüht, das Spiel zu kontrollieren und den Ball in den eigenen Reihen zu halten. Dies gelang in den ersten Minuten ganz gut, man ließ erkennen, das Spiel dominieren zu wollen. Aber Aston Villa gab sich in den Zweikämpfen äußerst aggressiv und versuchte nach Ballgewinnen schnell in die Spitze vorzustoßen. Dort sollten die quirligen Außen Morley und Shaw Unruhe stiften und sich wenn möglich im Dribbling gegen die robusten Verteidiger Dremmler und Horsmann durchsetzen. Zwar spielte Gary Shaw in jenem Jahr seine wohl beste Saison, an deren Ende er schließlich sogar als bester Nachwuchsspieler Europas ausgezeichnet wurde; im Finale war es jedoch in erster Linie Tony Morley, der mit seiner Wendigkeit Gefahr erzeugte und die etwas plump und rustikal agierende Münchener Verteidigung bisweilen in Verlegenheit brachte.
Der Hüne Peter Withe wurde im Zentrum hauptsächlich von Klaus Augenthaler bearbeitet. Zwar hatte dieser zuvor im Training gegen den ähnlich spielenden Dieter Hoeneß üben können, aber dennoch bereitete ihm Withe in der ersten Halbzeit einige Probleme, auch wenn ihm der fast auf einer Linie spielende Hans Weiner oft zur Unterstützung sprang. Da die anfällige Münchener Abwehrreihe mit ihrer weitgehend raumorientierten Spielweise vorwiegend um Absicherung bemüht war, vorsichtig agierte und infolge dessen sehr tief stand, ergaben sich weite Räume im Mittelfeld oder „acres of space“, wie der englische Originalkommentar es treffend formulierte. Withe ließ sich oft zwischen Abwehr und Mittelfeld der Bayern zurückfallen, um für lange Bälle anspielbar zu sein. Da Augenthaler das Risiko, aus der Abwehr herausgelockt zu werden, scheute, stand dem 1,88 m großen Withe dort nicht selten nur der 15 cm kleinere Wolfgang Kraus entgegen. So konnte Withe die hohen Bälle ohne allzu großen Gegnerdruck unter Kontrolle bringen und nach außen verteilen.
Bei zwei tief stehenden Abwehrreihen war das zu bespielende Spielfeld entsprechend groß und erforderte beim Umschalten von Defensive zu Offensive permanent das Überbrücken weiter Räume. An sich keine schlechte Situation für Bayern München, hatte man mit Paul Breitner doch den prädestinierten Spieler für eine solche Spielweise.
Es war die große Spezialität Breitners, als Hybrid aus Regisseur und Box-to-Box-Player mit raumgreifenden Antritten Bälle aus der Abwehr in den Angriff zu „tragen“ und dort zu verteilen. Allerdings war er in jener Phase der Saison nicht wirklich fit: Nach der vorentscheidenden Niederlage gegen den HSV am 28. Spieltag hatte er angeschlagen kein einziges Bundesligaspiel mehr über die volle Distanz absolviert. Erst am 15. Mai, also gerade einmal 11 Tage vor dem Europapokalfinale, musste Breitner beim Spiel in Mönchengladbach wegen einer Zerrung, die er sich schon kurz zuvor bei einem bedeutungslosen Freundschaftsspiel der Nationalmannschaft in Norwegen zugezogen hatte, ausgewechselt werden. Er war physisch schlicht nicht in der Lage, sein aufwändiges und kräftezehrendes Spiel über 90 Minuten durchzuziehen.
Auch deshalb versuchte Bayern ähnlich wie Aston Villa, das Mittelfeld mit langen Bällen zu überbrücken. Hohe Bälle von Augenthaler auf Dieter Hoeneß waren ein Rezept, das im Halbfinale gegen ZSKA Sofia und im DFB-Pokalfinale gegen den 1.FC Nürnberg schließlich schon gut geklappt hatte. Das Problem in diesem Spiel war jedoch, dass Aston Villa es aus England Woche für Woche gewohnt war, mit solch kantigen Mittelstürmern umzugehen. Dieter Hoeneß verbreitete bei den physisch starken Abwehrspielern weder Angst noch Schrecken und erzeugte in der ersten Halbzeit kaum Gefahr. Ein weiterer Schwachpunkt in der Bayern-Elf war Youngster Reinhold Mathy, der erst zum Saisonende hin in die Mannschaft gerückt war. Auch ihm gelang es kaum, als Bindeglied zwischen Abwehr und Angriff zu fungieren. Nominell im rechten Mittelfeld positioniert drängte er immer wieder auf die 10 ins ohnehin verdichtete Zentrum, so dass die rechte Seite quasi verwaiste. Steuerte Dürnberger auf der linken Seite wenigstens ab und an einen Angriff über den Flügel bei, so befand sich auf rechts ein einziges großes Loch, da sich auch Dremmler kaum in Angriffe einschaltete. Lediglich Paul Breitner, der ohnehin schon ein gewaltiges Pensum zu absolvieren hatte, bemühte sich, das Vakuum auf der rechten Seite bisweilen zu füllen. Wann immer er am Ball war, ergaben sich vielversprechende Situationen. Dies war vor allem zum Ende der ersten Halbzeit hin der Fall, als es Aston Villa nicht mehr gelang, mit großem Einsatz die entstehenden Lücken zuzulaufen. Und weil der lange Zeit in der Luft hängende Karl-Heinz Rummenigge sich nun vermehrt zurückfallen ließ, um zu Ballkontakten zu kommen.
Rummenigge, what a man …
Rummenigge war zu jener Zeit überlebensgroß: Als zweimaliger Fußballer Europas war er in einer Zeit, als die Bundesliga unbestritten die stärkste Liga der Welt war, nicht nur zwei Jahre in Folge Torschützenkönig geworden, er war Europameister, Deutschlands Fußballer des Jahres 1980, war Torschützenkönig des Europapokals 1981, zwei Jahre hintereinander vom „kicker“ in die Weltklasse eingestuft worden, Schütze des Tor des Jahres 1980 & 1981, Kapitän der Nationalmannschaft usw. Kurzum, was das Standing betrifft, eilte ihm zu jenem Zeitpunkt ein Ruf voran, der sich durchaus mit dem heutigen Ansehen eines Messi oder Cristiano Ronaldo vergleichen lässt. Entscheidend dafür war nicht einmal, was er tatsächlich auf dem Platz zu leisten imstande war; wichtiger war, wozu man ihn in der Lage hielt. Auf jedem Schulhof kursierten Gerüchte von Fabeltoren und Kabinettstücken, die er vollbracht haben sollte. In Zeiten ohne Pay TV, Festplattenreceiver und Internet, als noch nicht jedes Spiel für jedermann abrufbar war, waren die spektakulären Ausschnitte seiner Tore des Monats oder des Jahres ein beträchtlicher Anteil des Bildes, das die Öffentlichkeit von ihm hatte. Und mit dieser Erwartungshaltung ging ein nicht geringer Anteil der Zuschauer in eine Fußballübertragung, an der Karl-Heinz Rummenigge beteiligt war. Hielt man es mit dem FC Bayern, so erhoffte man sich gerade in so einer zerfahrenen Partie, wie es die 1. Halbzeit war, eine erlösende Wundertat des Ausnahmekönners. Hielt man es mit Aston Villa, so stockte einem jedes Mal der Atem, wenn Rummenigge an den Ball kam. Sieht man sich das Spiel mit dem englischen Originalkommentar an, so spürt man Mitte der ersten Halbzeit gewissermaßen die Enttäuschung des Co-Kommentators Brian Clough, dass es sich bei Rummenigge augenscheinlich wohl um ein ganz irdisches Phänomen zu handeln scheine. Doch gerade in dem Moment, als sich der geneigte Zuschauer sich gerade zu fragen begann, ob man in der Vorberichterstattung angesichts des Wirbels, der allerorten um Rummenigge gemacht worden war, einem Schwindel aufgesessen sei, jagte dieser nach etwa einer halben Stunde Spielzeit binnen einer Minute gleich zwei Hochkaräter in Richtung des englischen Tores: Erst pariert der nach 10 Minuten eingewechselte Ersatztorhüter Nigel Spink (in seinem zweiten Pflichtspieleinsatz überhaupt und ersten Spiel seit drei Jahren) mit einem glänzenden Reflex einen fulminanten Schuss Rummenigges, der eine formidable Balleroberung Breitners vorausging. Nur wenige Sekunden später setzt Rummenigge einen spektakulären Fallrückzieher von der Strafraumgrenze nach Breitner-Flanke äußerst knapp am Tor von Aston Villa vorbei und stellt mit einem Schlag die ihm ursprünglich entgegengebrachte Ehrfurcht wieder her.
Als der Schiedsrichter nach einer weiteren Rummenigge-Chance zur Halbzeit pfeift, ist das Momentum bereits eindeutig auf die Seite der Bayern gewechselt. Hatte man zunächst durchaus Schwierigkeiten, dem Enthusiasmus der Engländer und ihren überfallartigen Vorstößen Einhalt zu gebieten, so war in den letzten 15 Minuten der 1. Halbzeit ein deutliches Übergewicht der Münchener zu konstatieren. Breitner kam immer besser ins Spiel und fand Gelegenheit, seinen kongenialen Partner einzubinden. Bayerns Spieler störten früher und kamen so häufiger zu Ballgewinnen bereits in der gegnerischen Hälfte. Und auch die Verteidiger schalteten sich nun das eine oder andere Mal mit in die Offensive ein. Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis Bayern Kapital aus der Überlegenheit schlagen sollte.
Die 2. Halbzeit
Beide Mannschaften kamen nicht nur personell unverändert aus den Kabinen, auch die Spielweise der Teams glich den letzten Minuten der 1. Halbzeit, als Bayern längst die Kontrolle übernommen hatte und auf den Führungstreffer drängte. Ein paar Umstellungen auf Bayernseite sorgten sogar für eine noch klarere Dominanz zu Beginn der 2. Halbzeit:
Zum einen waren die Bayern sichtlich entschlossen, nun auch im Zweikampfverhalten die Oberhand zu gewinnen. Vor allem Wolfgang Dremmler zeigte einige wilde Tacklings, die heutzutage definitiv sanktioniert worden wären. Aber durch diese erhöhte Aggressivität verkürzte man erfolgreich die Ballbesitzzeiten von Aston Villa.
Zum anderen involvierte sich Weiner stärker in Deckungsarbeit und Luftzweikämpfe, so dass Augenthaler sich nun etwas versetzt im Raum positionieren konnte. Dadurch fand er häufiger Gelegenheit, sich mit dynamischen Läufen selbst in das Offensivspiel einzuschalten oder mit langen Bällen Angriffe einzuleiten. Im Unterschied zur 1. Halbzeit landeten diese nicht mehr hauptsächlich bei Dieter Hoeneß oder dessen Gegenspielern, sondern wurden gezielt in den freien Raum hinter die Abwehr von Aston Villa geschlagen. Das beschleunigte den doch sehr gemächlichen Spielaufbau der Bayern und brachte mehr Vertikalität in ihr Spiel.
Zudem ersetzte in der 52. Spielminute Günter Güttler Reinhold Mathy, was nominell eigentlich ein defensiver Wechsel zu sein schien. Aber dass Güttler seine Position im rechten Mittelfeld konsequenter besetzt hielt, bekam der Struktur im Bayernspiel zunächst sehr gut. Einerseits bekam Breitner so etwas mehr Platz im Zentrum, andererseits ermöglichte dies Dremmler, sich auf dem Flügel mit in die Offensive einzuschalten, ohne damit zugleich die rechte Seite komplett zu entblößen.
Ein unwiderstehliches Augenthaler-Solo über den halben Platz, bei dem er leider gleich drei freistehende Mitspieler im Strafraum übersah und schlussendlich verzog, läutete in der 57. Minute die beste Bayern-Phase des Spiels ein. Nach einem Doppelpass mit Breitner kam Bernd Dürnberger in der 60. Minute frei zum Abschluss, danach hagelte es Chancen im Minutentakt: Auf einen Flugkopfball von Augenthaler (63. Minute) folgte eine Chance für Hoeneß, der beinahe eine Dremmler-Hereingabe über die Linie gestochert hätte (64. Minute). Nur eine Minute später verpasste derselbe eine Horsmann-Flanke nur um wenige Zentimeter.
Doch gerade als die Briten förmlich in den Seilen hingen und ein Bayernsieg nur noch eine Frage der Höhe zu sein schien, kam Aston Villa in der 67. Spielminute zur einzigen echten eigenen Torchance in der 2. Halbzeit: Dremmler setzte auf der rechten Seite etwas zu ungestüm gegen Shaw nach, so dass er ausrutschte. Shaw spielte den Ball in die Gasse zu Morley, der Weiner anschließend nach Strich und Faden austanzte. Augenthaler orientierte sich im Strafraum zum ballführenden Morley hin, wodurch er Withe aus den Augen verlor, der so schließlich völlig frei vor Müller stand und den ihm auf den Fuß servierten Ball nur noch über die Linie bugsieren musste.
Der Spielverlauf war auf den Kopf gestellt, Bayern bemühte sich zwar mit aller Kraft, den Ausgleich wiederherzustellen, aber fand letztlich keine passende Antwort mehr auf nun mit aller Kraft verteidigende und auf Konter lauernde Engländer. Gelang es Bayern, sich bis zum Strafraum vorzuarbeiten, fehlten letztendlich Präzision und Kreativität. Von ein paar unplatzierten Fernschüssen und Flanken abgesehen gelang es nicht mehr, gefährlich vor das Tor von Aston Villa zu kommen. Zwar gab man nicht auf, aber ein wenig wirkte der Stecker gezogen bei dieser Mannschaft, die so oft in der Saison (man denke nur an das DFB-Pokalfinale gegen Nürnberg) sich wieder in Spiele zurückkämpfen musste. Auch und gerade von Rummenigge war wenig bis nichts mehr zu sehen, lediglich in der 79. Minute kam er nach einem langen Ball von Güttler noch zu einer vielversprechenden Szene, als er alleine aufs Tor zustürmte, aber letztlich überhastet verstolperte.
Zwei Minuten vor dem Schlusspfiff landete der Ball dann doch noch im Netz von Nigel Spink: Erneut war es ein langer Ball, diesmal vom eingewechselten Niedermayer, den Güttler in den Lauf von Dieter Hoeneß verlängerte. Zum Unmut der Bayern wurde der Treffer jedoch wegen Abseits aberkannt. Eine strittige Entscheidung, über deren Korrektheit man ohne kalibrierte Linien und passender Kameraperspektive nie ein endgültiges Urteil fällen können wird. Es half alles nichts, Bayern war geschlagen und die Spieler von Aston Villa lagen sich in ihren Armen.
3 Dinge, die auffielen
1. Das Ende des Nimbus
Die Niederlage gegen Aston Villa bedeutete, dass Bayern München erstmals überhaupt ein Finalspiel verlor. Bis dahin war man aus sämtlichen Finalteilnahmen (4x Europokal, 6x DFB-Pokal) als Sieger hervorgegangen. Nun ist das zwar in erster Linie ein rein statistischer Wert, aber die Überzeugung und das Selbstbewusstsein, mit einer Finalteilnahme gleichsam schon die Hände am Pokal zu haben, mag einen nicht zu unterschätzenden psychologischen Vorteil bedeuten. Man vergleiche dies mit der Bilanz und dem daraus entspringenden Selbstverständnis von Real Madrid in der Champions League, das sämtliche 7 Finalteilnahmen für sich entscheiden konnte.
Für Bayern München dagegen begann mit der Niederlage von 1982 eine schwarze Serie, die sich 1987 und 1999 nicht nur fortsetzen, sondern angesichts der Umstände geradezu tragische Züge annehmen sollte. Es würde noch weitere 19 Jahre dauern, bis der Sprung an die Spitze Europas wieder gelingen sollte. Am 26. Mai 1982 war dies selbst nach der bitteren Niederlage kaum vorstellbar: Rummenigge war erst 26 Jahre alt, Breitner 30-jährig. Mit Pfaff und Nachtweih standen bereits zwei hochkarätige Verstärkungen zur neuen Saison fest. Dass nur ein Jahr später die Ära „Breitnigge“ vorüber sein und bereits zwei Jahre später keiner der beiden mehr im Verein spielen würde, war so nicht abzusehen.
Da Breitner schon Bestandteil des großen Teams von 1974 war, hat dieser (als Verteidiger) seinen festen Platz im Bayern-Olymp. Für Karl-Heinz Rummenigge dagegen bedeutete die Finalniederlage von 1982 retrospektiv, dass er in gewisser Weise unvollendet bleiben würde. Der höchste Peak eines Bayernspielers seit der Ära Beckenbauer bis hin zur Glanzzeit eines Oliver Kahn sollte ungekrönt bleiben. Und da, wie eingangs erwähnt, unsere Erinnerung derart abhängig von Fixpunkten wie Titelgewinnen ist, bleibt es wahrscheinlich, dass der Spieler Rummenigge früher oder später ein wenig in Vergessenheit geraten wird. Ob er nach dem Karriereende Lewandowskis noch seinen Platz in einer All-Time-XI des FC Bayern München behalten wird?
2. Die Kaderstärke
Natürlich waren die Kader selbst von Top-Teams in den 80er Jahren noch nicht so tief und ausgeglichen besetzt, wie das heute der Fall ist, wo selbst die Reservisten in der Regel Nationalspieler sind, die in anderen gutklassigen Vereinen absolute Stammkräfte wären. Aber bei dem Bayern-Team von 1982 fällt schon ein deutliches Leistungsgefälle innerhalb der Mannschaft auf, stärker als beispielsweise bei dem Team der 70er. Man verfügte zwar mit Breitner und Rummenigge über zwei Spieler von Weltklasseformat, Augenthaler war hochveranlagt und Dieter Hoeneß konnte – entsprechend eingesetzt – mit seiner Statur immerhin eine schwer zu verteidigende Waffe sein. Aber das Gros des Teams entsprach lediglich dem Bundesligadurchschnitt, im Tor noch nicht einmal das: Sowohl Müller als auch Junghans patzten immer wieder während der Saison, waren zu keinem Zeitpunkt ein sicherer Rückhalt. Im Europapokalfinale konnte man nach dem Rückstand von der Bank keinen einzigen Spieler zur Belebung der Offensive bringen, da Pál Csernai sich mit Hoeneß & Mathy von Beginn an für eine offensive Ausrichtung entschieden hatte. Mit Güttler für Mathy wurde ein Nachwuchsspieler für ein anderes Talent aus den eigenen Reihen gebracht, Routinier Niedermayer schließlich brachte außer einem Paar frischer Beine nichts mit, was eine Wende hätte einläuten können. Und da Breitner neben sich im Mittelfeld ohnehin keine anderen Spieler duldete und den hochveranlagten Sigurvinsson, der als Regisseur zwei Jahre später den VfB Stuttgart zum Meistertitel führen sollte, eher als Konkurrenten denn als Mitspieler sah, war auch dieser keine wirkliche Option.
Bayern verfügte nach dem HSV zwar über den zweithöchsten Etat der Bundesliga, aber ohne Breitner und Rummenigge entsprach der Kader keinem internationalen Format. Deshalb mussten Rummenigge (Kreuzbanddehnung Mitte März) und Breitner, wann immer es irgendwie ging, spielen. Zudem wurde auch von Seiten des DFB keinerlei Rücksicht auf die Strapazen der Stars genommen: Ende März ging die Nationalmannschaft mitten in der Saison auf Südamerikareise, spielte in Brasilien und Argentinien. Das erst nach Verlängerung gewonnene Pokalfinale lag mitten in der Saison, wurde nur drei Tage nach dem 30. Spieltag in einer englischen Woche gespielt. Und selbst in der heißen Phase der Saison wollte Jupp Derwall nicht auf Breitner oder Rummenigge verzichten, ließ sie zwischen zwei Spieltagen unter der Woche bei einem Freundschaftsspiel in Norwegen auflaufen, wo Breitner sich auch prompt verletzte. Da in der folgenden Woche noch ein Nachholspiel gegen Werder Bremen anstand, bedeutete dies für den FC Bayern, dass man von März bis zum Europapokalfinale unentwegt alle 3-4 Tage spielen musste, keine Zeit zum Verschnaufen hatte. Das Resultat war, dass die Mannschaft am Ende der Saison ausgelaugt und überspielt war. Man konnte dies nicht nur am Ende des Spiels gegen Aston Villa sehen, auch bei der Weltmeisterschaft in Spanien waren die Folgen dieser strapaziösen Saison bei Breitner und Rummenigge noch zu spüren.
3. Das „Pal-System“
Der Verlauf der Saison und des Finalspiels selbst veranschaulichen, dass es sich bei dem Fußball, den Pál Csernai mit Bayern München spielen ließ, doch mehr um „Heldenfußball“ als um „Systemfußball“ handelte. Dass die Verteidiger ihre Gegenspieler einander übergaben, war sicherlich eine notwendige Modernisierung des Bayernspiels. Und dass Csernai mit der Raumdeckung im Mittelfeld auch den Gegner früher stören ließ, war ein wichtiger Schlüssel zur Dominanz, die Bayern Anfang der 80er ausstrahlen sollte. Es war jedoch kein System, das überindividuell, also ungeachtet des konkreten Personals funktionierte. Man spielte zwar eigentlich auch ohne Breitner im selben System, aber doch einen ganz anderen Fußball. Ohne seine Präsenz und Umtriebigkeit fehlte jenes lenkende Element, das für Balance im Spiel und für die Verbindung der Mannschaftsteile sorgte. Ein solches System aber, das derart von der Form und individuellen Klasse seiner beiden Leistungsträger lebte, sollte deshalb nicht überbewertet werden. Es war ein geeignetes Vehikel für die Qualitäten ihrer Protagonisten, und die Raumdeckung ermöglichte, dass relativ durchschnittliche Spieler im Verbund bisweilen stärker wirkten, als ihr individuelles Vermögen eigentlich erwarten ließ. Dennoch beschreibt der Begriff „Breitnigge“ das Team von 1978-1983 letztlich um einiges treffender als das „Pal-System“.
Von nachhaltigerer Wirkung war im Grunde, dass Csernai erstmals bei Bayern einen echten 6er vor der Abwehr spielen ließ. Damit löste er das Dilemma, mit dem Bayern nach dem Weggang Beckenbauers zu kämpfen hatte. Dieser hatte nämlich all die Jahre die kreativen Defizite, die „Bulle“ Roth für einen zentralen Mittelfeldspieler besaß, kompensiert und seinerseits von dessen Kampfkraft profitieren können. Branko Oblak konnte in der Saison 1977/78 beide nicht annähernd in einer Person ersetzen, Breitner kam diesem enorm hohen Anforderungsprofil 1978/79 zwar schon näher. Aber erst die Installierung eines defensiven Mittelfeldspielers neben ihm gab dem System die nötige Stabilität. Ein 6er neben einem 8er im Zentrum sollte auf Jahrzehnte eine Konstante im Bayernspiel bleiben. Von Nachtweih/Lerby bis Jeremies/Effenberg, von Wouters/Matthäus bis Hargreaves/van Bommel prägte diese unverwechselbare Kombination den Verein.