Hat der FC Bayern die beste Abwehr Europas?
Medhi Benatia könnte den Verein bald verlassen, doch mit Hummels kam bereits ein Spieler zum Rekordmeister, der zu den besten auf seiner Position zählt. Er und Jérôme Boateng bildeten die beste Innenverteidigung der Europameisterschaft und so deutete sich bereits an, wie stark Bayerns Abwehr in der kommenden Saison sein könnte. Dabei gibt es einige Zusammensetzungen, die auch Javi Martínez, Holger Badstuber, Philipp Lahm, David Alaba, und Joshua Kimmich beispielsweise nicht außer Acht lassen. Ob Carlo Ancelotti das volle Potenzial dieser Möglichkeiten ausnutzen wird, ist durchaus in Frage zu stellen, aber es ist interessant sich zumindest theoretisch damit zu beschäftigen.
Viererkette – Die wahrscheinlichste Option
Die Viererkette zählt seit vielen Jahren zum Standard im europäischen Fußball und der Bundesliga. Zwar sind flexiblere Systeme immer häufiger zu sehen, aber die Mehrzahl nutzt vier Verteidiger. Carlo Ancelotti ist bekennender Fan vom 4-4-2 und somit ist zu erwarten, dass er auch beim FC Bayern zunächst darauf baut. Während Alaba und Lahm auf den Außenverteidiger-Positionen die Favoriten sind, wird Boateng in der Zentrale gesetzt sein. Als wahrscheinlichster Partner gilt Mats Hummels, aber auch Holger Badstuber und Javi Martínez haben in den vergangenen Jahren mit starken Leistungen überzeugt. Sollten alle Innenverteidiger fit sein, darf der FC Bayern sich auf einen harten Konkurrenzkampf freuen. Gerade Badstuber und Martínez hatten in der Vergangenheit aber immer wieder mit Verletzungen zu kämpfen. Auch Jérôme Boateng, der nach der EM erneut an einem Muskelbündelriss laboriert, hatte seine Ausfallzeiten. Gerüchten zu Folge soll der FC Bayern deshalb noch an einem weiteren Innenverteidiger interessiert sein, falls Benatia den Verein verlässt. Corluka gilt als wahrscheinlicher Zugang, aber das ist alles spekulativ.
Gegen den Ball ist die Viererkette beim Rekordmeister nicht nur individuell stark besetzt, sondern auch von den verschiedenen Fähigkeitsprofilen sehr ausgewogen. Mats Hummels profitiert insbesondere von seinem Stellungsspiel. Er ist bekannt für effektives Herausrücken, hat sich in den vergangenen Jahren jedoch auch einige Male dabei verschätzt. In der Nationalmannschaft hat sich schon mehrfach gezeigt, dass Jérôme Boateng vielleicht wie kein Zweiter in der Lage ist, dieses Herausrücken abzusichern und Fehler aufzufangen. Die beiden harmonieren sehr gut. Hummels’ Antizipation gepaart mit Boatengs Schnelligkeit und Zweikampfstärke am Boden macht beide vielleicht zum besten Innenverteidiger-Duo der Welt. Alaba und Lahm sind zudem zwei Außenverteidiger, die jederzeit in der Lage sind, die perfekte Balance zwischen Offensive und Defensive zu finden. Sowohl ohne, als auch mit Ball sind sie bekannt für ihre hohe Spielintelligenz. Gerade Lahm zeigte in der letzten Saison, dass der FC Bayern weiter mit ihm planen kann. Er ist vielleicht der einzige Außenverteidiger auf der Welt, der ein Spiel von dieser Position aus dominieren und kontrollieren kann.
Interessant wird die Viererkette allerdings beim Spielaufbau und somit in Ballbesitz. Für die Struktur im Aufbau gibt es zwei Möglichkeiten. Eine wäre, dass beide Außenverteidiger weit nach vorn schieben, die Innenverteidiger das Spiel breit machen und ein Sechser abkippt. Xabi Alonso wäre dafür prädestiniert, weil er sich so gerne mal dem Pressing entzieht. Außerdem hat der Spanier exzellente Fähigkeiten im Aufbauspiel. Mit Arturo Vidal funktionierte das in der letzten Saison eher suboptimal. Der Vorteil liegt darin, dass drei Spieler hinten gegen einen Ballverlust absichern. Boateng und Hummels können in den Halbraum schieben, wo ein Spielaufbau deutlich einfacher zu realisieren ist, als im Zentrum. Die Kette macht das Spiel also breit und zieht den Gegner auseinander, ohne dabei aber große Lücken bei einem möglichen Fehlpass zu lassen. Nachteilig ist, dass mit dem Sechser ein Mittelfeldspieler abkippt, der im Zentrum womöglich fehlen könnte, um vom zweiten in das letzte Drittel zu gelangen. Pep Guardiola wirkte dem entgegen, indem die Außenverteidiger gelegentlich einrückten. Eine weitere Option und somit die zweite Variante, ist eine asymmetrische Positionierung von Lahm und Alaba. Beide sind gut im Aufbauspiel, deshalb könnte ein Verteidiger sich fallen lassen und der andere hochschieben. So würde die Dreierkette entstehen ohne einen Mittelfeldspieler zurückzuziehen. Dazu passend wäre Lahms Hybridrolle aus der vergangenen Saison. In Ballbesitz positionierte sich der Kapitän immer etwas zentraler im Mittelfeld. Gegen den Ball rückte er dann wieder auf seine Rechtsverteidiger-Position. Er perfektionierte diese Rolle und kontrollierte von dort aus das Bayern-Spiel.
Welche Struktur Ancelotti im Aufbau auch wählt, diese Viererkette dürfte die stärkste mit Ball werden. Ergänzt man dann noch einen fitten Holger Badstuber, hat der FC Bayern fünf der stärksten Aufbauspieler Europas im Kader. Auch gegen den Ball sollte diese Abwehr in der Lage sein regelmäßig ohne Gegentor zu bleiben. Hummels’ Herausrücken könnte der einzige Gefahrenpunkt sein, wobei man sagen muss, dass die Vorteile seiner Spielweise die wenigen Fehler in den Schatten stellen.
Die Dreierkette – überrascht Ancelotti?
In den letzten drei Jahren spielte der FC Bayern auch immer wieder mit der Dreierkette. Zwar ist Ancelotti nicht bekannt für sie, doch deutete er in der Vergangenheit mal an, dass er sich vielleicht irgendwann mal mit ihr anfreunden würde. Wenn nicht beim FC Bayern, wann dann? Diese Mannschaft ist dank Pep Guardiola sehr flexibel geworden. In den letzten drei Jahren hat sie alle Defensivsysteme schon gespielt. Auch die Spielertypen, die Ancelotti zur Verfügung stehen, sind gute Argumente für eine Dreierkette.
Bei der Viererkette analysierten wir, dass es speziell im Aufbau sehr wichtig ist, dass eine Position im Zentrum besetzt ist. Schieben zwei Innenverteidiger auseinander und die Mitte bleibt offen, ist es für den Gegner viel einfacher Zugriff zu bekommen. Einer der gegnerischen Stürmer müsste sich nur zwischen die Innenverteidiger schieben und schon gäbe es Verbindungsprobleme. Ein dritter Spieler sorgt für Über- oder falls der Gegner sehr offensiv presst für Gleichzahl. Besetzt man diese Dreierkette mit Holger Badstuber, Jérôme Boateng und Mats Hummels, hat man auf jeder Position einen Spieler, der das Spiel vertikal sowie diagonal eröffnen kann. Außerdem sind Boateng und Hummels zwei sehr offensiv fokussierte Verteidiger. Letzterer setzt gerne mal zum vertikalen Dribbling an, während der gebürtige Berliner ebenfalls in der Lage ist, freie Räume vor sich zu nutzen. In einer Dreierkette können beide gelegentlich aufrücken.
Auch gegen den Ball eröffnet diese Variante Möglichkeiten. Gegen Italien zeigte sich, dass sie besonders Hummels sehr entgegen kommt. Sein Herausrücken wird von zwei weiteren Innenverteidigern abgesichert und er kann es noch häufiger praktizieren. Der Neuzugang aus Dortmund harmonierte als linker Halbverteidiger sehr gut mit Hector als Flügelverteidiger und Boateng im Zentrum. Das Spiel von Deutschland litt durch diese Formation allerdings in der Offensive. Beim FC Bayern hat Alaba im letzten Drittel aber ganz andere Qualitäten als Jonas Hector vom 1. FC Köln. Auch Philipp Lahm auf der rechten Seite hat Joshua Kimmich noch einiges voraus. Spielt man gegen tiefstehende Gegner, besteht auch die Möglichkeit Arjen Robben als Flügelverteidiger einzusetzen. Der Niederländer hat das bereits erfolgreich gespielt und hat mittlerweile die taktische Disziplin, um der Mannschaft auch auf dieser Position zu helfen. Es würde ihn nicht mal seiner Qualitäten berauben, da er dort lediglich etwas mehr aus der Tiefe käme, sein Anforderungsprofil größtenteils aber gleich bliebe. Gegen den AS Rom machte er vor nicht allzu langer Zeit ein sehr starkes Spiel in dieser Rolle. Auf der anderen Seite könnte Douglas Costa eine offensive Option für die Flügelverteidiger-Position sein, der allerdings gerade im taktischen Verständnis noch weit hinter Alaba ist. Zudem ist Alaba ohnehin schon eine offensiv spielstarke Variante.
Ein weiterer Vorteil ergibt sich darin, dass die Außenstürmer auch mal einrücken können. Im Halbraum sind die Wege zum Tor für Robben, Müller, Costa, Coman oder Ribéry kürzer als vom Flügel aus. Coman zeigte bei der Europameisterschaft dass ihm diese Rolle liegen könnte. Auch bei Müller ist bekannt, dass er in den Halbzonen effektiver ist als im Zentrum oder an der Seitenlinie. Die Dreier- beziehungsweise Fünferkette wäre somit in der Theorie nicht nur hinten sehr stabil, sondern auch vorne ziemlich flexibel.
Analysiert man die Nachteile dieser Formation, kommt man zu dem Entschluss dass das zentrale Mittelfeld gegebenenfalls darunter leiden könnte. Mit drei im Aufbau sehr begabten Innenverteidigern wäre die Rolle eines Xabi Alonso beinahe nichtig. Es bräuchte dann einen typischen Box-to-Box-Spieler wie Arturo Vidal oder Renato Sanches. Thiago wäre der kreative zweite Partner in einem 5-2-3/3-4-3, der für die Verbindungen zwischen Defensive und Offensive zuständig sein könnte. Speziell gegen tiefstehende Gegner würde diese Formation aber wohl trotzdem zu wenig Durchschlagskraft bieten. Drei Innenverteidiger sind gegen solche Gegner nicht notwendig und selbst wenn die Flügelverteidiger offensiv ausgerichtet sind, ist die Struktur im letzten Drittel mit einer Viererkette vielleicht effektiver. Alternativ wäre es auch möglich, dass Ancelotti Alaba oder Kimmich auf die Halbverteidiger-Position stellt und in Ballbesitz aufrücken lässt. Sollte der FC Bayern in der Champions League allerdings auf einen starken Gegner treffen, würden drei gelernte Innenverteidiger aber eine interessante Möglichkeit sein.
Das Harakiri-System
Wie oft hatten die Münchner in der Bundesliga schon Gegner, die nur auf ein 0-0 aus waren? Besonders in der Allianz Arena gibt es immer wieder Mannschaften, die sich hinten rein stellen und gar keine Offensivambitionen zeigen. Je mehr Mittelfeldspieler und Stürmer dann auf dem Feld stehen, umso besser. So gut die defensive Zentrale mit Boateng, Hummels, Martínez und Badstuber auch besetzt ist, einer von ihnen kann manchmal reichen. Kombiniert man diesen Innenverteidiger dann mit Alaba und Lahm auf den Halbpositionen, hat man drei Defensivakteure, die für die Verhinderung von Kontern zuständig sind, wenn es denn mal wirklich ernst wird. Sonst orientieren sich aber beide Halbverteidiger in die gegnerische Hälfte, während Boateng als erster Aufbauspieler fungiert. Ob Ancelotti so viel Mut aufbringen wird? Wahrscheinlich nicht, aber gegen Mannschaften die nur hinten drin stehen müssen so viele Spieler wie möglich zwischen den Linien des Gegners sein.
Die flexibelste Abwehr Europas?
Es sind nicht nur die taktischen Fähigkeiten, die Pep Guardiola hinterlassen hat, sondern vor allem auch die individuelle Klasse der einzelnen Defensivakteure, die Carlo Ancelottis Arbeit vereinfachen werden. Alleine mit David Alaba hat der Italiener immer einen Spieler auf dem Feld, mit dem er das System stets ändern kann. Funktioniert die Viererkette nicht, kann man mit ihm auf eine Dreierkette stellen. Andersrum geht es genauso. Auch die verschiedenen Innenverteidiger sind ein absoluter Traum für jeden Trainer. Hummels, Boateng und Badstuber als perfekte Aufbauspieler sowie Javi Martínez als Arbeiter, der das Spiel des Gegners auf jeder Position zerstören kann. Zudem verspricht man sich von Hummels etwas mehr Torgefahr, die der Bayern-Defensive in den letzten Jahren abhanden kam. Zählt man Kimmich, Rafinha und Bernat noch dazu, so hat man für jeden Angriff der Welt die theoretische Lösung parat. Allein Joshua Kimmich kann jedes System und jede darin vorkommende Position spielen. Das zeigte der 21-Jährige in diesem Jahr eindrucksvoll. Vielleicht wächst mit ihm sogar ein Lahm-Nachfolger heran, obwohl seine Zukunft doch eigentlich im Mittelfeld liegen sollte. Ancelotti wird viel rotieren können ohne einen großen Leistungsabfall befürchten zu müssen. Angesichts der kurzen Sommerpause für einige Nationalspieler wird das auch nötig sein. Ob er die beste Verteidigung Europas zur Verfügung hat wird sich zeigen, sie ist mit großer Wahrscheinlichkeit aber die flexibelste. Und sollten alle Stricke reißen, gibt es ja immer noch Manuel Neuer.