EM-Blog: Wer riskiert weniger?

Justin Trenner 29.06.2021

Nationalmannschaftsspiele sind aus taktischer Perspektive immer etwas Besonderes. Die Gründe dafür sind relativ simpel: Anders als Klubmannschaften haben sie nicht die Zeit und die Anzahl an Trainingseinheiten, um Abläufe einzustudieren, mehrere Ausrichtungen zu etablieren und einen gewissen Rhythmus aufzunehmen. Außerdem müssen die meisten Trainer von Nationalmannschaften größere Kompromisse eingehen. Oft gibt es selbst bei den Top-Teams mindestens eine Position, die nicht optimal besetzt ist.

Schon bei den letzten Turnieren war deshalb zu beobachten, dass viele Mannschaften das Risiko scheuen und sich eher auf eine stabile Defensive verlassen. Erstmal wenig Gegentore kassieren, um dann mit den wenigen Angriffen vorn die Entscheidung zu erzielen. Bei der Europameisterschaft 2016 gipfelte die Risikolosigkeit im Finale zwischen Frankreich und Portugal. Beide hatten im Turnierverlauf einen sehr pragmatischen Ansatz, die Portugiesen sogar noch einen Tick konsequenter als die Franzosen. Risiko nur dann, wenn es zwingend erforderlich ist.

Als hätten die Franzosen aus diesem unglücklich verlorenen Finale „gelernt“, spielten sie 2018 selbst noch pragmatischer. Kompaktes Zentrum hinten, individuelle Geistesblitze vorn. Ja, das ist alles eine recht grobe Beschreibung dessen, was in beiden Turnieren auf dem Platz passiert ist. Zugegeben. Aber dass viele Top-Teams sich vor allem darauf konzentrieren, die Defensive zu stärken, zeigt auch dieses Turnier.

Risikolosigkeit im Trend?

Außer Portugal und Frankreich sind hier noch Kroatien, Belgien, England und Deutschland zu nennen. Die letztgenannten Teams trafen nun im Achtelfinale in London aufeinander – und erfüllten alle Erwartungen. Was an dieser Stelle kein Kompliment ist. Beide scheuten das Risiko nach vorn so sehr, dass es über die 90 Minuten kaum große Torchancen gab. Erst als England das späte 1:0 erzielte, gab es einen offeneren Schlagabtausch. Bis dahin war die Bilanz eher zäh. 3:3 Abschlüsse zur Pause stehen stellvertretend für etwas, was man dann „Ergebnisfußball“ nennt, wenn das Ergebnis in die richtige Richtung kippt.

Insofern haben die Engländer Ergebnisfußball gespielt und die Deutschen? Mutlos versagt. Das ist natürlich viel zu einfach und unterkomplex. Beide Teams haben sich eben darauf verlassen, dass sie hinten stabil stehen und vorn die entscheidenden Momente auf ihre Seite ziehen. Wie zwei Schwergewichtsboxer, die sich gegenseitig immer mal wieder mit leichten Schlägen abtasten, ohne aber aus der Deckung zu gehen.

Hätten die Deutschen ihre wenigen Chancen (Werner, Havertz, Müller) genutzt, wäre die Bewertung vielerorts wohl in Richtung „abgezockt“ gekippt. Ergebnisse bestimmen eben das öffentliche Bild. Nüchtern betrachtet ist dieser Ansatz aber auch ergebnisunabhängig zu wenig, um nachhaltig erfolgreich zu sein. Das werden auch die Engländer vermutlich noch zu spüren bekommen.

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Dänemark und Italien als Vorbilder?

Denn auch wenn viele der Top-Nationen fußballerisch bisher enttäuscht haben, so gibt es im erweiterten Favoritenkreis und auch an der Spitze durchaus Mannschaften, die beweisen, dass eine stabile Defensive nicht automatisch Mutlosigkeit im Offensivspiel bedeuten muss. Dänemark und Italien sind hier das Paradebeispiel, weil sie die Eingangsthese widerlegen können. Beide spielen einen für Nationalmannschaften komplexen und taktisch variablen Fußball und sind damit bisher sehr erfolgreich.

Aber auch die Schweiz hat trotz der drei Gegentore im Achtelfinale gezeigt, dass sie beides kann: Offensives Risiko und defensive Absicherung. Spanien ist hinten sicher anfällig, aber mit dem Ball gewohnt stark. Jedenfalls lassen sich ihre bisherigen Probleme nicht damit lösen, pragmatischer oder defensiver aufzutreten. Die Tschechen sind defensiv aufgrund ihrer recht wilden Spielweise nicht immer stabil, dafür begeistern sie aber im Offensivbereich. Das macht Spaß, das ist unterhaltsam und es kann erfolgreich sein, wenn man sich ins Risiko traut.

Der risikoarme Ansatz der Franzosen, Portugiesen und nun auch der Deutschen ist jedoch vorerst gescheitert. Und auch wenn man taktische „Trends“ bei großen Turnieren aufgrund der oben benannten Faktoren gerne mal überhöht, so ist das eine gute Nachricht für den internationalen Fußball. Zumindest wenn es nach mir geht. Ich sehe lieber die Dänemarks, Tschechiens und Italiens dieses Turniers Fußball spielen als Teams wie Deutschland und England. Bleibt aus stilprägender Sicht zu hoffen, dass der Europameister am Ende nicht England oder Belgien heißt. Denn dann wird man wieder das Totschlagargument des „Ergebnisfußballs“ bemühen. Wie nachhaltig diese Herangehensweise ist, haben Portugal und Frankreich jedoch jüngst bewiesen. Das Risiko zu scheuen, heißt nicht, dass man es minimiert. Nicht nur bei dieser EM zeigt sich, dass solche Ansätze häufig das Gegenteil bezwecken. Denn wenn man ein Spiel so bewusst chancenarm und ohne Mut im Spiel nach vorn gestaltet wie England und Deutschland, dann verlässt man sich auf ganz wenige Szenen innerhalb einer Partie, von denen man so abhängig ist, dass das Risiko letztendlich sogar steigt.

Und nun, Deutschland?

Bleibt die Frage, was Deutschland aus diesem Turnier mitnehmen kann. Ich will an dieser Stelle gar nicht so sehr auf die Diskussionen eingehen, die in den kommenden Tagen vorherrschend sein werden. Wer hätte wo spielen müssen und wer hätte auf die Bank gehört? Warum hat Löw nicht auf eine Viererkette umgestellt? Warum konnten einzelne Spieler nicht ihre beste Leistung abrufen? Das sind alles berechtigte Diskussionsfelder. Aber je länger ich über all diese Themen nachdenke, desto häufiger komme ich immer wieder auf einen Punkt, der alle anderen für mich unwichtiger erscheinen lässt: Diese EM wurde bereits 2018 verloren. Und sie wäre wahrscheinlich auch dann verloren gegangen, wenn Löw auf nur einen der vielen Millionen Bundestrainer gehört hätte.

Nach dem Vorrunden-Aus bei der WM in Russland wurden falsche Schlüsse gezogen, die letztendlich in eine dreijährige Phase führten, in der die Nationalmannschaft versucht hat, sich neu zu suchen und neu zu erfinden – und daran gescheitert ist. Löw, der nie für bedingungslosen Offensivfußball, aber trotzdem immer für einen schön anzusehenden Fußball stand, schaffte diesen Umbruch nicht. Zu spät gestand man sich beim DFB ein, dass es mit ihm nicht mehr funktionieren würde.

Und so blieb die Hoffnung darauf, dass Löw plötzlich aus dem Nichts und mit den Rückkehrern Mats Hummels und Thomas Müller doch nochmal eine Art Aufbruchstimmung für das Turnier erzeugen kann. So ehrlich muss man sein: Krachend gescheitert ist der Bundestrainer an dieser Aufgabe nicht. Trotz in der Summe schwacher Ergebnisse und einem sehr biederen Auftreten gegen Ungarn hätte das gewollt risikolose Spiel gegen England auch dazu führen können, dass diese Mannschaft ins Viertelfinale einzieht. Sie hatte Momente, in denen sie über dem performt hat, was von ihr vor dem Turnier erwartet wurde.

Bewegt man sich im Rahmen dessen, was der Trainer in dieser Partie erreichen wollte, so scheiterten die Deutschen an einzelnen Schlüsselmomenten. Daran, dass die Spieler untereinander nicht gut aufeinander abgestimmt waren. Schon nach dem ersten Spiel gegen die Franzosen analysierten wir: „Bei den Deutschen hingegen geschieht zu viel intuitiv. So gut ihre Ansätze im Übergang nach vorn auch sind, aber wenn sie am letzten oder vorletzten Pass scheitern, dann bringen sie wenig. Spieler wie Sané, Havertz oder auch Gnabry brauchen mitunter zu lange, um die Spielsituation zu lesen und den nächsten Schritt vorauszudenken. Auch Thomas Müller konnte keinen entscheidenden Einfluss nehmen.“ Das zog sich durch das ganze Turnier. Woher sollen diese Abläufe auch kommen, wenn man die Mannschaft erst kurz vor Beginn der EM zusammengestellt hat?

Deshalb: Im großen Rahmen seit der WM 2018 ist es eine große Enttäuschung, dass sich seitdem nur wenig getan hat. Verloren hat Löw die Chance auf einen gelungenen Abschied nicht bei diesem Turnier und auch nicht in einer durchaus unglücklich verlorenen Partie gegen England, sondern in den Vorjahren. Das ist es, was man ihm und dem DFB ankreiden muss. Dass er es in der Summe dann bei der EM nicht geschafft hat, weit zu kommen, ist wiederum nur ein Resultat, das sogar noch viel schlimmer hätte enden können als mit einem unglücklichen Ausscheiden im Achtelfinale gegen England.

Die letzten Jahre haben eine Einordnung der Ära Löw nochmals erschwert. Es wird zurecht viele Danksagungen und Ehrungen für den Bundestrainer geben. Was er mit der Nationalmannschaft zwischen 2008 und 2016 erreicht hat, ist bemerkenswert. Löw gelang es in dieser Zeit immer wieder, taktische Trends in der Bundesliga und im Weltfußball zu erkennen und sie auf Nationalmannschaftslevel klug zu etablieren. Sein Team dankte es ihm stets mit mindestens guten Turnieren. Dieses Gespür scheint Löw mittlerweile aber verloren zu haben. Ein Grund dafür ist auch, dass er zu lange an alten Überzeugungen festgehalten hat. Das, was er und der DFB seit 2018 als „Neuanfang“ verkaufen wollten, war letztendlich zu sehr mit vertrauten Abläufen und Entscheidungen belastet, als dass man es wirklich als Neuanfang hätte bezeichnen können. Und so geht Löw nicht nur als Erfolgscoach, der den ersten WM-Titel seit 1990 nach Deutschland brachte, sondern auch als jemand, der daran gescheitert ist, sich und sein Team neu zu erfinden. Das alles hätte er sich und dem DFB ersparen können.

Neuanfang mit Hansi Flick

Es wird nun spannend, wie Hansi Flick mit den Möglichkeiten umgeht, die der Kader ihm bietet. Welche Spieler wird er aussortieren? Welche alten Zöpfe werden womöglich abgeschnitten? Flick ist, das hat er bei den Bayern bewiesen, zumindest kein Trainer, der das Risiko scheut. Er schreckt auch nicht davor zurück, Entscheidungen zu treffen, mit denen er anecken könnte. Mit ihm wird es tendenziell keine Spiele geben, in denen der Fokus darauf liegt, bloß keine Fehler zu machen. Seine Idee vom Fußball ist befreit von Angst vor Niederlagen und Gegentore und das war mit dem Kader der Münchner nicht nur unterhaltsam, sondern zumeist auch sehr erfolgreich.

Nur wie wird Flick das nun beim DFB angehen? Unter den Schlüsselspielern der aktuellen Mannschaft befinden sich Toni Kroos und Mats Hummels, die aufgrund ihrer Tempodefizite keine optimalen Flick-Spieler sind. Vorne wird auch der neue Bundestrainer erstmal nach Lösungen suchen müssen, weil er sich nicht mal eben einen Robert Lewandowski backen kann. Wie bindet er also Thomas Müller zukünftig ein, der bei diesem Turnier ohne echten Neuner durchaus Probleme hatte? Und wie löst er das Problem auf der rechten Defensivseite, wenn er Kimmich womöglich ins Zentrum zieht?

Auch Flick wird dafür Kompromisse eingehen müssen. So wie jeder Nationaltrainer. Es ist deshalb kein Automatismus, dass es mit ihm plötzlich wieder in die Spitzengruppe der Welt geht. Die Frage danach, wie er seine Philosophie mit den ihm zur Verfügung stehenden Spielern umsetzen will, könnte durchaus noch interessant werden.

Überspitzt gesagt: Einen Null-Mut-Ansatz wird es unter ihm aber immerhin nicht mehr geben. Und das könnte für viele Spieler ebenso befreiend sein wie für den DFB insgesamt. Denn nach Jahren der Suche nach einer geeigneten Identität wird nach diesem Turnier vielleicht endlich das passieren, was man nach 2018 verpasst hat: Ein echter Neuanfang. Und den braucht es jetzt auch.