Kommentar: Der FC Bayern braucht jetzt Ruhe und Geduld – und keine Nagelsmann-Entlassung
Am Freitag habe ich meinen Twitter-Account deaktiviert. Nicht für immer, aber für eine unbestimmte Zeit. Neben etlichen persönlichen Gründen, die für diesen Kommentar irrelevant sind, hatte das auch einen speziellen, der mich zu meinem heutigen Thema führen wird. Kaum eine Analyse, kaum ein Kommentar, kaum ein Beitrag, der dort aktuell zum FC Bayern München gepostet wird, hat eine Haltbarkeit von mehr als ein, maximal zwei Wochen.
Ich nehme mich da explizit nicht heraus. Auch Tweets oder Analysen von mir hatten ihre Höhen und Tiefen, waren mal länger und mal kürzer haltbar. Das wird in der Zukunft so sein und das ist insgesamt vollkommen legitim, menschlich und in Ordnung.
Was ich allerdings auf Twitter zu vielen Themen regelmäßig beobachte, ist ein sich gegenseitiges Hereinsteigern in eine Art negativen Strudel. Je mehr Tweets ich in den vergangenen Tagen gelesen habe, desto mieser wurde auch die allgemeine Bewertung.
FC Bayern: Julian Nagelsmann – erst gefeiert, jetzt in der Kritik
Konkret möchte ich auf die Geschehnisse rund um Julian Nagelsmann eingehen. Nach den ersten Partien für die neue Dynamik des Teams verehrt und gefeiert, ist er innerhalb weniger Wochen an einem Punkt angekommen, an dem diskutiert wird, ob der FC Bayern München ihn entlassen sollte.
Was ist passiert? Der Rekordmeister hat erstmals seit 2001 vier Bundesliga-Spiele am Stück nicht gewonnen. Drei Unentschieden und jetzt die Niederlage in Augsburg. Die Entwicklung des Narrativs rund um diese Einzelleistungen war spannend zu beobachten. Erst waren die Leistungen noch in Ordnung, dann war das meiste davon schlecht.
Ergebnisse dominieren die Bewertung. Wer zu viel über die vier Partien liest, wird schnell den Eindruck bekommen, dass die Bayern jeweils stets unterlegen waren. Rein statistisch betrachtet gab es aber in jedem dieser Spiele ausreichend Gelegenheiten, siegreich vom Platz zu gehen.
Julian Nagelsmann: Entwicklungen verschwinden hinter Ergebnissen
Das bedeutet nicht, dass die Münchner in jeder dieser Begegnungen gut waren. Das trifft allenfalls für das Spiel gegen Gladbach und die meisten Phasen gegen Union zu. Gleichwohl gab es auch gegen Stuttgart und Augsburg genügend Anschauungsmaterial dafür, dass die Bayern das Fußballspielen nicht verlernt haben. 92 Abschlüsse, elf Großchancen – aber nur vier Tore. Dass die Münchner sich so viele Chancen erspielen, ist grundsätzlich ein gutes Zeichen. Zumal sie sogar in den allermeisten Phasen recht wenig zugelassen haben.
Auch wenn diese Bewertung angesichts der harschen Kritik absurd wirkt: Taktisch sind die Bayern nach wie vor mindestens gut eingestellt. Die absurde Wirkung entsteht aus dem Eindruck der Niederlage – und ein Unentschieden wird in München als solche gewertet. Drei sowieso. Was aber besonders auffällig ist, ist die fehlende Präzision, die teils unerklärlichen Fehlpässe über wenige Meter. Ursachenforschung fällt da schwer. Es scheint vor allem ein mentales Problem zu sein.
Dass Julian Nagelsmann jetzt derart in der Kritik steht, hat maßgeblich drei Gründe: Erstens wurde im Sommer viel Geld ausgegeben. Zweitens hat der Saisonstart Erwartungen geweckt, die viel zu hoch angesetzt waren. Drittens vernebeln die Ergebnisse einige Sinne. Der simpelste Beleg dafür sind Noten. Nur selten kommt es vor, dass bei den Bayern eine gute Bewertung dabei ist, wenn sie keinen Sieg einfahren. Und wenn doch, dann muss schon eine sehr offensichtliche Leistung vorliegen.
Die Logik ist, dass (ein Top-Team) automatisch schwach gewesen sein muss, wenn es nicht gewinnt. Unterbewusst wird dieser Logik wahrscheinlich häufiger gefolgt, als den Notengeber:innen lieb ist.
Kritik an Julian Nagelsmann ist berechtigt, aber …
Und so kann Nagelsmann beispielsweise, würde er eine Note bekommen, für die letzten Wochen maximal eine Fünf oder Sechs erhalten. Aber ist das wirklich fair?
Es gibt sicher viele Dinge, die man zu Recht kritisieren kann, darf, vielleicht muss. Warum wechselte er das funktionierende 4-2-2-2-System zurück auf ein 4-2-3-1? Warum spielen einige Spieler plötzlich in anderen Rollen? Oder warum wirkt das Team nach einem überragenden Saisonstart so verunsichert? Auch das Teammanagement wirft einige Fragen auf. Das betrifft vor allem die Wechsel, die teilweise mit Ansage verpufften. Es ist richtig, den Trainer in die Verantwortung zu nehmen, wenn Erfolge ausbleiben.
Solche Themen bestimmen aber selten das Meinungsbild. Stattdessen droht ein Trainer verdächtig oft die Kabine zu verlieren, wenn es mal ein paar Wochen lang schlecht läuft. Auf einmal werden auch Dinge aus dem Privatleben thematisiert, die zuvor überhaupt keine Rolle gespielt haben. Einige Aspekte, die vorher positiv waren (Kommunikation), sollen nun sehr negativ sein. Alles dreht sich in wenigen Tagen, teilweise Stunden. Es ist vorstellbar, dass es innerhalb eines derart riesigen Klubs mindestens einen Menschen gibt, der unzufrieden und bereit dazu ist, sich dazu zu äußern sowie die eine oder andere Information durchzustecken.
Auch innerhalb des Kaders ist es nicht unwahrscheinlich, dass der eine oder andere Spieler mit seiner aktuellen Rolle unzufrieden ist. Stimmen die Ergebnisse nicht, ist das die Chance, sich zu positionieren und das zum Thema zu machen – intern, manchmal aber auch durch den anonymen Weg an die Öffentlichkeit. Oft genug erlebt, oft genug gesehen.
Julian Nagelsmann: Schrödingers Kabine
Nagelsmann ist Trainer des FC Bayern München. Er muss damit umgehen können. Gleichzeitig sollte nicht alles, was derzeit über die Kabine des Rekordmeisters geschrieben, gesagt oder spekuliert wird, Wort für Wort als Fakt hergenommen werden, um gegen den Trainer zu argumentieren.
Noch nach dem Barcelona-Spiel sagte Leon Goretzka bei Amazon Prime, dass es ihn geärgert habe, wie viel derzeit rund um die Stimmung im Kader „konstruiert“ werde. Auch Goretzka hat Interessen, die im besten Fall natürlich deckungsgleich mit dem FC Bayern sind. Ihm könnte man genauso unterstellen, dass er das sagen muss, um das Thema öffentlich zu beenden. Solange es diese beiden Positionen aber gibt, handelt es sich hier um Schrödingers Kabine – sowohl tot als auch lebendig.
Die Stimmung beim FC Bayern wird selbstredend alles andere als gut sein. Aber ein Team, das dem Trainer nicht mehr folgt, spielt anders als die Bayern in Augsburg oder davor. Den Spielern ist anzumerken, dass sie die Spiele gewinnen wollen und dass sie füreinander arbeiten. Woran es genau liegt, lässt sich aber wahrscheinlich selbst dann nur schwer beantworten, wenn man Teil des Teams ist. Und das macht die Situation so kompliziert und gleichzeitig so einfach.
Julian Nagelsmann steht nicht vorm Tor
Dem Team ist nämlich die Verunsicherung anzumerken. Chancen hat der Serienmeister sich ausreichend erspielt. Nagelsmann hat wenig Einfluss darauf, ob seine Spieler diese Möglichkeiten nutzen. Einfache Fehlpässe über wenige Meter stehen ebenfalls auf der Liste der Dinge, die vor allem die Spieler beeinflussen können und müssen.
Aber Nagelsmann ist es, der nun überlegen muss, wie er die Spieler wieder aus diesem Loch bekommt und warum ein gewisser Flow verloren gegangen ist. Vielleicht ist das Thema vor allem ein mentales. Je mehr negative Erlebnisse sich anhäufen, desto weniger glauben die Spieler an sich selbst. Davor ist auch der große FC Bayern mit seinem Mia-san-mia-Selbstverständnis nicht gefeit. Solche Situationen gab es selbst in den erfolgreichsten Zeiten schon – und das bei jedem Klub.
„Alarmierend“, „besorgniserregend“, „nicht Bayern-like“ – die Beschreibungen der letzten Leistungen kennen keine Grenzen. Im Kosmos des FC Bayern eine normale Begebenheit, aber eben auch ganz oft an der nüchternen Realität vorbei.
Pause tut dem FC Bayern gut
Es ist gut für Nagelsmann und die Bayern, dass jetzt Länderspielpause ist. Zeit zum Reflektieren, Zeit zur Aufarbeitung – ganz ohne die Schnelllebigkeit des Alltags. Und es ist gut, dass der FC Bayern ihm diese Zeit gibt. Denn es wäre purer Aktionismus, Nagelsmann jetzt zu entlassen oder ihn unter Druck zu setzen. Dafür ist zu wenig passiert.
Der Saisonstart hat dem FC Bayern eher geschadet. Denn er hat suggeriert, dass der Wechsel von einem System mit Robert Lewandowski hin zu einem System ohne ihn sofort funktionieren würde und das Team sogar auf Anhieb besser sei.
Dass diese These sich nicht lange halten würde, war absehbar. Einen solchen Spieler zu verlieren, bedeutet, dass sich in der Offensive alles verändert. Und Veränderung bedeutet, dass es einen Prozess braucht. Prozesse beinhalten Fehler und Fehler kosten Zeit. Zeit, die dem FC Bayern für gewöhnlich fehlt.
Aber Zeit, die man von Anfang an einplanen musste – unabhängig davon, wie die ersten Spiele verliefen. Es geht nicht darum, sofort ohne Lewandowski zu funktionieren, sondern mittel- bis langfristig etwas aufzubauen, das mindestens genauso erfolgreich ist. Diese Herangehensweise gilt übrigens auch für die Neuzugänge. Selbst für einen Top-Spieler wie Sadio Mané ist es alles andere als einfach, sich sofort in ein Team zu integrieren, das seine neue Offensividentität sucht.
Julian Nagelsmann braucht Zeit für den Prozess
Irgendwo zwischen der Panik, die derzeit im Umfeld des FC Bayern ausbricht und einer die Probleme ignorierenden Sichtweise liegt derzeit also eine angemessene Bewertung der Situation. Dramatisch ist diese noch lange nicht. Klar ist aber auch, dass Nagelsmann jetzt vorrangig Ergebnisse benötigt, um sich weitere Zeit für den Prozess zu verschaffen.
Mit Leverkusen, Dortmund, Freiburg und Hoffenheim wartet jetzt ein hartes Programm. Zwischendrin muss man gegen Pilsen in der Champions League das Achtelfinale buchen. Stolpersteine gibt es hier ausreichend. Insofern ist die Lage für den Klub und für Nagelsmann durchaus ernst.
Das Vertrauen, dass die Bayern sich ausgerechnet in dieser Phase aber wieder aus ihrem Loch herausziehen können, scheint da zu sein. Sonst hätte sich Oliver Kahn nicht so deutlich vor den Trainer gestellt und die Spieler in die Pflicht genommen. Fußball funktioniert ohne Ergebnisse wohl kaum, aber die Bewertung von Leistungen fällt ohne das sture Betrachten von durch viele Variablen entstandenen Zahlen oftmals etwas leichter. Die Bayern waren jenseits von gut und schlecht. In einer Grauzone, die vor allem für das erfolgsverwöhnte Publikum schlicht ungewohnt ist.
FC Bayern: Weg mit Nagelsmann ist richtig – für den Moment
Nachdem ich mein Twitter-Konto am Freitag deaktiviert hatte, begab ich mich auf eine 100 Kilometer lange Radtour. Nur ich, mein Fahrrad, die Natur und ein leckeres Stück Kuchen zur Halbzeit. Ich konnte durchatmen, die Ruhe genießen und kurzzeitig aus der Schnelllebigkeit des Alltags fliehen, die ironischerweise eben auch Teil meines Berufs ist. Das tat gut.
Vielleicht tut es den Bayern auch gut, dass der Fokus jetzt für kurze Zeit auf der Nationalmannschaft liegt. Dass sie auch den nun steiniger gewordenen Weg weiterhin mit Nagelsmann gehen, ist jedenfalls die einzig richtige Entscheidung.
Zumindest für den Moment. Auch ein Klub wie der FC Bayern muss sich nach den Einschnitten des Sommers in Geduld üben.