Spiel des Lebens #02: Vom Pfosten gerettet
Der Artikel wurde geschrieben von Rick.
Konfuse Saison
Das Schicksal wollte es so, dass am zweitletzten Spieltag, dem 22.04.1986, beide Mannschaften in einer solch dramatischen Begegnung gegeneinander antreten würden, dass sie mir auf ewig im Gedächtnis bleiben wird. Deutscher Fußball wurde damals im britischen Fernsehen so gut wie gar nicht übertragen, und dass ich zu der Zeit auch noch in einem Internat im britischen Hinterland zur Schule ging, machte die Sache nicht einfacher. Das einzige, was mir zur Verfügung stand, war ein Langwellenradio mit äußerst dürftigem Empfang.
Vor dem Spiel waren die meisten Experten der Auffassung, dass die ohnehin konfuse Saison der Bayern mit dem Auftritt im ausverkauften Weserstadion endgültig ihr Bewenden haben würde. Bremen hatte im Laufe der Saison zu Hause bis dato nur drei Punkte liegengelassen, während die Bayern auswärts alles andere als sattelfest waren. Und so war die Ausgangssituation noch zu Zeiten der Zweipunkte-Regel so, dass ein Sieg für die Mannschaft von Otto Rehagel alles klar machen und die Bremer vorzeitig ihre erste Meisterschaft einfahren würden.
Auch für die Bayern war das Spiel aufgrund der Tabellenkonstellation ein klassisches alles-oder-nichts-Spiel. Mit einem Sieg würden die Bayern unter Udo Lattek aufgrund ihrer besseren Tordifferenz die Tabellenführung übernehmen, und mit einem Unentschieden würden sie die Meisterschaft immerhin bis zum letzten Spieltag offen halten.
Eine ganz eng umkämpfte Geschichte
Das Spiel hätte kaum dramatischer sein können – nur dass ich damals davon nicht viel mitbekam. Wie gewöhnlich war der Radioempfang wieder einmal grauenhaft. Nur wenige Fetzen des Live-Kommentars schafften es, das immer wieder ohrenbetäubend anschwellende Rauschen des Empfängers zu durchdringen. Verzweifelt versuchte ich durch ständiges Herumspielen an den Knöpfen, den deutschen Kommentar irgendwie doch noch besser reinzubekommen. Und so lief das Spiel vor sich hin, ohne dass ich wirklich genau mitbekam, was eigentlich passierte. Ich musste bis zum Abend warten, bis ich mir endlich das Resultat im Teletext angucken konnte. In den Zeiten vor dem Internet war das das einzige, was ich tun konnte, bis die Zeitungen am nächsten Morgen in unserer Schulbibliothek angeliefert wurden.
In mein Notizbuch schrieb ich später einfach: Werder Bremen 0, Bayern München 0. Dieses Ergebnis reichte aus, damit die Bayern am letzten Spieltag noch eine Chance auf die Meisterschaft haben würden. Was ich in dem Moment noch nicht wusste war, dass Bremen eine Minute vor Schluss noch einen Elfmeter zugesprochen bekommen hatte.
Als ich das erste Mal Bewegtbilder des Spiels zu sehen bekam, war die Saison bereits lange vorbei. Zu dem Zeitpunkt war jegliche Abneigung gegen Bremens Mittelstürmer Rudi Völler längst von dem Wunsch verdrängt worden, dass „Tante Käthe“ und die deutsche Nationalmannschaft die Weltmeisterschaft in Mexiko gewinnen sollten.
Das Spiel in Bremen selber war ein eng umkämpftes Match, das erst zum Ende hin lebendig wurde. Ein Unentschieden schien unausweichlich zu sein, aber um irgendwie doch noch den Durchbruch zu schaffen, brachte Rehagel in der 77. Minute Völler für Mittelfeldmann Norbert Meier.
Völlers Einwechslung war ein bedeutender Moment, sowohl in Bezug auf das Spiel selbst als auch die immer schärfer werdende Rivalität der beiden Titelanwärter insgesamt. Das Spiel war Völlers erstes Wettbewerbsspiel seit November des vergangenen Jahres, als sich beide Mannschaften im Hinspiel im Münchner Olympiastadion gegenüberstanden. In einem hochaufgeladenen Spiel musste der Stürmer seinerzeit nach einem Foul von Klaus Augenthaler in der 28. Minute verletzt das Feld verlassen und für fünf Monate aussetzen.
(Auch das Spiel in München war hochspektakulär. Augenthaler hatte zwar Glück, für das Foul an Völler nur die gelbe Karte zu sehen, aber im weiteren Spielverlauf mussten die Bayern dann doch mit 10 Mann weiterspielen, nachdem Lothar Matthäus vom Platz geschickt worden war. Bremen hatte gute Chancen, aber zwei Tore innerhalb von zwei Minuten von Dieter Hoeneß sicherten den Bayern einen hart erkämpften 3:1-Sieg.)
Ein erprobter Knipser
Der lockenköpfige Stürmer war alles andere als fit, aber Otto Rehagel wollte um jeden Preis einen Showdown am letzten Spieltag vermeiden. Gerade einmal zehn Minuten später schien sich sein mutiger Schachzug schon bezahlt zu machen.
Das Spiel war bereits in der Schlussphase, als Völler zu einem seiner typischen Antritte in Richtung Strafraum ansetzte, auf der Jagd nach dem Ball im Zweikampf mit dem schon ermüdeten Søren Lerby. Als Völler den Ball aufs Tor bringen wollte, stolperte Lerby leicht und bekam den Ball an die Hand. Schiedsrichter Volker Roth zeigte auf den Punkt und gab Handelfmeter.
Heutzutage wäre die ganze Situation vollkommen anders abgelaufen. Der Schiedsrichter wäre von seinen Videoassistenten in Köln kontaktiert worden und der Elfmeter wäre zurückgenommen worden. Alle Wiederholungen aus unterschiedlichen Perspektiven zeigten eindeutig, dass der Ball nicht einmal in der Nähe von Lerbys Hand war, aber sämtliche Proteste der bayerischen Spieler nützten nichts.
Somit war Bremen nur einen Strafstoß vom Titel entfernt. Zum Punkt trat Bremens polnischer Innenverteidiger Michael Kutzop, einer der verlässlichsten Elfmeterschützen der Bundesliga, vielleicht genauso zuverlässig wie sein Landsmann Robert Lewandowski heute, wenn nicht gar noch sicherer.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Kutzop bereits 40 Strafstöße getreten und keinen einzigen davon verschossen. Man hätte also ruhigen Gewissens sein Haus und Hof darauf verwetten können, dass der blonde Verteidiger Bayerns Schlussmann im Tor, Jean-Marie Pfaff, auch bei seinem 41. Versuch keine Chance lassen würde.
Die Kameraleute und Journalisten versammelten sich hinter dem Münchner Tor und sogar die Polizei stellte sich einsatzbereit vor der Tribüne auf, als Kutzop sich auf seinen Weg zum Punkt machte und unterwegs noch einige Worte mit Michael Rummenigge austauschte. Der Elfmeter war nahezu perfekt getreten. Kutzop lief von der Strafraumkante aus an und trat den Ball mit viel Wucht in die rechte Ecke des Tors.
Pfaff blieb wie angewurzelt stehen und konnte nur noch zusehen wie der Ball an ihm vorbei an den rechten Außenpfosten und dann über die Linie zum Torabstoß flog.
Bremen war wortwörtlich nur einige Zentimeter Aluminium von der Meisterschaft entfernt. 40 Elfmeter hatte Kutzop zuvor in seiner 11-jährigen Karriere in Folge getreten, nie hatte er verschossen. Und auch danach sollte er bis zu seinem Karriereende im Jahr 1990 keinen weiteren Elfmeter mehr vergeben. Aber dieser eine ging daneben.
Bayern schnappt sich den Titel
Durch das Unentschieden gingen die Bremer mit zwei Punkten Vorsprung als leichter Favorit auf die Meisterschaft in den letzten Spieltag. Die Bayern empfingen den Tabellenvierten Mönchengladbach zu Hause, während die Bremer auswärts beim fünftplatzierten Stuttgart antreten mussten, die sie im Hinspiel 6:0 abgefertigt hatten. Für die Meisterschaft mussten die Bayern also gewinnen und Bremen zeitgleich verlieren, für Bremen reichte ein Unentschieden.
Schon zur Halbzeit lief alles in Richtung der Bayern. Nach Toren von Lothar Matthäus in der ersten Minute und Dieter Hoeneß in der 25. Minute lagen sie zur Pause 2:0 im Olympiastadion vorne, während Karl Allgöwer ungefähr 200 Kilometer weiter westlich im Neckarstadion die Heimmannschaft durch ein Tor in der 22. Minute in Führung gebracht hatte. Zur Halbzeit waren die Bayern somit Dank ihrer besseren Tordifferenz auf den ersten Tabellenplatz gerutscht.
In der zweiten Hälfte sollte es noch besser kommen. Frenetisch angefeuert von 70.000 lautstarken Fans erzielten die Bayern noch vier weitere Tore ohne hinten eines zuzulassen und gewannen das Spiel 6:0. Währendessen hatte Allgöwer das zweite Tor für Stuttgart erzielt, bevor Manfred Burgsmüller 11 Minuten vor Spielende den Anschlusstreffer für Bremen erzielen konnte. In einer dramatischen Schlussphase schafften es die Bremer allerdings nicht mehr, noch den Ausgleichstreffer zu erzielen und sich damit den Titel zu schnappen – oder vielleicht eher zurückzuschnappen.
Werder Bremen hatte also verzagt, als es wirklich darauf ankam, und die Bayern – wie ein Galopprennpferd auf der Innenbahn auf der Zielgeraden – hatten sich ihr Rennen perfekt eingeteilt und waren am Ende im Ziel eine Nasenspitze voraus. Nachdem sie die ganze Saison hinter den Bremern hergelaufen waren, schafften sie es, der Mannschaft von der Weser noch in der letzten Sekunde die Meisterschale zu entreißen, was die ohnehin schon aufgeflammte Rivalität zwischen beiden Vereinen weiter anfeuerte.
Die Bedeutung des Spiels
Betrachtet man nur das Resultat, deutet ein torloses Unentschieden auf den ersten Blick nicht auf ein besonders erinnerungswürdiges Spiel hin. Und tatsächlich war das Spiel fußballerisch größtenteils zum Vergessen. Aber seine besondere Würze lag in seinen zahlreichen kleinen Schicksalsmomenten und seinem dramatischen Finale. Der umstrittene Elfmeter, das Drama vor der Ausführung, und dann der Moment, als der Ball haarscharf am rechten Pfosten vorbeischrammte und Bayerns Titelhoffnungen am Leben erhielt.
Als ich damals Bayern-Fan wurde, war der HSV der größte Widersacher der Bayern. Während meine Verbundenheit zum FC Bayern in den folgenden Jahren immer stärker wurde, wurde diese Rolle sukzessive von Werder Bremen übernommen. Der FC Bayern und der HSV hatten viele Gemeinsamkeiten, beide waren große Clubs mit langer Tradition, aber die Bremer waren ein verhältnismäßiger Emporkömmling.
Ihr Trainer war der unorthodoxe und etwas eigenwillige Otto Rehagel. Bremen wurde vor allem von denen gefeiert, die man heutzutage vielleicht als „Fußball-Hipster“ bezeichnen würde. Der Club war der ewige Underdog, ein Haufen unterschätzter Fußballarbeiter, nach außen definiert vor allem über ihren kampfeslustigen Manager Willi Lemke, der das Yin zu Uli Hoeneß‘ Yang bildete.
Im Laufe der Jahre hatte ich eine leidenschaftliche Abneigung für die „Fischköpfe“ von der Weser entwickelt, die ihren Kristallisationspunkt im Nachgang der Saison 1985/86 erreichte. Viele Bayern-Fans werden den Titel 2000/01 als ihr persönliches Meisterschafts-Highlight in Erinnerung haben, aber mir wird niemals etwas eindrücklicher in Erinnerung bleiben als der haarscharfe Triumph über die Bremer 15 Jahre zuvor.
Egal ob gegen den HSV, Dortmund, oder momentan Leipzig, nichts verschafft mir ein befriedigenderes emotionales Hochgefühl als ein Sieg gegen die Grün-Weißen. Rational betrachtet ist das nur schwierig zu erklären, aber, hey, genau darum geht es doch im Fußball.