Hinrunden-Bilanz des FC Bayern
Hat der FC Bayern eine stärkste Elf?
Im Sommer ging Brazzo auf große Shopping-Tour. In der Hinrunde war unter anderem durch den engen Spielkalender viel Rotation angesagt. Was war für dich die stärkste erste Elf, die in dieser Hinrunde auf dem Platz stand?
Justin: Ich sehe beim FC Bayern keine stärkste Elf. Das liegt aber nicht nur am besonders starken Kader in dieser Saison, sondern daran, dass sich der Fußball sich insgesamt in den letzten Jahren in eine andere Richtung entwickelt hat durch die vielen Spiele. Es gibt meist eine kleine Anzahl an Spielern, die fast alle Spiele bestreitet. Beim FC Bayern sind das je nach Fitnesslevel Manuel Neuer, Alphonso Davies, Joshua Kimmich, Thomas Müller und wohl seit dieser Saison auch Sadio Mané, wenn man auf seine Spielzeit schaut. Lucas Hernández dürfte, wenn er fit bleibt, auch ein solcher Kandidat werden. Alle anderen Positionen werden regelmäßig rotiert. Anders ist das bei diesem Pensum auch nicht realisierbar. Die vermeintlich stärkste Elf verändert sich ja auch durch Faktoren wie Form, Fitness und vor allem Gegner. Meine stärkste Elf gegen ein tiefstehendes Union Berlin würde anders aussehen als gegen offensiv agierende Liverpooler. Aber mal von den Partien gegen PSG ausgehend und wenn ich die Faktoren Form/Fitness ignoriere, aber die Hinrunde als Indikator nehme: Neuer – Mazraoui, Upamecano (de Ligt), Hernández, Davies – Kimmich, Goretzka – Gnabry, Musiala, Mané – Choupo-Moting
Maurice: Für mich hat die stärkste Elf der Münchner noch kein Spiel zusammen bestritten. Aber die Mannschaft, die Bayer Leverkusen Ende September in der Allianz Arena an die Wand spielte, kommt dieser am nächsten. Neuer im Tor hinter der Kette mit dem offensiv starken Davies und dem absichernden Pavard, wobei De Ligt und der diese Hinrunde sehr souveräne Upamecano in der Mitte spielen. Davor läuft die Dauer-Doppelsechs Kimmich und Goretzka auf. In der Offensive tummeln sich die variablen Sané, Musiala, Mané und Müller. In meiner idealen Elf nimmt Gnabry noch die Rolle von Müller ein, da der Chefkoch in seiner aktuellen Verfassung aus keiner Bayern-Elf wegzudenken ist.
Erreicht Nagelsmann das Team noch?
Welche taktische Entwicklung in Nagelsmanns Team ist dir in der Hinrunde besonders aufgefallen und hat diese funktioniert?
Daniel: Oft probiert, immer gescheitert: Bayern spielt nunmal über die Flügel. So der Tenor des letzten Jahrzehnts. Ein Spiel fokussiert durch die Mitte aufzuziehen, hatte selbst Guardiola irgendwann aufgegeben. Da ist doch erstaunlich, wie gut Nagelsmann den Bayern dies gerade diese Saison eingebläut hat. Einem Leroy Sané hatte man einst zu City-Zeiten attestiert, er könne nur isoliert auf Außen durchbrechen, doch seine besten Leistungen in diesem Halbjahr waren in der Mitte.
Die Kombinationen im Halbraum, Rotationen. Das gab es in dieser Qualität noch nicht beim FC Bayern. Dribbling über Außen, Flanke, Kopfball, dieses Spiel ist sehr selten geworden.
Justin: Ohne Lewandowski konnte er wieder mehr zum von Daniel angesprochenen Zentrumsfokus zurückkehren. Das hat etwas Zeit gebraucht, aber mittlerweile funktioniert das sehr gut. Die Bayern haben sich unter ihm taktisch weiter modernisiert. Viele Trainer:innen auf der Welt haben eine Spielidee, bei der das Zentrum immer wichtiger wird. Eine weitere “Veränderung” ist sicherlich, dass Nagelsmann in seiner Ausrichtung nicht mehr so viel rotiert. Der Unterschied zwischen dem 4-2-2-2 und 4-2-3-1 war nicht so groß, wie es teilweise impliziert wurde. Bayern spielt über die gesamte Saison hinweg relativ ähnlich und Nagelsmann hat sich darauf beschränkt, Details anzupassen. Das ist interessanterweise ein ähnlicher Prozess wie bei Pep Guardiola, der auch lange viele Dinge angepasst hat und am Ende fast konstant auf sein 4-1-4-1 setzte.
Lebkuchen und Spekulatius der Hinrunde?
Welcher Spieler hat dich in der Hinrunde am meisten positiv überrascht und von wem hattest du dir mehr erhofft?
Georg: Positiv überrascht hat mich Dayot Upamecano. Der 70-Millionen-Mann Matthijs de Ligt würde sich zum 80-Millionen-Mann Lucas Hernández in die Innenverteidigung gesellen. Durch die Verpflichtung von Noussair Mazraoui würde zudem Benjamin Pavard die Rotation erweitern. Kein Platz mehr für Upamecano? So der Tenor vor der Saison. In unserem Twitter-Voting rechneten nur 3% damit, dass er es sein würde, der die meisten Minuten aus der Defensivreihe sammeln würde. Doch genau das tat er. Und überzeugte mit konstant guter Leistung.
Negativ sticht für mich Kingsley Coman etwas heraus. Es war klar, dass Lewandowskis Output sich auf mehrere Schultern verteilen würde. In seinem ersten Saisonspiel schien Coman sich in die Riege der Thronfolger einzureihen und begeisterte mit einem Tor und drei Vorlagen gegen Bochum. Allein, es blieb bei diesem einen Ausrufezeichen. Danach gelang Coman fast nichts mehr. Während bereits fünf Bayernspieler zweistellig trafen, steht die Zählmarke des Franzosen bei eins: zu wenig für sein Talent – und seinen Vertrag.
Dennis: Zeit für einen Blick in die Daten von unserem internen Analytics-Experten Lukas. Die Frage war, wie konstant die offensivstarken Bayern-Spieler in den letzten zwei Saisons Scorer-Punkte gesammelt haben. Niemanden wird es überraschen, wie phänomenal die Ausbeute von Jamal Musiala und Eric Maxim Choupo-Moting in den vergangenen Monaten (rechts im Chart) war. Sie liefern momentan in einer Konstanz ab, die Georg bei manch anderen Konkurrenten vermisst. Grob gesagt, je mehr „schwarze Phasen“ ein Spieler hat, je länger waren seine Durststrecken. Auffällig ist dabei, dass sich Gnabry, Sane und Coman dort in der Konstanz über die gesamte Betrachtungsdauer auf den ersten Blick nicht groß unterscheiden und jeder sich mal seine unfreiwilligen Auszeiten genommen hat. In den non-peak Phasen ist Leon Goretzka sogar drauf und dran sie in Punkto Scorerpunkte zu überholen. Mane hingegen erreicht zwar nicht den Ausschlag eines (nicht dargestellten) Robert Lewandowksi (im Prinzip eine rote Linie), aber bis auf eine kurze Durstrecke liefert er im Trikot des FC Bayern bisher kontinuierlich ab.
Nicht nur in dieser Darstellung, sondern auch sicher häufiger als von ihm selbst erhofft auf dem Spielberichtsbogen, fehlt der Name Ryan Gravenberch. Der „Golden Boy Kandidat“ hat aktuell einen langen Weg, bzw. einige Spieler vor sich, hin zu regelmäßigen Spielminuten.
Daniel: Ich hatte Marcel Sabitzer noch nicht derart abgeschrieben wie andere, aber wie gut er am Anfang der Saison spielte, war dann doch eine schöne Überraschung. Für mich war Sabitzer zu Leipziger-Zeiten so eine Art schwächerer Schweinsteiger-Klon und das meine ich ausschließlich positiv. In Goretzkas Abwesenheit konnte er Kimmichs Löcher stopfen, hielt das Spiel am Laufen, traf sogar ab und an. Seine offensive Stärken hat man in München noch nicht wirklich gesehen, doch Sabitzer ist mit einem Jahr Verspätung endlich ein echter Bayern-Spieler. Und nebenbei konnte er mit seinen tollen Leistungen auch seine Konkurrenz pushen. Wie gut hat dieser Konkurrenzkampf bitte Leon Goretzka getan? Er musste direkt performen, um wieder in die Mannschaft zu kommen und hat das auch getan. Genau so wünscht man sich eine Fußball-Mannschaft.
Jemanden, den ich auch nicht so krass stark erwartet hätte, wäre tatsächlich Matthijs de Ligt. Ja, ich habe den Transfer auch bejubelt, aber mehr weil der Verein dringend Verstärkung auf der Innenverteidiger-Position brauchte, weniger weil ich in de Ligt das Talent sah, was andere ihm zuschrieben. Für mich war de Ligt einer der vielen sehr guten Innenverteidiger-Talente, aber niemand, der so krass andere seiner Talentklasse überragte. Diesen Status schrieb ich eher seinem Ajax-Kollegen De Jong zu. Aber ich habe mich getäuscht. Immer ist er richtig positioniert, seine Antizipation ist fabelhaft, Kopfbälle verliert er einfach nie, dazu macht er auch seine Kollegen besser. Georgs Upamecano-Nominierung ist berechtigt und auch er wurde von de Ligt besser gemacht. De Ligt ist einfach einfach ein besserer defensiver Dirigent als Hernández.
Eine ganze Hinrunde versteckt in einem Spiel
Welches Spiel dieser Hinrunde beschreibt für dich den aktuellen Zustand dieses Teams am besten?
Justin: Das 3:0 beim FC Barcelona. Sehr erwachsen, sehr routiniert, aber auch längst nicht am Ende der Entwicklung. Dieses Spiel hat angedeutet, wohin die Reise gehen kann. Es hat aber auch gezeigt, dass Kleinigkeiten entscheidend sind.
Maurice: Für mich ist das 6:2 der Münchner gegen Mainz die ideale Metapher für eine packende Hinrunde. Zunächst starteten die Bayern wie die Feuerwehr. Drei deutliche Siege in der Liga und 2:0 nach einer halben Stunde. Danach ging die Form etwas verloren und man tat sich schwer trotz vieler guten Chancen. Sinnbildlich dafür stehen der vergebene Elfmeter von Mané und der Anschlusstreffer der Mainzer. Es folgte eine kurze Phase des Schwitzens, das in der Liga mit den vier sieglosen Spielen in Folge zu einer handfesten Wiesn-Krise wurde, und ein versöhnlicher Ausklang. Zudem trafen gegen die Rhein-Elf sechs verschiedene Spieler, die allesamt ihre persönliche Hinrunden-Story schrieben: Neuzugang Mané, Gold-Bambi Musiala, Lewa-2.0 Choupo-Moting, der verlässliche Gnabry, der lange verletzte Goretzka und Sturm-Juwel Tel.