Eine vollkommene Halbzeit?
Als an diesem Abend im Römer Olympiastadion der Abpfiff ertönte, wussten nicht nur die 22 Akteure auf dem Rasen und die 70.000 Zuschauer auf den Rängen, dass sie gerade Teil etwas Größeren waren. Sogar die sonst stets nüchtern analysierenden Kollegen von Spielverlagerung ziehen bei ihrer Analyse Parallelen zum Kantersieg der deutschen Nationalmannschaft gegen Brasilien bei der Weltmeisterschaft drei Monate zuvor.
Im Re-Live
Fünf Jahre später, entscheide ich mich eben jene Partie nochmals anzuschauen. Besser gesagt, die ersten 35 Minuten. Denn dann steht es schon 5:0 für die entfesselten Roten. Fünf Jahre sind eine lange Zeit und dementsprechend sind die Details in meiner Erinnerung ausgeblichen. Ich freue mich auf ein Pep-Feuerwerk – und werde erst einmal überrascht.
Die fünf Tore der Münchner fallen, in chronologischer Reihenfolge, durch: eine Einzelaktion von Robben, einen Fernschuss von Götze, eine Flanke von Bernat, die Lewandowski einköpfte, eine tolle Kombination von Lewandowski und Robben, sowie einen Elfmeter von Müller.
Was im ersten Moment nicht nach entfesseltem Offensivfußball a la Pep klingt, zeigt auf dem zweiten Blick die Genialität des Katalanen. Hierbei sind vier Aspekte besonders wichtig, auf die ich gezielt eingehen will: Flexibilität, Vorbereitung, In-Game-Coaching und die Fähigkeit, seine besten Spieler bestmöglich einzusetzen.
Flexible zweite Saison
In seiner ersten Saison beim deutschen Rekordmeister war Guardiola geradezu vorsichtig. Er wollte seine Mannschaft wohl nicht überfordern. Deshalb setzte er fast ausschließlich auf ein 4-1-4-1-System. Doch zu seiner zweiten Saison wurde er mutiger und experimentierfreudig. Mit Xabi Alonso hatte er einen Spieler für die Zentrale erhalten, der als Quarterback und ruhender Pol im Spiel fungieren konnte.
Die Formation alleine sagt oft nicht viel aus und dennoch: Laut transfermarkt spielte Guardiola in den ersten zwölf Saisonspielen bis zu diesem denkwürdigen Abend in Rom mit insgesamt sieben verschiedenen Grundformationen. Insgesamt setzt er in seinen drei Jahren auf 23 Module, wie Guardiola die Spielformationen nennt. Der Gegner wusste nicht, worauf er sich einstellen sollte. Pep wusste aber genau, worauf er seine Mannschaft einstellen musste. Ein entscheidender Vorteil.
Gegen Rom lässt er mit einer Dreierkette spielen – nicht das erste Mal in dieser Saison. Aber die Dreierkette an diesem Abend ist besonders. Alaba kommt als Halbraumlibero eine besondere Rolle zu. Immer wieder wird er, von Alonso abgesichert, nach vorne rücken und die linke Seite überladen. Dadurch, dass auch Götze und Müller tendenziell nach links ziehen und die Römer sehr ballorientiert verschieben, verwaist die rechte Seite. Dort warten Robben und Lahm, um diese Lücken auszunutzen.
„Rechts bleiben nur Lahm und Robben, sodass es den Anschein hat, dass wir dort nicht gefährlich werden können. Aber genau das werden wir sein! Ihr zieht alle nach links und brecht dann rechts durch. Dieses Loch werden sie nicht gestopft kriegen.“Pep Guardiola, in der Vorbereitung auf das Spiel gegen die Roma
Die Rolle des Wingbacks, die Robben in diesem Spiel einnimmt, erfordert ein enormes Pensum. Der Niederländer kann diese Rolle auch nur spielen, weil Lahm ihn situativ und “lahmesk” (Zitat Rene Marić) absichert und zum anderen die Roma, laut Guardiola, nur über Gervinho auf deren rechter Seite gefährlich wird. Dort soll Alaba die Wege des Ivorers stören.
Akribische Vorbereitung
In der Analyse direkt nach dem Spiel schrieb René Marić für Spielverlagerung über Peps Geniestreich:
“Peps taktischen und strategischen Ideen, welche diesen Sieg eingebracht haben und zu den Meisterwerken seiner Gegnervorbereitung als Bayerntrainer bislang gehören” Rene Marić, nach dem Spiel für Spielverlagerung.de
Fünf Jahre später haben wir den Luxus dank des Buchs “Pep Guardiola: Das Deutschland-Tagebuch” von Martí Perarnau einen Einblick in den Kopf des Erfolgstrainers zu bekommen. Perarnau schreibt über die Reise von Guardiola zwei Wochen zuvor zum italienischen Spitzenspiel der Roma gegen Juventus als erster Grundstein in der Erstellung seines Masterplans.
Er tüftelt eine Strategie aus, um die Italiener zu besiegen. In den Tagen vor dem Spiel weiht er seine Spieler ein. Perarnau schreibt:
“Pep war klar, wie Rom spielen würde, also war ihm auch klar wie er selbst spielen wollte.”Martí Perarnau, über Guardiola
Das Pressing von Totti gegen den spielgestaltenden Sechser – im bayerischen Spiel Xabi Alonso – hatte Pep als Schwäche auserkoren. Der gealterte italienische Stürmerstar ließ regelmäßig nach zehn Minuten an Intensität nach. Pep wollte dies ausnutzen, indem Xabi genau dann in die Dreierkette zurückfallen sollte. Alaba sollte dann aus der Dreierkette situativ ins Mittelfeld rücken und Lahm den Spielaufbau übernehmen. Dazu zeigte er seinen Spielern entsprechende Szenen im Video und ließ Passmuster akribisch einstudieren.
Ein weiterer Punkt seines Plans war es, mit drei häufig wechselnden Stürmern (Götze, Müller und Lewandowski) zu agieren und damit die Römer Hintermannschaft zu verwirren. “Wirbelt so viel herum, dass sie nicht wissen, wen sie decken sollen“, sagte Guardiola in der Kabine.
Garniert wurde das ganze durch ein wahres Pressingfeuerwerk. “Lasst ihnen keine Zeit zum atmen.” Was eher nach Jürgen Klopp klingt, legt Perarnau aber Guardiola in den Mund. Auf dem Platz sah man den Roma-Spielern regelrecht die Verzweiflung in den Augen an.
Ständiger Verbesserer
Das Spiel beginnt und überraschenderweise presst Totti aber überhaupt nicht Alonso. Der initiale Plan von Guardiola, oder besser gesagt ein Teil des Plans, ist hinfällig. Dieser ausbleibende Druck im Zentrum macht es für die Münchner aber nur umso einfacher. Dennoch zieht Pep bereits nach einer Minute Robben zu sich an die Seitenlinie, um ihm erste kleine Anpassungen zu geben. Nach zwei Minuten sieht man im TV-Bild, wie Lahm bei seinem Trainer steht. Als das 1:0 fällt und die Kamera zu Guardiola schneidet, diskutiert dieser mit Neuer. Und nach dem 2:0 sieht Müller von der Außenlinie zurück aufs Spielfeld zu laufen.
Es zeichnet den Katalanen aus, als Perfektionist auch während des Spiels seinen Spielern kleine Anweisungen und Hinweise zu geben. Oft sind es wohl auch einfach Erinnerungen an Muster, die zuvor im Training einstudiert wurden, wie Perarnau schreibt.
Auch in der zweiten Hälfte, beim Stand von 5:0 wohlgemerkt, reagiert Guardiola noch zweimal. Während er zuerst die Abstimmung zwischen Alaba und Alonso anpasst und Benatia fast an der Seitenlinie positioniert, wechselt er später mit Rafinha zu einer Viererkette. Die Dominanz der Bayern sollte nicht gebrochen werden. Er wollte an diesem Abend nicht die kleinste Chance eines Einbruches riskieren.
Das System der besten Spieler
In Barcelona hatte Guardiola mit Lionel Messi den vielleicht besten Fußballer der Geschichte in dessen besten Jahren. Das System war auf den Argentinier zugeschnitten. In München fehlte dieser alles überragende Spieler. Daher war die große Aufgabe für Guardiola, seinen besten Spielern alle Möglichkeiten zu geben, um sich in die bestmögliche Position zu bringen, wo sie Erfolg haben könnten.
Auch hierfür ist das Spiel gegen die Roma ein perfektes Beispiel. Wie setzt man Arjen Robben am besten ein? Man schafft ihm Freiräume, in denen er agieren kann. Die Taktik, die rechte Seite immer wieder freizuräumen, spielte Robben in die Karten. Beim 1:0 ist er im Eins-gegen-eins mit Cole und beim 4:0 kann er dem Engländer ebenfalls enteilen. Der Niederländer wird nicht gedoppelt, weil es der Plan von Guardiola schlicht nicht zulässt. In anderen Spielen zog Guardiola Robben immer wieder nach innen, um seine Torgefährlichkeit noch stärker auszuspielen.
Auch Götze und Müller sind im Olympiastadion der Roma nahezu ideal eingesetzt. Beide blühen im System auf, weil es ihnen die notwendigen Freiräume gibt. Beide konnten durch Läufe in den Zwischenlinien Gegenspieler binden und Räume aufreißen, die dann von Lewandowski und Bernat bespielt wurden. Beim 2:0 ist es das Zusammenspiel der beiden, das die Römer Hintermannschaft in ihre Einzelteile zerfallen ließ. Plötzliche Tempoverschärfungen, abgestimmte Laufwege und die Übersicht der Spieler – an diesem Abend konnte man dies alles in Perfektion beobachten. Es ist einer der Peaks von Götze im Münchner Dress.
Abschließender Rückblick
Im Jahr 2020 schaue ich auf diese Partie zurück und sehe eine Mannschaft, die nahezu perfekt den Plan ihres Trainers durchzieht. Ein Plan, der akribisch erarbeitet ist und dann minutiös angepasst wird. Es ist im Oktober 2014 bereits einer der Höhepunkte der Guardiola-Ära in München. Und während der ganz große Wurf dem Katalanen verwehrt blieb, so bleibt zumindest sein Erbe in Form solcher grandioser Spiele zurück.
Ein anderer Abend, an den man zwangsläufig zurück denkt, geschieht bereits ein Jahr zuvor. Im Oktober 2014 dominieren Guardiolas Bayern Manchester City im Etihad nach Belieben. Es ist eine der drückendsten Machtdemonstrationen der Roten in jüngerer Erinnerung. An einem Punkt bleibt Manchester für über drei Minuten ohne Ballkontakt.
Ein weiteres Mal soll den Bayern eine solche, nahezu fehlerfreie Leistung im Halbfinal-Rückspiel der UEFA Champions League im Jahr 2016 gelingen. Mit Atlético Madrid wird man die damals wohl beste Defensivmannschaft der Welt in Grund und Boden spielen, es aber verpassen, die notwendige Anzahl an Toren zu erzielen – bei 35 Torschüssen. Der beeindruckende 2:1-Sieg wird nicht reichen.
So wie das City-Spiel als totale Dominanz durch endlose Passstafetten oder das Ausscheiden gegen Atlético als Torschuss-Festival in Erinnerung bleibt, so ist die Partie gegen die Roma das Musterbeispiel für überfallartige Angriffe, die dem Gegner keine Chance zur Reaktion lassen.