„Katsche“ Sabitzer: vom Offensivallrounder zu Kimmichs Edelhelfer

Georg Trenner 30.08.2022

Sabitzer kam als Offensivallrounder zum FC Bayern und setzte sich nicht durch

Für RB Leipzig stand Marcel Sabitzer in 229 Pflichtspielen auf dem Platz. Laut “Transfermarkt” wurde er auf acht verschiedenen Positionen eingesetzt, vom Mittelfeldspieler über Rechtsaußen bis zum Mittelstürmer. In seinen 229 Spielen gelangen ihm dank verschiedener offensiver Rollen 52 Tore und 42 Assists. 

Bayern-Trainer Nagelsmann und Sabitzer kannten sich aus der gemeinsamen Zeit in Leipzig, als Sabitzer am 30.08.2021 als letzter Transfer im Sommerfenster an die Isar wechselte. Gute Vorzeichen für eine vollwertige Rolle mindestens als Rotationsspieler. 

Doch Sabitzers erstes Jahr verlief unglücklich. In nur 1.029 Pflichtspielminuten konnte er nicht überzeugen. Im Whoscored-Noten-Ranking und bei den “Kicker”-Noten (Sabitzers Durchschnittsnote: 4,23) belegte er den letzten Platz aller Feldspieler mit mindestens 180 Minuten Einsatzzeit. 

Neue Chance durch Verwandlung zum “Katsche”

Nach der enttäuschenden Saison 2021/22 verwunderte es nicht, dass Sabitzer lange Zeit als Verkaufskandidat galt. Zwar verließen Marc Roca und Corentin Tolisso den FC Bayern, doch insgesamt ist der Kader in der Spitze breiter geworden. 

Und doch stand Sabitzer in allen fünf bisherigen Pflichtspielen neben Joshua Kimmich in der Startelf. Leon Goretzkas Verletzung ist ein Grund dafür, aber nicht der einzige. Marcel Sabitzer hat sein Spiel angepasst. Er ist zu jenem absichernden Sechser geworden, den der FC Bayern seit Jahren nicht mehr im Kader hatte. Er hat sich zu Kimmichs Katsche verwandelt. 

Das historische Vorbild Katsche Schwarzenbeck

Hans-Georg Schwarzenbeck bestritt 549 Pflichtspiele für den FC Bayern, wurde Welt- und Europameister, deutscher Meister und Pokalsieger sowie viermal Europapokalsieger. Eine große Karriere. Eine Karriere, die man dennoch nicht ohne Bezug zu Franz Beckenbauer erzählen kann. 

Denn wenn einer in der Abwehr der Nationalelf oder beim FC Bayern abräumte, was sich so in Tornähe befand, dann war es des „Kaisers Bodyguard“. Katsche fiel in seiner Profikarriere nie groß auf, aber war letztlich sehr effektiv für das Spielsystem des deutschen Rekordmeisters”, schreibt der FC Bayern in einer Würdigung für den “Hall of Fame”-Spieler.

Kimmich als neuer Beckenbauer

Die Spielweise des Kaisers, der so viel mehr als nur Libero war, hat Constantin Eckner für “Spielverlagerung” anekdotisch nacherzählt.

Eckner schreibt über Beckenbauer:

“Er schleppt das Spielgerät durchs Mittelfeld und initiiert Kombinationen. Im hohen Tempo sollen seine Kollegen auf Doppelpassversuche reagieren. In höchster Geschwindigkeit nimmt Beckenbauer den Ball dynamisch mit.”

“Beckenbauer ist immer der Erste, der hinter den Stürmer nachstößt. Hin und wieder weicht er nach rechts aus und kommt über den Flügel. In der Offensive ist er ein Tyrann. Mit seinen Füßen schubst er Gegenspieler herum.” 

“Sein kreativer Geist strahlt dafür beim Spiel nach vorn. Schon unmittelbar nach Balleroberungen möchte er das Gaspedal treten. Höhepunkte sind Dribblings tief ins Mittelfeld hinein. Beckenbauer lässt seine Mitspieler partizipieren. Er lässt sie scheinen. Zarte, gefühlvolle Pässe erreichen Franz Roth und die anderen.”

Dominanz im Mittelfeld, Gaspedal, hohes Tempo, ab und an über den rechten Flügel? Tauschte man in den Zitaten Beckenbauers Name durch Kimmich aus, es passte. Es beschreibt das Spiel des aktuellen Vizekapitäns des FC Bayern. 

Kimmich tritt Standards, schießt Tore, bereitet sie vor. Mal elegant, mal dynamisch. Er lässt sich in die Abwehrkette fallen, um den Spielaufbau zu gestalten. Er dribbelt in den Strafraum. Er orchestriert das Mittelfeld. Kurz: vieles von dem was der Kaiser machte. Vieles, das einer Freirolle entspricht.

Eine Freirolle mit Schattenseiten. Durch Kimmichs Spielweise entstehen bisweilen Löcher im Mittelfeld der Bayern, die vor allem nach Ballverlusten für Chancen und Tore der Gegner sorgen. Denn nicht nur Kimmich sucht die Offensive, auch seine Nebenmänner auf der Doppelsechs dachten zuletzt eher offensiv. Goretzka und Tolisso sind Box-to-Box-Spieler. Beide sind dann am stärksten, wenn sie für Gegenpressing und Torgefahr mit nach vorne rücken, Abschlüsse suchen. 

In den letzten vier Jahren kassierten die Münchner in der Bundesliga jeweils über 30 Gegentore, nachdem sie von 2011/12 bis 2017/18 nie mehr als 28-mal den Ball aus dem eigenen Netz holen mussten. Heynckes’ erdrückende Dominanz, Guardiolas Ballkontrolle, Javi Martínez, Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm, Xabi Alonso: Die Systeme und individuellen Spieler sorgten auf ihre Weise dafür, das Mittelfeldzentrum defensiv stabil zu halten.

Sabitzer wird Katsche

Mit Blick auf die defensiven Anfälligkeiten war es kein Zufall, dass sich vor der Saison mehrere Miasanrot-Autoren ein neues System mit mehr Absicherung für Kimmich wünschten.

Justin schrieb: “Der Ankersechser hat hier eine sehr wichtige Rolle. Er muss nach vorne und nach hinten absichern. (…) Gleichzeitig aber eben überwiegend hinten bleiben und dort gemeinsam mit den beiden IV eine stabile Restverteidigung bilden. (…) Kimmich könnte dann endlich auf die Acht rutschen und seine Offensivausflüge wären weniger gefährlich für die Defensive.” 

Ich schrieb: “Der tiefe Sechser sorgt hier für zusätzliche Stabilität. Joshua Kimmich braucht diese Unterstützung in Form eines die Position haltenden und offensiv wie defensiv Struktur gebenden Sechers, damit er sich frei entfalten kann. Dadurch kann Kimmich weiterhin seine Stärken überall auf dem Platz einbringen, ohne dass Löcher vor der Innenverteidigung entstehen.

Die angesprochene Absicherung war eine der zentralen Baustellen für Nagelsmann nach der unglücklichen Rückrunde 2021. 

Eine Baustelle oder auch Chance, die Sabitzer ergriff. Er interpretiert die Rolle als zweiter Sechser neben Kimmich deutlich defensiver, als er oder Goretzka es in der letzten Spielzeit taten. Die Zahlen der ersten Spiele belegen die Beobachtungen.

Sabitzer hält sich offensiv stark zurück. In der letzten Saison kreeirte er im Durchschnitt noch 2,7 schusserzeugende Aktionen (“shot creating actions, SCA”) pro 90 Minuten. Dazu gehören Dribblings und Pässe, die spätestens zwei Aktionen später zu einem Torabschluss führen. Goretzka kam sogar auf 3,9 solcher Aktionen. In der laufenden Saison begnügt sich Sabitzer mit bisher insgesamt 1,0 SCA.

Ähnlich sieht es mit Sabitzers genereller Einbindung ins Angriffsspiel des FC Bayern aus. Regelmäßig spielt er im Mittelfeld einen einfachen Pass zu Kimmich und überlässt diesem die kreativen, vertikalen Aktionen und Vorstöße. Auch diese Zurückhaltung ist in den Daten sichtbar. Während Goretzka und Sabitzer in der vergangenen Saison auf rund vier Ballkontakte pro Spiel im gegnerischen Strafraum kamen, hat sich dieser Wert für Sabitzer in der laufenden Saison auf die Hälfte reduziert.

Dadurch, dass Sabitzer seine Position disziplinierter hält, fehlt er zwar im Angriff. Dort können die vier flexiblen Offensivkräfte und Kimmich das bisher kompensieren. Im Gegenzug gibt Sabitzer der Defensive mehr Stabilität. Das ist einerseits auch in den Daten sichtbar. Sabitzer erobert deutlich mehr Bälle als er oder Goretzka es in der Vorsaison taten. 

Daneben sind es auch Situationen ohne zählbare Defensivaktion, in denen Sabitzer der Defensive Stabilität gibt. Das zentrale Mittelfeld ist nach Ballverlusten seltener verwaist. Es reicht bisweilen, dass er im Zentrum Gegner zustellt oder Passwege schließt und dadurch einen Konter der Gegner verhindert. 

Insgesamt scheint der FC Bayern in der laufenden Saison defensiv stabiler zu stehen. Auch deshalb kassierten sie in den vier Bundesligaspielen erst zwei Gegentore. Die durchschnittlichen 0,93 expected Goals gegen sich sind ebenfalls niedriger als in den letzten drei Jahren. Auch wenn vier Spieltage noch zu früh für eine statistisch robuste Aussage diesbezüglich sind, ist es ein erster positiver Trend.

Es wird spannend zu beobachten, ob Sabitzer sich auf der Position behaupten kann, wenn Leon Goretzka nach seiner Verletzung zurückkehrt. Auch der deutsche Nationalspieler hat die Anlagen, um seinen Spielstil hin zu mehr defensiver Stabilität zu verändern, falls Nagelsmann das von ihm verlangt.