Die Internationalisierung der Bayern – Eine Einschätzung
Kürzlich ist ein Student an uns herangetreten, der eine Bachelorarbeit zur Internationalisierung des Fußballs schreibt und uns gefragt hat, ob wir bereit wären, ihm für seine Arbeit vier Fragen zu dem Thema zu beantworten. Er wüsste gerne, welchen Blick wir als Fanblog zum FC Bayern auf die Internationalisierungsbemühungen des Clubs haben.
Da, wie es Miasanrots Gründungsvater Jan im Weihnachts-Podcast beim Blick hinter die Kulissen sagte, Miasanrot eine Plattform sein soll, auf der niemand als Miasanrot schreibt, sondern jeder nur auf Miasanrot, habe ich mich der Beantwortung der Fragen aus meiner Sicht angenommen und möchte das Ergebnis jetzt hier als Meinungsartikel veröffentlichen, da ich davon ausgehe, dass das Thema Internationalisierung bei den Bayern ein Thema von allgemeinem Interesse für viele Fans und Beobachter des Vereins ist.
Miasanrot ist nicht nur eine Plattform für Autoren um sich ausführlich ihrem Lieblingsverein zu widmen, Miasanrot ist auch eine Plattform, auf der der intensive Austausch und die Diskussion mit den Lesern einen hohen Stellenwert genießt. In diesem Sinne freue ich mich über eine rege Beteiligung in den Kommentaren, gerne auch kontrovers!
1. Nationale Anhänger erhalten vom FC Bayern nicht mehr Wertschätzung und Aufmerksamkeit als internationale. „Ein Fan in Shanghai ist genauso ein Fan wie der in Pasing“, sagt Jörg Wacker, Vorstandsmitglied und Internationalisierungschef. Wie wird der FC Bayern langfristig agieren müssen, um einheimische Fans nicht zu verlieren?
Prinzipiell hat Jörg Wacker Recht. Nur weil der eine Mensch in Shanghai wohnt und der andere in Pasing, heißt das ja noch nicht, dass der eine notwendigerweise ein besserer oder schlechterer Fan ist als der andere. Der FC Bayern hat meiner Meinung nach richtig erkannt, dass das größte Wachstumspotenzial für den Verein, sowohl wirtschaftlich als auch in Bezug auf die Gewinnung neuer Fans, international zu suchen ist. Der heimische deutsche Markt ist in vielen Belangen bereits gesättigt bzw. nahe der Sättigungsgrenze: Einnahmen aus der TV-Rechteverwertung, Wachstumspotenzial bei Fans, Absatzpotenzial bei Merchandise, Besucherzahlen im Stadion usw.
Dementsprechend hat der FC Bayern in den letzten Jahren seine internationale Geschäftstätigkeit deutlich ausgebaut, indem er beispielsweise Niederlassungen in New York und Shanghai eröffnet hat und zahlreiche Kooperationen mit Fußballverbänden und -vereinen in verschiedenen Ländern auf der ganzen Welt eingegangen ist. Im Zuge dessen reisen immer wieder Vertreter des FC Bayern im Namen des Clubs durch die Welt, besuchen ihre Partner, übernehmen Schirmherrschaften für gemeinnützige Projekte, eröffnen Jugendakademien etc. – Kurz: Sie zeigen Präsenz.
Im Grunde genommen passiert dies innerhalb Deutschlands gleichermaßen, wenn nicht sogar in einem noch deutlich stärkeren Ausmaß als international. Zu einer Vielzahl von Anlässen im Laufe eines Jahres gibt es zahlreiche Vor-Ort-Termine mit Spielern und Repräsentanten des FC Bayern in seiner Region und darüber hinaus. Rein sachlich betrachtet werden die nationalen Fans nicht schlechter gestellt als die internationalen.
Die zentralen Herausforderung des FC Bayern liegen daher meiner Meinung nach auf der kommunikativen und emotionalen Ebene. Zum einen sollte der Verein seine Bemühungen um seine Fans in Deutschland in der Außendarstellung vielleicht stärker hervorheben. Diese sind wahrscheinlich in den letzten Jahren im Vergleich zu den Anstrengungen auf internationaler Ebene kommunikativ zu sehr in den Hintergrund geraten. Der Verein sollte sich außerdem darum bemühen, seinen nationalen Fans, gerade den traditionsbewussten unter ihnen, zu vermitteln, dass der FC Bayern trotz seiner Internationalisierung seine Seele nicht verkauft, seine Traditionen nicht preisgibt, seine Wurzeln nicht vergisst, und dass ihm natürlich die Fans, die jedes Wochenende das Stadion füllen und vielleicht schon in dritter Generation eingefleischte Bayern-Gänger sind, mindestens genauso wichtig sind wie knapp drei Milliarden Chinesen und Inder.
2. Bayern-Fans protestieren immer wieder öffentlich gegen partnerschaftliche Beziehungen nach Katar. Tenor: Der finanzielle Profit sei dem Verein wichtiger als die Bekämpfungen von Missständen wie der Menschenrechtssituation. Was ist wichtiger: Moral oder Geschäft? Funktioniert das Geschäft nur, wenn man die Moral aufgibt? Was muss der FC Bayern künftig bei der Sponsoren-Wahl beachten, um Proteste zu vermeiden?
Dies ist ein diffiziles Thema. Grundsätzlich – unabhängig von Katar – bin ich der Auffassung, dass es von westlicher Seite im Umgang mit politisch oder gesellschaftlich in unseren Augen rückständigen oder verbesserungsfähigen Staaten immer besser ist, den Dialog zu suchen als eine Politik der totalen Abgrenzung zu verfolgen, die auf Besserung durch Exklusion (die „Büßerecke“) oder Druck durch Sanktionen setzt. Dies bedeutet also im Wortlaut der Frage formuliert: Ich bin der Auffassung, dass Moral und Geschäft sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern ich glaube an die Möglichkeit von Moral durch Geschäft, statt Geschäft erst, wenn die Moral stimmt. Oder, in Anlehnung an Brecht: Es kommt nicht erst das Fressen und dann die Moral, sondern die Moral kommt beim Fressen.
In Bezug auf die Bayern und Katar bedeutet dies, dass ich nicht prinzipiell gegen ein Engagement des Vereins in dem Land bin. Wenn man den Ansatz Moral durch Geschäft („Wandel durch Handel“) ernsthaft als Möglichkeit in Betracht zieht, stellt sich für mich zunächst die Frage, ob der Verein über seine Beziehungen nach Katar (Trainingslager, Werbeverträge) überhaupt Willens ist, in dem Land etwas zur Verbesserung der Menschenrechtslage beizutragen und, falls ja, ob seine Aktionen auch tatsächlich etwas von dauerhaftem Wert in dieser Frage bewerkstelligen können, und sei es auch nur in Form eines Vorbilds für andere. Konkret zur Frage also bedeutet dies: Die Moral ist im Zweifel wichtiger als das Geschäft, aber beides schließt sich nicht aus. Moral im Sinne von Emanzipation der Gesellschaft und Einforderung fundamentaler Menschenrechte kann im Zuge von geschäftlichen Beziehungen, die naturgemäß immer auch eine zwischenmenschliche und soziale Ebene haben, durch Vorbild von außen und daraus resultierende gesellschaftliche Emanzipation im Inneren geschehen. Ein konkretes Beispiel der Bemühungen des FC Bayern diesbezüglich ist sein Engagement mit seiner Damenmannschaft in Katar, mit der er dorthin seit 2018 jährlich zum Wintertrainingslager reist: Neben dem Training führt das Team in Zusammenarbeit dem katarischen Fußballverband und dem katarischen Frauen-Sport-Komitee dort regelmäßig ein Programm zur Förderung des Frauenfußballs in Katar durch, bei dem auch auf eine Verbesserung der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern hingearbeitet wird. Dazu werden unter anderem gemeinsame Spiele mit jungen Mädchen durchgeführt, um sie an den Fußball und an das Sporttreiben generell heranzuführen. Außerdem besuchen Spielerinnen der Mannschaft Schulen und zeigen den Kindern, dass man auch als Frau erfolgreich in seinem Beruf und seinem Leben sein kann.
In Bezug auf die Fans und ihre Proteste stellt sich also die Frage, ob der FC Bayern in seinem Handeln aufrichtig ist – es ihm also nicht nur um das Geschäft, sondern tatsächlich auch, wie er es selber behauptet, um die Situation der Menschen in dem Land geht – und, falls ja, wie er dieses aufrichtige Bemühen seinen Fans gegenüber vermitteln kann. Falls sein Handeln nicht aufrichtig wäre, gäbe es auch nichts zu vermitteln und der einzige Weg, zukünftige Fanproteste zu vermeiden, wäre ein totaler Rückzug aus Katar. Falls er aber in seinem Handeln aufrichtig sein sollte, bestünde die Herausforderung darin, dies seinen Fans glaubwürdig darzustellen und aufzuzeigen, in welchen Bereichen er konkret welche Dinge unternimmt, um zu einer Verbesserung der der Menschenrechtssituation in Katar beizutragen. Sollte dies nicht fruchten, wäre auch hier der einzige Weg, wenn die Vermeidung zukünftiger Fanproteste tatsächlich das oberste Ziel des Vereins sein sollte, ein schneller Rückzug aus Katar und zukünftig die totale Abstinenz von menschenrechtlich fragwürdigen Regionen oder Ländern.
3. Der inzwischen aus dem Präsidentenamt geschiedene Uli Hoeneß verfolgte die Vision, dass das Team des FC Bayern in erster Linie aus den besten deutschen Nationalspielern besteht. Sollte der Verein diesen Weg auch weiterhin verfolgen oder gezielter nach ausländischen Top-Stars suchen? Welche Rolle könnte es bei der Fan-Akzeptanz der Internationalisierungsstrategie spielen, wenn der FC Bayern verstärkter ausländische Top-Stars aus anderen Ligen Fußball verpflichtet?
Der Profifußball hat sich in den letzten 20 Jahren dramatisch verändert. In nahezu allen Bereichen – im sportlichen, im wirtschaftlichen, in der medialen Aufmerksamkeit, in der weltweiten Verbreitung – hat der Fußball eine Phase des gigantischen Wachstums und der Professionalisierung durchlaufen. Uli Hoeneß‘ Sentiment stammt aus einer Zeit, als der Fußball noch viel provinzieller, lokaler und kleiner war. Damals gab es noch nicht im selben Umfang wie heute eine Internationalisierung des Spielermarktes, auf dem sich inzwischen die Talente und Superstars von überall auf der Welt wie selbstverständlich zwischen den großen Clubs hin und her bewegen. Als Uli Hoeneß seinen Gedanken äußerte, verpflichtete ein deutscher Club noch vornehmlich deutsche Spieler. Und da der FC Bayern schon immer die besten Spieler haben wollte, war es logisch, dass sein Kader voll sein musste mit deutschen Nationalspielern.
Heutzutage sieht die Welt anders aus. Wenn der FC Bayern auf Dauer international im Konzert der Großen mitspielen – und manchmal sogar gewinnen – möchte, dann ist die Zielgruppe „deutsche Nationalspieler“ eine viel zu kleine Grundgesamtheit, um daraus eine dauerhaft schlagkräftige Mannschaft zusammenzustellen, die ihm dies ermöglichen würde. Insofern wird der FC Bayern nicht umhin kommen, sich bei seiner Spielersuche in Zukunft deutlich stärker international zu orientieren und nicht nur auf deutsche Spieler oder Spieler von anderen Bundesligavereinen zu setzen. Allerdings ist dies keineswegs neu, der Verein hat schon seit längerem einen relativ internationalen Kader voller Nationalspieler aus aller Herren Länder.
In Bezug auf die Fan-Akzeptanz eines vornehmlich international besetzten Spielerkaders wird die zentrale Herausforderung für den FC Bayern darin bestehen, den oben bereits angesprochenen Traditionsfans glaubhaft zu vermitteln, dass der Verein auch in Bezug auf die Spieler seine Wurzeln nicht aus dem Blick verloren hat. Es ist meiner Meinung nach daher von kritischer Bedeutung, dass der FC Bayern immer wieder einmal ein junges Nachwuchstalent aus dem eigenen Nachwuchsleistungszentrum (und bestenfalls der eigenen Region) in die erste Mannschaft integriert, auch wenn dieser Spieler nicht unmittelbar eine echte Verstärkung für den Kader bedeuten sollte, sondern sich erst im Laufe der Zeit zu einer solchen entwickeln würde. Selbst bei höchsten Ansprüchen sollte eine solche Maßnahme bei einem Kader von 20 und mehr Spielern sowohl wirtschaftlich als auch sportlich verkraftbar sein und ein kleiner Preis für das Identifikationspotenzial des Vereins bei seinen Fans.
4. Um im europäischen Spitzenfußball dauerhaft mithalten zu können, muss der FC Bayern internationale Präsenz zeigen. Was ist mit Blick in die Zukunft wichtiger: Eine zunehmende Internationalisierung, die hin und wieder Erfolge über die nationalen Grenzen hinaus bescheren könnte oder der Erhalt der eigenen Wurzeln und Nahbarkeit gegenüber Fans in München und Umgebung?
Diese Frage habe ich mehr oder weniger implizit bei der Beleuchtung der anderen Fragen bereits in Teilen mitbeantwortet. Natürlich ist für den FC Bayern der Erhalt der eigenen Wurzeln und die Nahbarkeit gegenüber den Fans in München und Umgebung wichtig. Immerhin ist der FC Bayern kein gesichtsloser Hersteller irgendeines austauschbaren Massenprodukts, dem ein hervorragendes Renommee in China genauso recht sein kann wie hier in Deutschland (oder vielleicht sogar noch mehr). Der FC Bayern ist ein Sportverein, der in seiner über 100-jährigen Geschichte zahllosen Menschen in einer Vielzahl von Sportarten Halt, Freude, Betätigung, Identifikation, Gemeinschaft und Zugehörigkeit geboten hat. Viele Menschen verbinden große Teile ihrer Lebensgeschichte mit dem FC Bayern. Dies ist ein echter, auch gesellschaftlicher Wert, der weit über den Verein hinausreicht und nicht leichtfertig im Zuge des Herausholens der letzten Prozente an ökonomischem Profit preisgegeben werden sollte. Ein Sportverein, auch ein moderner wie ein inzwischen zu einem ausgewachsenen Unternehmen gewordener FC Bayern, kann nicht ausschließlich der Profitmaximierung dienen, dafür gibt es andere Branchen.
Das Problem ist nur, dass ein FC Bayern ohne Internationalisierung und globale Orientierung seines Geschäfts und Kaders mittel- bis langfristig nicht mehr international wettbewerbsfähig wäre, und zwar weder sportlich noch wirtschaftlich. Denn dann würde der Verein weder seinen selbstgesteckten Zielen noch der traditionell hohen Erwartungshaltung der Fans gerecht werden können – nämlich in allen Wettbewerben zu gewinnen, in denen man antritt – was in der Folge auch den Zuspruch der Fans in Mitleidenschaft ziehen würde. Kurz gesagt: Selbst der konservativste und in München am festesten verwurzelte Traditionsfan wird vermutlich wollen, dass der FC Bayern erfolgreich ist. Der Erfolg ist die notwendige Bedingung dafür, dass es überhaupt Fans gibt, und wenn der Erfolg nur durch Internationalisierung möglich ist, dann profitiert davon unmittelbar auch der Traditionsfan.
Internationalisierung und Pflege der eigenen Traditionen und Wurzeln schließen sich also meiner Meinung nach nicht gegenseitig aus, sondern ersteres bedingt zweiteres. Die zentrale Herausforderung für den Verein in dieser Frage liegt meines Erachtens darin, eine passende Balance zwischen Internationalisierung und Heimatverbundenheit zu finden und diese glaubwürdig zu vermitteln. Für den Fan ist es wichtig zu erkennen, dass es ohne Internationalisierung irgendwann nicht mehr den FC Bayern geben wird, den er kennt und liebt, und gleichzeitig sollte der FC Bayern verstehen, dass er ohne Rücksicht auf seine Herkunft und Traditionen irgendwann zu einem vollkommen gesichtslosen Fußballunternehmen würde.