Spieler der Saison: Thiago Alcántara

Maurice Trenner 20.06.2017

Die ersten Zweifler meldeten sich noch während Pep Guardiola gerade seinen Abschied vom FC Bayern verkündete. Würde Thiago, seines Zeichens der Wunschspieler und vielleicht der einzige Guardiola-Transfer der Münchner, die Bayern verlassen und seinem Lehrmeister nach Manchester folgen? Immerhin schienen den mittlerweile 26-jährigen Spanier und den katalanischen Taktik-Meister ein unsichtbares Band zu verbinden. Eines, das spätestens seit Guardiolas legendärer „Thiago oder nix“-Pressekonferenz, unzertrennbar erschien.

Doch entgegen der Spekulationen der Medien blieb der quirlige Mittelfeldspieler in München, fest entschlossen es all jenen zu zeigen, die ihn nur in Guardiolas großem Schatten glänzen sahen.

Thiago ist das neue System

Mit der Verpflichtung von Carlo Ancelotti hatte sich der FC Bayern gegen einen reinen Taktik-Trainer entschieden. Nachdem einige Spieler die Nestwärme unter Guardiola vermisst hatten, der Katalane war all zu oft kühl und akribisch vorgegangen, sollte es unter dem Italiener wieder menscheln an der Säbener Straße.

Taktisch war in der ersten Saison unter Ancelotti einiges beim Alten und doch nahezu alles neu. Der Maestro brachte ein 4-3-3-System mit nach München in das er über die ganze Saison versuchte den Raumdeuter und Freigeist Thomas Müller zu etablieren.

Das extreme Positionsspiel, das unter Guardiola noch die Wirbelsäule des Bayern-Spiels darstellte, wurde aufgelöst. Immer häufiger genehmigte sich der Rekordmeister auch seine Pausen im Aufbauspiel und zog sich selbst gegen Bundesliga-Mannschaften zurück, um dann in einem nicht perfekt geordneten Pressing auf den Ballgewinn zu drängen.

Die gesamte Saison sollte stark geprägt sein von Momenten individueller Klasse. Anstatt die Spieler durch ein taktisches Korsett zu festigen und zu unterstützen, ließ Ancelotti jedem Spieler auf dem Platz mehr Freiheiten. Thiago etablierte sich hier als ordnende Hand im Mittelfeld, die das Spiel immer an sich riss.

Nach drei Saisons, in denen Thiago immer wieder von schwereren Verletzungen zurück geworfen wurde und somit nie sein gesamtes Potential ausschöpfen konnte, blieb Alcántara in der vergangenen Spielzeit endlich ohne größere Verletzungssorgen. Somit konnte er auch erstmals mehr als 2.000 Bundesliga-Minuten absolvieren. Insgesamt standen am Ende wettbewerbsübergreifend 41 Partien zu Buche.

Überall im Mittelfeld zuhause

Der Spanier begleitete während der Saison jede Position im Mittelfeld-Dreieck. Gegen Leipzig glänzte er im Dezember als Zehner und Thomas Müller-Ersatz und wenn Alonso geschont wurde, konnte Thiago den Sechser-Posten vor der Abwehr mit Bravour besetzen. Seine meisten Einsätze bestritt er jedoch als Achter vor Alonso und neben Vidal.

Gegen RB Leipzig zeigte Thiago vielleicht seine stärkste Partie der Saison.
(Foto: Christof Stache/AFP/Getty Images)
Auf der Achter-Position kommen alle Talente des jungen Spaniers zu gelten. Würde man versuchen den perfekten Zentralen Mittelfeld-Spieler zusammen zustellen, man würde am Ende nahe an dem Gewächs der Talentschmiede „La Masia“ enden.

Der nur 1,74 m große Thiago verfügt – wie übrigens viele Jugendspieler aus Barcas Talentakademie – über einen tiefen Körperschwerpunkt, der es ihm ermöglicht sich schnell um die eigene Achse zu drehen. Seine blitzartigen Körpertäuschungen direkt nach der Ballannahme verbunden mit einer quicken Drehung, haben in der vergangen Saison einige Bundesliga-Gegner ins Leere laufen lassen.

Hier kommt Bayerns Nummer Sechs auch sein überragendes Gespür für sich öffnende Räume zu gute. Bei den meisten seiner Drehungen, bei denen ihm der Ball nie weiter als eine Haaresbreite vom Fuß weicht, hat er danach ein freies Feld vor sich.

Und dieses freie Feld verstehen nur wenige Spieler so zu nutzen, wie es der Spanier versteht. In der abgelaufenen Bundesliga-Saison spielte Thiago im Schnitt 1,8 Key Pässe pro Spiel, also Pässe aus denen sich eine direkte Torchance ergab. Doch er versteht es auch die gegnerische Verteidigung durch ein Dribbling erstmal auf sich zu ziehen und erst im letzten Moment auf den freiwerdenden Mitspieler abzulegen.

Hierbei kommt ihm sein überragendes Passspiel zugute. Der 26-jährige spielte ligaweit die meisten Pässe – nämlich 95 Pässe pro Spiel. Zweiter in dieser Statistik ist Javi Martinez mit „nur“ 78 Pässen pro Spiel. Zudem ist Bayerns Mittelfeldmotor auch extrem passsicher, kamen doch 90,2% seiner Bälle an den Mitspieler. Dies ist immerhin ein Top-5-Wert in der Bundesliga. Weiterhin spielte der geborene Italiener die meisten langen Bälle aller Feldspieler.

Eine Waffe gegen den Ball

Bereits mehrfach wurde hier im Blog zudem Thiagos überragendes Spiel gegen den Ball erwähnt. Zusammen mit Vidal bildete er eines der gefährlichsten Mittelfeld-Duos bei gegnerischem Ballbesitz. Nicht umsonst hatte der Spanier mit 4,6 abgefangen Bällen pro Spiel die meisten Interceptions in allen fünf europäischen Top-Ligen.

Auch hier überzeugte er immer wieder mit seinem Timing. Er schien geradezu zu wissen, wann sein Gegenspieler den Ball eben jenen Zentimeter zu weit vom Fuß prallen ließ, um diesen dann mit einer flinken Bewegung von jenem zu stehlen.

Im Kampf gegen den Ball ist Thiago zu Unrecht noch immer unterschätzt.
(Foto: Matthias Hangst/Bongarts/Getty Images)
Die Allrounder-Qualitäten von Thiago sind somit nicht nur für den Zuschauer offensichtlich sondern auch statistisch belegbar. Zu seinen Top-Werten für einen Mittelfeldspieler kommen auch noch Karriere-Bestwerte in erzielten Liga-Toren – nämlich sechs und damit mehr als in allen bisherigen Bayern-Spielzeiten zusammen – und Assists.

Highlights im März

Ein wahres Feuerwerk an überragenden Spielen zündete Thiago im Frühjahr diesen Jahres. Eingeläutet mit seinem Doppelpack im Achtelfinal-Hinspiel gegen Arsenal Mitte Februar, startete der Mittelfeld-Dirigent im März voll durch.

Alleine in den drei Bundesliga-Spielen gegen Köln, Frankfurt und Gladbach spielte er zehn Key Pässe, absolvierte 9 erfolgreiche Dribblings und gewann 28 Bälle vom Gegner.

In diesem Monat verfeinerte Thiago auch seine neuste Waffe aus seinem scheinbar unerschöpflichen Arsenal: den gepflegten Chip über die gegnerische Defensiv-Reihe. So gesehen gegen Gladbach und unzählbare weitere Male in der abgelaufenen Saison.

Ein spritziger Antritt, ein Lauf parallel zur Sechzehner-Kante, ein kurzer Blick in Richtung potentiell freier Mitspieler und dann nur ein leichtes Abkippen des Fußgelenks. Dieser Pass filetiert jede Abwehr, egal wie kompakt sie auch stehen mag. Als Lewandowski sich zuletzt in der polnischen Presse über mangelnde Unterstützung seiner Mitspieler beschwert hat, kann er Thiago nicht gemeint haben.

Die Luft nach oben

Der Spanier wusste also die ganze Saison zu begeistern. Oft war er der einzige Grund sich die manchmal tristen Spiele der Bayern anzuschauen – was würde Thiago heute wieder zeigen? Dass dennoch Luft nach oben ist, zeigte er dann ausgerechnet in den wichtigsten Spielen der Saison.

In den Vorjahren war Thiago häufig als Spieler für die große Bühne abgestempelt worden. Einer der gegen Arsenal glänzen kann, aber an einem regnerischen Nachmittag in Ingolstadt etwas Mut und Muße vermissen ließ.

In den wichtigsten Spielen der Saison war Thiago nicht auf dem Höhepunkt.
(Foto: Alexander Hassenstein/Bongarts/Getty Images)
Und während der 26-jährige in dieser Saison seine Leistungen in der Bundesliga um ein vielfaches verbesserte, so verschwand er doch im Viertelfinale gegen Real Madrid. Das starke zentrale Mittelfeld der Madrilenen um Modric und Kroos ließ Thiago nur wenige Freiräume, um seine Kreativität zu entfalten.

Speziell im Hinspiel, nachdem Martinez mit gelb-rot des Platzes verwiesen wurde, war Thiago überfordert. Er alleine konnte gegen das Weltklasse-Duo Modric und Kroos nicht das Heft übernehmen. Er alleine musste mit zusehen, wie das Spiel an ihm vorbei lief und Real ultimativ mit 2:1 gewann.

Doch das wird nicht das Ende des Weges von Thiago bei den Bayern sein, vielmehr ist es der Anfang. Nach dem Karriereende von Alonso wird es mehr denn je sein Job sein die Kontrolle über das Bayern-Mittelfeld zu übernehmen und den Ausgleichspol für Vidal zu geben.

Die Motivation von Thiago ins Bernabeau zurückzukehren und sich zu beweisen, dürfte groß sein. Erst nach dem Comeback-Sieg gegen Leipzig postete er auf seinem Social-Media ein Bild mit der Unterschrift „It’s not over until we say it’s over“. Und um bei diesem Motto zu bleiben: Thiago und der FC Bayern – it’s not over yet.