Coronavirus: Geisterspiele wären jetzt richtig

Justin Trenner 09.03.2020

Am heutigen Montag wurde entschieden, dass das Champions-League-Rückspiel von Borussia Dortmund in Paris ohne Publikum stattfinden wird. Auch in Italien fanden die letzten Spiele bereits unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. DFL-Boss Seifert sagte dazu am heutigen Montag: „Wir würden am liebsten […] nächsten Spieltag mit Zuschauern spielen. Das ist aber leider nicht realistisch“. Der Grund: Das neuartige Coronavirus.

Meine persönliche Reaktion auf all diese Maßnahmen war im ersten Moment ähnlich zu der vieler Fußball-Fans in den sozialen Netzwerken: Panikmache, Hysterie und totale Übertreibung! Warum jetzt so einen Aufwand für etwas betreiben, was ungefähr so gefährlich zu sein scheint wie die jährliche Grippewelle?

Nun. Deshalb schreibe ich normalerweise Artikel über Fußball und den FC Bayern und nicht über medizinische Themen. Weil ich offensichtlich keine Ahnung von Dingen wie diesen habe. Und so begab ich mich auf die Suche nach Fakten sowie Argumenten, die mir schlussendlich aufzeigen sollten, wie falsch ich doch mit meinem Impuls lag und wie egoistisch meine Denkweise war.

Der große Unterschied zur saisonalen Grippe

Erst knapp über 1000 Fälle in Deutschland scheinen insbesondere im Vergleich zu anderen Krankheiten nicht wirklich viel zu sein, zumal erst ein Todesfall eines deutschen Staatsbürgers bekannt wurde. Es geht hier aber nicht um mich. Es geht hier nicht um den Großteil der Bevölkerung, der eine Infektion vermutlich problemlos überstehen würde und selbst die aktuellen Zahlen sind nicht zentral.

Vor allem geht es darum, den Teil der Bevölkerung zu schützen, der vom „Robert Koch Institut“ als „Personen mit einem höheren Risiko für einen schweren COVID-19-Krankheitsverlauf“ aufgeführt wird. Dazu zählen insbesondere Menschen ab einem Alter zwischen 50 und 60 Jahren: „Insbesondere ältere Menschen können, bedingt durch das weniger gut reagierende Immunsystem, nach einer Infektion schwerer erkranken (Immunseneszenz).“

Ein auch von mir zuletzt häufiger verwendetes Argument ist, dass das bei anderen Krankheiten wie beispielsweise der jährlichen Grippe doch genauso sei, dort allerdings kein so großer Aufwand betrieben werde. Lars Fischer findet in diesem Artikel eine plausible Antwort darauf: „Mit den jedes Jahr wieder auftretenden Grippeviren kommen wir alle mal in Kontakt. Laut Schätzungen infizieren sich jährlich etwa 15 Prozent der Weltbevölkerung mit einem der umlaufenden Influenzastämme und erhalten dadurch teilweise Immunität.“ So sei beispielsweise der 1968 erstmals aufgetretene Subtyp H3N2 heute nur noch für einen Bruchteil der Bevölkerung tödlich.

Als dieser aber 1973 auf einen Stamm im Amazonasbecken traf, der vorher noch nicht im Kontakt mit diesem Virus stand, sei dort rund ein Viertel der Bevölkerung gestorben, obwohl es für den Rest der Welt bereits den Status einer saisonale Grippe erreicht hatte. Fischers Schlussfolgerung: Im Fall des Coronavirus wären „wir alle so ein Amazonas-Stamm“. Es gibt (noch) keine Grundimmunität und so verbreitet sich das Virus viel schneller.

Ausbreitung muss verlangsamt werden

Wie die Daten der „World Health Organization“ zeigen, ist ohne größere Maßnahmen eine Verdopplung der Erkrankungen innerhalb von einer Woche möglich. Das mag auf den ersten Blick bei uns Laien vielleicht zu der Schlussfolgerung führen, dass man dann immerhin auch schneller durch wäre damit. Tatsächlich führt es aber eher zu großen Problemen.

https://twitter.com/Nivatius/status/1236580820388847617

Die Grafik dieses Tweets zeigt eindrucksvoll, warum das so ist. Durch Maßnahmen wie Geisterspiele in der Fußball-Bundesliga kann der Höhepunkt der Fallzahlen nicht nur verzögert werden, was den Experten mehr Zeit für die Erforschung des Virus verschafft. Vor allem bleibt dieser Höhepunkt aber ungefähr im Rahmen dessen, was das Gesundheitssystem leisten kann.

Ohne adäquate Maßnahmen bestünde also die Gefahr, dass das System überfordert wird und es so zu weiteren schwerwiegenden Folgen kommt, die über die Erkrankung der Corona-Patienten hinausgeht. So schreibt das „Robert Koch Institut“:

„Ziel dieser Strategie ist es, in Deutschland Zeit zu gewinnen, um sich bestmöglich vorzubereiten und mehr über die Eigenschaften des Virus zu erfahren, Risikogruppen zu identifizieren, Schutzmaßnahmen für besonders gefährdete Gruppen vorzubereiten, Behandlungskapazitäten in Kliniken zu erhöhen, antivirale Medikamente und die Impfstoffentwicklung auszuloten. Auch soll ein Zusammentreffen mit der aktuell in Deutschland laufenden Influenzawelle soweit als möglich vermieden werden, da dies zu einer maximalen Belastung der medizinischen Versorgungsstrukturen führen könnte.“RKI am 03.03.2020

Der Fußball als Ganzes ist angesichts dieser Faktenlage eine Nebensächlichkeit, die in den Hintergrund rücken sollte. „Unsere Gesellschaft ist zu individualistisch, es geht nicht um Fußballspiele, sondern um den Schutz der vulnerablen Leute, der Alten und Kranken. Italien macht es uns vor, Japan, die Schweiz.“ Die Berliner Hausärztin Sibylle Katzenstein brachte es damit bei Anne Will auf den Punkt.

Ausschluss der Öffentlichkeit wäre richtig!

Spätestens da war auch mir klar, dass ich mit meiner ursprünglichen Meinung auf dem Holzweg war. Zu egoistisch war mein Gedanke daran, dass ich das Spiel bei Union Berlin am kommenden Wochenende unbedingt im Stadion sehen möchte. Zu egoistisch war es, von meiner Fitness auszugehen und zu schlussfolgern, dieses Virus sei deshalb nicht gefährlich. Das mag – und das ist weiterhin die gute Nachricht – für den größten Teil der Bevölkerung zutreffen. Aber meine Schlussfolgerung daraus dachte nicht weit genug.

Stattdessen sollten wir in dieser Zeit alle etwas solidarischer sein, den von uns allen geliebten Fußball mal loslassen und einen Schritt Abstand von unseren ersten Eindrücken nehmen. Es geht hier eben mal nicht vorrangig darum, dass der Fußball das alles möglichst unbeschadet übersteht, sondern darum, dass die Gesellschaft dabei hilft, den Schaden bei den Risikogruppen möglichst gering zu halten und das Gesundheitssystem zu unterstützen.

Maßnahmen wie Geisterspiele wären dahingehend kein Aktionismus, sondern vorausschauendes und richtiges Handeln. Von Panik kann deshalb keine Rede sein. Es wäre eine notwendige Maßnahme, um einen Teil der Bevölkerung zu schützen und sich mehr Zeit zu verschaffen, das Virus umfänglich zu erforschen. Vorsicht ist in diesem Fall angemessen und angebracht. Ruhe auch. Aber übermäßige Gelassenheit und Fahrlässigkeit eben nicht.

Deshalb hat sich meine ursprüngliche Meinung gewandelt: Ein Ausschluss der Öffentlichkeit wäre in den kommenden Wochen der richtige Weg für den Fußball. Denn hier geht es nicht darum, das öffentliche Leben komplett einzustellen. Es geht nur um Fußball und vergleichbares, öffentliches Unterhaltungsprogramm. Jede nicht stattfindende Massenansammlung von Menschen ist dabei schon als Fortschritt zu betrachten. Ich persönlich bin jedenfalls froh, dass Experten diese Entscheidungen treffen und nicht Menschen wie ich, die initial einem völlig falschen Impuls gefolgt sind.

Update (09.03.2020; 19:11 Uhr):

Update (09.03.2020; 21:48 Uhr):

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