FC Bayern München: Sané liefert und Tuchelball nimmt Form an
- Hier geht es zur aktuellen Podcastfolge
- Spielbericht: FC Bayern Frauen siegreich in Essen
- Spielbericht: FC Bayern Männer schlagen Freiburg
Drei Dinge, die beim FC Bayern gut laufen
Harry Kane beginnt, seine Ablöse einzuspielen
Bei Transfers im dreistelligen Millionenbereich ist die Fallhöhe enorm. Trotz aller Rekordsummen im Profifußball und des mehr als gut gefüllten Festgeldkontos des FC Bayern ist der Transfer ein Risiko. Umso wichtiger ist es für den FC Bayern, dass Harry Kane kritischen Stimmen wenige Belege liefert.
Das gelingt dem Engländer. In seinen ersten zehn Pflichtspielen traf er neun Mal selbst und legte fünf weitere Tore auf. Das entspricht 1,6 Scorern pro 90 Minuten. Zur Einordnung: Lionel Messi und Cristiano Ronaldo kamen für den FC Barcelona und Real Madrid insgesamt auf Werte von 1,4 (in ihrer Karriere auf 1,3 und 1,2), Robert Lewandowski für den FC Bayern auf 1,2.
Kane wird diese Schlagzahl kaum halten können. Für den Start im neuen Team ist es ein uneingeschränkt guter Wert. Bemerkenswert ist auch seine Wirkung aufs Spiel, insbesondere auf Leroy Sané. Vier seiner fünf Assists legte Kane für den 27-Jährigen auf. Lerry Kané sind geboren.
Gerade gegen den SC Freiburg zeigte Kane, wie wertvoll seine Spielmacherqualitäten sind. Immer wieder ließ er sich ins Mittelfeld fallen, band Gegenspieler an sich und öffnete so Räume für die schnellen und wendigen Außenspieler. Endlich wieder ein Fixpunkt im Angriff, der der Offensive Struktur, wenn notwendig aber auch Dynamik geben kann.
Leroy Sané ist der Mann der ersten Monate
Jener Leroy Sané ist der noch offensichtlichere Positivtrend beim FC Bayern. Wie gut er mit Kane harmoniert, konnte man bereits nach nur vier Minuten in der Saison erahnen. Gegen Bremen timte Sané seinen Tiefenlauf genau so, dass Kane, der sich zurückfallen ließ, den Ball zu ihm in die Schnittstelle spielen konnte. Die Verbindung der beiden blieb bestehen, aber Sané glänzt auch unabhängig davon. Er zeigt stabil herausragende Leistungen.
Beim kicker ist er aktuell der notenbeste Spieler der Bundesliga vor Serhou Guirassy und Alejandro Grimaldo. Bei Whoscored steht er unter allen Spielern aus den Top-5-Ligen auf Platz zwei hinter Guirassy und vor Jude Bellingham. Es ist die Gesellschaft, in die Sané aktuell gehört, wenn es um die formstärksten Spieler geht. Nicht nur wegen seinem Zug zum Tor, sondern auch, weil er zwischen den Linien viel unterwegs ist und Verantwortung übernimmt, die er früher gern von sich schob.
Sein Dribbling vor dem Doppelpass mit Kane und seinem Treffer zum 2:0 war herausragend. Das Abseitstor, vor dem er ebenfalls einen Großteil der Freiburger Defensive alt aussehen ließ, war eine weitere Steigerung dazu. Sané ist nach wie vor den Beweis schuldig, dass er das konstant liefern kann. Doch sein Saisonstart war beeindruckend.
Tuchelball nimmt Konturen an und erinnert an “kontrollierte Offensive”
Gegen Freiburg schien es erstmals, als habe Thomas Tuchel den FC Bayern genau dort, wo er ihn haben will. 90 Minuten Kontrolle über das Spiel, defensiv nichts zugelassen und offensiv ausreichend gefährlich, um zwei, drei oder vier Tore zu schießen. Vor 35 Jahren prägte Otto Rehhagel den Begriff der „kontrollierten Offensive“. Er erklärte damit das eher defensiv geprägte Spiel seiner Bremer, die am Ende der Saison mit einem Torverhältnis von 61:22 Deutscher Meister wurden.
123 Sekunden tuchel’sche Perfektion: Nach 22 Minuten und 37 Sekunden erobern Kimmich und Müller im Verbund den Ball.
Nach über einem Dutzend weiterer Stationen kommt der Ball zu Davies auf der linken Seite. Der passt zu Sané. Sané dreht nach innen auf, umdribbelt einen Gegenspieler, passt zu Kane, dessen Steckpass bleibt hängen. Noch kein Tor. Befreiungsschlag Freiburg, der direkt bei Ulreich landet.
Nach über einem Dutzend weiterer Stationen kommt der Ball zu Davies auf der linken Seite. Der passt zu Sané. Sané dreht nach innen auf, umdribbelt einen Gegenspieler, passt zu Kane. Der spielt diesmal zurück auf Sané und der Ball kommt durch: 2:0 FC Bayern nach 24 Minuten und 40 Sekunden.
Geduldig spielte der FC Bayern den Ball in den eigenen Reihen, nicht als „U des Todes“, sondern stets mit Sicht auf Raumgewinn, stets um zu warten, bis man Sané in die gewünschte Position bekommen würde.
Bereits vor dem Freiburg-Spiel war ein klarer Aufwärtstrend sichtbar. In zwölf Spielen unter Tuchel in der Saison 2022/23 holte der FC Bayern 1,7 Punkte pro Spiel. In den elf Spielen der laufenden Saison sind es 2,4 Punkte.
Die von Tuchel gewollte Kontrolle über Ball und Gegner ist eine andere, als die Spieler es zuletzt unter Flick und Nagelsmann gewohnt waren. Mit Ball abbremsen, gegen den Ball nicht (fast) ausnahmslos nach vorne verteidigen. Das bedeutet eine Umstellung, die sich im Unterbewussten erst manifestieren muss, bevor die Spieler sie intuitiv in den entsprechenden Situationen beherzigen. Gerade anfangs führte das zu teils unkoordinierten Szenen: Wenn ein Spieler nach vorne verteidigt, der andere nach hinten, dann entstehen die Löcher, die so lange im Defensivverbund des FC Bayern klafften. Tuchel scheint sie langsam zu stopfen.
Dinge, die beim FC Bayern nicht gut laufen
Tuchelball ist noch ausbaufähig
Der Aufwärtstrend und die Ergebnisse sind da. Aber noch glänzt nicht alles, was erfolgreich ist. In drei Duellen gegen die Spitzenteams aus Leipzig und Leverkusen war der FC Bayern phasenweise klar unterlegen. Sieben Gegentore in diesen drei Spielen können nicht Tuchels Anspruch sein.
Es bleiben Baustellen, was den Kader und seine Pläne mit einigen Spielern angeht. So arbeitet er noch an der Ideallösung für seine „Holding Six“, vermutlich dürfte erst das Transferfenster die dauerhafte Antwort bringen.
Daneben droht bisher fast unbemerkt eine weitere Baustelle in Person von Jamal Musiala. Tuchel hat noch keine perfekte Einbindung für das bayerische Kronjuwel gefunden. In der etwas defensiver geprägten Spielanlage unter Tuchel ist Musiala zu selten in den Positionen und Situationen am Ball, in denen er seine Stärke am besten ausspielen kann: Musiala braucht Ballkontakte im Strafraum, gerne mit vielen Gegenspielern und Mitspielern in nächster Nähe.
Dann kann er mit seinen Dribblings und Doppelpässen Engen auflösen, aus denen es scheinbar keine Lücken gab. Allein, er kommt zu selten in diese Situationen. Seine Ballkontakte im gegnerischen Strafraum haben sich unter Tuchel im Vergleich zu Nagelsmann mehr als halbiert.
Tuchel muss einen Plan für Musialas Rolle entwickeln. Wenn der Zehner unter Tuchel nicht in die relevanten Situationen kommt, wäre ein Wechsel auf die Acht oder auf den Flügel eine Option.
Matthijs de Ligt und der plötzliche Absturz
Er kam mit hohen Erwartungen. Er erfüllte sie. Miasanrot wählte Matthijs de Ligt zum Spieler der Saison.
Fußball ist schnelllebig. Und de Ligt plötzlich nur noch Ersatz beim FC Bayern. Verletzungen in der Vorbereitung und während der Saison machen seine Situation nicht einfacher, sollten aber nicht als Ausrede für die Zurückstufung herhalten. Tuchel machte deutlich, dass Kim und Upamecano sein aktuelles Stammduo sind.
Es ist ein Dilemma, das sich nicht einfach auflösen lässt. Drei Flügelspieler für zwei Positionen auf Außen sind kein Problem. Offensiv wechselt man in allen Spielen durch, meist früh. Zumal es immer auch Varianten für Coman, Gnabry und Sané gemeinsam gibt. Drei zentrale Mittelfeldspieler für zwei Positionen sind kein Problem. Laimer kann auch außen verteidigen, die Spielzeit reicht für alle.
Anders verhält es sich in der Innenverteidigung. Die meisten Trainer setzen hier möglichst auf eine eingespielte Stammformation. Übergaben von Stürmern, Abseitslinien, Vertrauen ineinander: Für zentrale Aufgaben von Verteidigern ist die Abstimmung wichtiger als individuelle Form. Wer seinen Stammplatz verliert, hat es schwer, auf viele Minuten zu kommen.
Transferkomitee: Erst Schulterklopfer, dann verbales Schwimmen
Im ehemaligen Transferkomitee des FC Bayern dürfte man ungern auf die 100 Tage zurück und vielmehr sehnsüchtig auf die 84 Tage vorne schauen, bis das Transferfenster wieder öffnet. Ab dem 1. Januar 2024 kann der neue Sportdirektor Christoph Freund versuchen, das Desaster der zweiten Augusthälfte zu beheben.
Es schien, als habe der Kane-Transfer nicht nur alle Ressourcen, sondern auch alle Gedanken gebunden. Der FC Bayern agierte teilweise konfus. Im Kader fehlt Tiefe auf allen Defensivpositionen. Das Hin und Her um Tuchels „Holding Six“ blieb nicht nur ohne Ergebnis in Form eines Transfers. Es offenbarte vielmehr anscheinend völlig unklare Prozesse.
Wer bewertete wann den Kader und die Bedarfsplanung? Wie kann es sein, dass der FC Bayern innerhalb von 24 Stunden erst keinen weiteren Bedarf erkennt und dann hektisch Höchstsummen für einen Spieler aus der zweiten Reihe bezahlen will?
Nicht nur Transfers wurden verschlafen. Der FC Bayern versäumte es im Sommer, die Verträge von Kimmich, Sané oder Davies zu verlängern. Alle drei Verträge laufen 2025 aus, so dass es 2024 schon spät für eine Verlängerung sein wird. Ab dann drohen Konstellationen wie einst bei Ballack, Kroos oder Alaba: relativ niedrige Ablösesummen oder ablösefreie Abgänge ein Jahr später.
Zumal die Chronologie fast schon absurd ist. Während sich die Verantwortlichen noch darum bemühten, den Kader öffentlich schön zu reden, hatte Tuchel längst vor mehreren Mikrofonen den Finger in die Wunde gelegt. Und lange dauerte es nicht, da gestand man sich selbst die Fehlplanung in Form eines auf vielen Ebenen fragwürdigen Fast-Transfers von Jérôme Boateng ein.
Professionell geht anders. Der Sommer 2023 könnte noch lange nachwirken.